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FILM/002: Kino heute - so wie in vielen anderen Ländern auch ...    Silvina Landsmann, Reut Michaeli und Asaf Weitzen im Gespräch (Martin Lejeune)


"Hotline"

Im Einsatz für die Rechte nichtjüdischer Flüchtlinge in Israel

Gespräch mit der israelischen Filmemacherin Silvina Landsmann, mit Reut Michaeli, der Geschäftsführerin, und Asaf Weitzen, einem der Rechtsanwälte der "Hotline for Refugees and Migrants" [1], am 7. Februar 2015 während der 65. Internationalen Filmfestspiele in Berlin


Silvina Landsmann kam im Alter von elf Jahren aus Argentinien nach Israel. Sie studierte Filmwissenschaften an der Universität von Tel Aviv und verbrachte zehn Jahre in Paris, wo sie auch ihren ersten Dokumentarfilm "Collège" drehte, für den sie 1998 mit dem französischen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Um frei von Ratings, festgelegten Filmlängen und anderen Vorschriften der Filmindustrie nach ihren eigenen Vorstellungen drehen zu können, gründete sie nach ihrer Rückkehr ihre eigene Produktionsfirma, Comino Films. [2] Nach weiteren, zum Teil preisgekrönten Dokumentationen wurde nun ihre neueste Produktion, der Dokumentarfilm "Hotline" über eine kleine, höchst aktive Nichtregierungsorganisation, die sich für afrikanische Flüchtlinge in Israel einsetzt, am 7. Februar auf der Berlinale uraufgeführt. [3]

(Anmerkung der Schattenblick-Redaktion)

Raute


Martin Lejeune: Frau Landsmann, warum haben Sie einen Film über Hotline gedreht, was war Ihr Motiv?

Silvina Landsmann: Ich hatte mich schon seit vielen Jahren dafür interessiert, die Arbeit einer NGO filmisch zu verfolgen. Das war einfach etwas, das ich wirklich gern einmal machen wollte. Als ich meinen letzten Film abgeschlossen hatte, beschloß ich, das endlich auch zu tun und zwar in Verbindung mit dem Thema Migration. Im Zentrum sollte eine NGO stehen, die sich mit diesem Problem befaßt. Von Hotline hatte ich gehört, also habe ich sie angerufen und das war's.


Porträtfoto - Foto: © Martin Lejeune

Silvina Landsmann
Foto: © Martin Lejeune

Martin Lejeune: Die erste längere Sequenz Ihres Films zeigt eine hoch aufgeladene Situation nach einer Kinovorführung. In welchem Rahmen hat das stattgefunden? Worum ging es da genau?

Silvina Landsmann: Der Rahmen war die Premiere eines vom israelischen öffentlichen Fernsehen gedrehten Films über ein Viertel im Süden Tel Avivs. Der Film heißt Shkufim - Transparenz - und wurde produziert von Galia Oz, der Tochter von Amos Oz. Nach der Vorführung, und dies zeigt mein Film, stellt sich Sigal Rozen [4] dem Publikum mit einer kontroversen Position. Man sieht also die Reaktion, die ein Teil der Öffentlichkeit ihr gegenüber hatte.

Martin Lejeune: Nach der Aufführung dieses Films gab es einen sehr lautstarken Streit darüber, daß es nicht genug Sozialleistungen für die lokale Bevölkerung im Süden Tel Avivs gibt und demgegenüber zuviel Bemühung, Menschen zu helfen, die aus afrikanischen Ländern emigriert sind. Könnten Sie dazu etwas sagen?

Reut Michaeli: Der Streit war in gewisser Hinsicht doch etwas weiter gefaßt, meine ich. Die Anwohner erklären, daß die Tatsache, daß so viele Menschen anderer Herkunft in ihrer Nachbarschaft leben, den Charakter des Viertels verändert und ihr Sicherheitsempfinden. Sie fühlen sich in ihrem eigenen Zuhause nicht mehr sicher. Und das bedeutet, daß sie genau aus diesem Grund wollen, daß diese Menschen verschwinden. Sie haben Angst. Das ist der Beweggrund der Nachbarn, der Anwohner. Meine Antwort darauf nach dem Film war: Die israelische Regierung hat die Augen vor der Realität verschlossen. Die Menschen wurden, mit einer Busfahrkarte nach Süd-Tel Aviv versehen, aus der Internierung entlassen. Es war nur eine Frage der Zeit bis zum Eklat. Und dasselbe passiert an vielen Orten der Welt. In Israel denkt man zwar gern, wir seien so einzigartig, aber das stimmt nicht. Es ist gar nicht selten, daß Migranten an den eher unterprivilegierten Orten ihrer Zufluchtsländer unterkommen. Gewöhnlich sieht man sie nicht in den wohlhabenden Stadtvierteln. Der Hauptgrund ist, daß sie keine Arbeit haben. Sie haben nicht genug Geld, sie können sich einen anderen Wohnort nicht leisten. Es war an der israelischen Regierung, den Versuch zu unternehmen, andere Anreize zu geben, um die Situation zu verändern. Dennoch hat sie es nicht und weigert sich bis heute.


Porträtfoto - Foto: © Martin Lejeune

Reut Michaeli
Foto: © Martin Lejeune

Martin Lejeune: Kann man sagen, daß die zentrale Bushaltestelle in Tel Aviv einer der Treffpunkte für Migranten aus afrikanischen Ländern ist?

Silvina Landsmann: In dem Film erklärt die Frau in dem Auto, das Richtung Gefängnis fährt, den Weg, den die Asylsuchenden nach ihrer Ankunft in Israel genommen haben. Sie waren zunächst einige Tage im Gefängnis und dann erhielten sie eine Busfahrkarte zur zentralen Busstation in Tel Aviv. Das hat jetzt allerdings aufgehört.

Reut Michaeli: Sie werden nicht mehr aus der Haft entlassen, deshalb gibt es keine neuen Ankömmlinge in Israel. Zudem kommen jetzt weniger als 50 Menschen im Jahr hier an. Als Silvina den Film gedreht hat, war die Rede von über 2000 im Monat.

Martin Lejeune: Der Film erwähnt, daß es Einrichtungen gibt, in die 9.000 Menschen interniert werden können.

Reut Michaeli: Sie hatten geplant, 9.000 Plätze einzurichten, um die Kapazität zu erhöhen. Tatsächlich haben wir derzeit ein Internierungzentrum mit einer Kapazität von bis zu 3.000 Gefangenen und eine andere Einrichtung, die als "offene" Wohnanlage bezeichnet wird, die bis zu 2.600 Insassen aufnehmen kann. Dort befinden sich jetzt 2.260 Menschen. Eine dritte Einrichtung in Zentral-Israel dient der Internierung von Asylsuchenden wie auch migrantischen Arbeitskräften und kann bis zu 500 Personen aufnehmen. Sie haben also nicht die Kapazität, 9.000 Menschen zu internieren.

Martin Lejeune: Nach der Kinopremiere mit der erhitzten öffentlichen Debatte zeigen Sie in Ihrer Dokumentation eine längere Sequenz mit einer Diskussion, einer Art Konferenz, und dann eine Parlamentsdebatte.

Silvina Landsmann: Ja, zunächst das Treffen mit dem ehemaligen britischen Parlamentarier und danach die Szene von fast 15 Minuten in der Knesset, im Innenausschuß des Parlaments.

Martin Lejeune: Könnten Sie zusammenfassen, was der Zweck dieser Parlamentsdebatte war?

Silvina Landsmann: Es ging die ganze Zeit um die Arbeit am Antiinfiltrationsgesetz. Zu dem speziellen Zeitpunkt, an dem ich dort war, debattierten sie gerade über die Regulation der Geldmenge, die Asylsuchende besitzen oder mit Arbeit verdienen dürfen. Sie wollten die Strafbarkeit neu regeln. Die Debatte drehte sich um einen Artikel dieses Gesetzes, das viele Aspekte des Lebens bis ins kleinste Detail erfaßt.

Martin Lejeune: In der Sitzung wurde das Gesetz diskutiert?

Reut Michaeli: Es ist Teil des Gesetzgebungsverfahrens. Was Sie gesehen haben, ist die Vorbereitung des Gesetzes, bevor es dem Plenum vorgelegt wird.

Martin Lejeune: Und wann wurde dieses Gesetz verabschiedet?

Silvina Landsmann: Es wurde kurz vor dem Regierungswechsel verabschiedet, also vor zwei Jahren.

Martin Lejeune: Am 17. März sind vorgezogene Neuwahlen. Ganz direkt gefragt: Erwarten Sie, daß sich mit einer neuen Regierung etwas zum Besseren verändert, wenn sie nicht so rechts sein sollte wie die derzeitige?

Asaf Weitzen: Das ist ein bißchen komplizierter, weil der Film sich hauptsächlich um das Jahr 2012 dreht. In der Zwischenzeit hat der Oberste Gerichtshof das Gesetz aufgehoben, und es gab ein neues Gesetz, das ebenso aufgehoben wurde. Jetzt gibt es wieder ein neues Gesetz. Vor genau einer Woche fand eine gerichtliche Anhörung statt und man wartet auf die Entscheidung. Wenn es also einen Beschluß gibt, das Gesetz erneut zu kippen, dann könnte wieder ein neues Gesetz kommen oder etwas anderes. Es könnte auch sein, daß es nicht gekippt wird und die Dinge, wie sie jetzt sind, können sich auch wiederum verändern. Aber auf jeden Fall wird es eine neue Knesset, ein neues Parlament geben. Wir können also nicht wirklich sagen, wie es in Zukunft sein wird. Und das ist nebenbei bemerkt auch etwas, das die Asylsuchenden wirklich beeinträchtigt: der Mangel an Gewißheit. Niemand weiß, was morgen geschieht.


Porträtfoto - Foto: © Martin Lejeune

Asaf Weitzen
Foto: © Martin Lejeune

Reut Michaeli: Allerdings hoffen wir in der Tat, daß eine neue Regierung die Internierungszentren schließen und eine andere Politik verfolgen wird, die eine Lösung für alle Gemeinschaften einschließlich der Anwohner von Süd-Tel Aviv bringt.

Silvina Landsmann: Ich möchte noch hinzufügen, daß Organisationen und Menschenrechts-NGOs wie Hotline und andere, gleich, was mit der Regierung ist, fortfahren werden, für alles, was auch immer gebraucht wird, zu kämpfen - weil das Ganze endlos ist. Soviel habe ich gelernt.

Martin Lejeune: Nach dem terroristischen Anschlag Anfang Januar in Paris hat Netanjahu Frankreich besucht und in Paris eine Ansprache gehalten. Er sagte, daß alle Juden aus Frankreich in Israel willkommen seien. Man unternimmt eine Menge, um Juden aus Frankreich in Israel willkommen zu heißen, sie werden unterstützt, sie bekommen die Staatsbürgerschaft. Warum gibt es soviel Widerstand gegen Migranten aus afrikanischen Ländern?

Asaf Weitzen: Jedes Land hat das Recht, seine eigene Einwanderungspolitik zu bestimmen. Die USA vergeben Green Cards an bestimmte Menschen, Kanada bevorzugt Akademiker und Fachkräfte. Israel definiert sich als jüdischer Staat und eines seiner Gesetze ist das Recht auf Rückkehr. Dieses erlaubt es jedem, der nachweislich Jude ist, im Einwanderungsverfahren die Staatsbürgerschaft und gewisse Hilfen zu beanspruchen. Da liegt nicht das Problem. Es geht nicht darum, daß Israel jeden Migranten aus welchem Teil der Welt auch immer bedingungslos zulassen sollte. Die Sache ist die: Wir sprechen von Asylsuchenden, die nicht zurückkehren können, beispielsweise nicht zurück in den Sudan. Diesen Menschen sollten wenigstens die Rechte eingeräumt werden, die von der Flüchtlingskonvention vorgesehen sind, die von der internationalen Gemeinschaft als Mindeststandard akzeptiert wird. Davon ist Israel sehr weit entfernt.

Reut Michaeli: Eine Ergänzung vielleicht: Israel definiert sich selbst als ein jüdisches Land. Der Staat Israel vertritt vor Gericht die ganze Zeit - nebenbei bemerkt haben wir keine Einwanderungsgesetze - in aller Deutlichkeit: Die einzige Einwanderungspolitik, die wir haben, ist das Recht auf Rückkehr. Alles andere ist humanitär. Und wenn es humanitär ist, unterliegt es im weitesten Sinne dem Ermessen.

Martin Lejeune: Wenn ich den Dokumentarfilm richtig verstanden habe, dann gab es lediglich 128 Fälle, in denen Asylsuchende die Staatsbürgerschaft erhalten haben.

Reut Michaeli: Nicht die Staatsbürgerschaft, sondern eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung.

Asaf Weitzen: Kein permanentes Aufenthaltsrecht, sondern einen vorübergehenden Flüchtlingsstatus.

Martin Lejeune: Damit verbunden sind soziale Rechte und
Gesundheitsversorgung ...

Reut Michaeli: Ja, Gesundheitsversorgung. Sie können nicht wählen, sie haben keinen Paß und sie müssen ihren Status jedes Jahr erneuern.

Martin Lejeune: Seit den 50ern waren es schätzungsweise 200?

Asaf Weitzen: Ich denke, es gab ein paar hundert, so etwa 500 Menschen aus dem Sudan und aus Vietnam. Es gab ein paar hundert Menschen, die, ohne ein besonderes Flüchtlingsverfahren durchzumachen, aus humanitären Gründen einen Flüchtlingsstatus erhalten haben. Tatsache ist, daß es in Israel ein großes Problem gibt mit den individuellen Verfahren, denn Israel kann Flüchtlinge eigentlich nicht anerkennen, egal was ist. Wir sprechen über 3 Eritreer von Tausenden Asylsuchenden, wir sprechen von 0 Sudanesen. Sogar Menschen aus Darfur werden nicht als Flüchtlinge anerkannt. Wir sprechen von einem einzigen Mädchen von der Elfenbeinküste, das als Flüchtling anerkannt wurde. Und das war's schon so ziemlich. Eritreer beispielsweise werden weltweit im Verhältnis von rund 80 Prozent anerkannt und Sudanesen zu 70 Prozent. Und in Israel sind es 0 Prozent Anerkennung für Sudanesen und 1 Prozent oder weniger für Eritreer.

Reut Michaeli: Nur um das zu verstehen: Das kommt von ganz oben in der Hierarchie. Die Politik ist, so wenige wie möglich anzuerkennen.

Martin Lejeune: In dem Dokumentarfilm wurde erwähnt, daß Hotline den ersten Bericht über Flüchtlinge verfaßt hat, die gefoltert wurden?

Reut Michaeli: Sie sprechen über das Sinai-Folterphänomen.

Martin Lejeune: Das heißt Menschen, die in Israel ankommen, haben diese Art Folter erlebt?

Reut Michaeli: Ende 2009 fing es an, daß man Menschen auf ihrem Weg nach Israel kidnappte, um Lösegeld zu fordern. Das ist eine umfangreiche Industrie, in der es um Millionen von Dollar geht. Menschen wurden unter anderem durch verschiedene Arten sexuellen Mißbrauchs, Elektroschock und Schläge gefoltert. Es besteht Verdacht auf Organentnahmen und Menschen wurden unterwegs getötet. Wenn Lösegeld bezahlt wurde, ließ man sie Richtung Israel frei. Wir schätzen, daß etwa 7.000 Menschen in diesem Zustand heute in Israel leben, die keine Unterstützungsleistungen erhalten.

Martin Lejeune: Was könnte man unternehmen, damit diese Menschen eine angemessene medizinische Versorgung erhalten?

Reut Michaeli: Die verschiedenen Menschen leiden in unterschiedlichem Maße an PTBS, posttraumatischer Belastungsstörung. Zur Zeit gibt es eine neu eröffnete psychiatrische Klinik, die in der Lage ist, einige Dutzend Menschen im Jahr zu versorgen. Das ist alles. Im Moment arbeiten wir mit Kampagnen und mit rechtlichen Mitteln daran, daß diese Opfer Hilfsleistungen bekommen. Anrecht darauf sowie auf verschiedene andere Leistungen haben bislang Menschenhandelsopfer. Das sind weniger als 200 Menschen.

Martin Lejeune: Wo befindet sich diese Klinik?

Reut Michaeli: Sie befindet sich in Tel Aviv. Die Tatsache, daß alle Hilfsleistungen, auch die der Zivilgesellschaft, in Tel Aviv erfolgen, ist ein weiterer Grund dafür, daß alle dorthin kommen.

Martin Lejeune: Was kann man tun? Wie kann man ein größeres Bewußtsein für diese schwierigen Umstände schaffen? War das vielleicht ein Motiv für Ihren Dokumentarfilm? Sie haben vier Monate mit Hotline verbracht ...

Silvina Landsmann: Ich habe recherchiert und ich habe beobachtet. Ich habe versucht, das Ganze zu verstehen und ich denke, daß ich dabei etwas gelernt habe. Es ist gut, Hotline hierher zu bringen, um die Geschichte zu erzählen.


Eine Hotline-Mitarbeiterin im Büro - Filmstill: © Berlinale

Im Büro - Szene aus dem Film Hotline
Filmstill: © Berlinale

Reut Michaeli: Meiner Meinung nach geht es darum, ein Bewußtsein dafür zu schaffen und eine Menge Druck auf die israelische Regierung auszuüben, daß nicht allein das Völkerrecht, sondern auch unsere moralischen Verpflichtungen und das Leben von Menschen zu achten sind.

Martin Lejeune: Im Film sieht man zwei verschiedene Israels. Auf der einen Seite stehen jene Menschen, die rassistische Ansichten haben und Afrikaner als minderwertig und nicht als Mitmenschen ansehen. Sie sehen nicht ihr Leid, sondern betrachten sie als Eindringlinge und als Bedrohung für den jüdischen Staat. Auf der anderen Seite stehen die Aktiven der Menschenrechtsorganisationen. Stimmt mein Eindruck? Oder gibt es mehr Zwischentöne in der israelischen Gesellschaft?

Silvina Landsmann: Es gibt sehr viele Variationen in der israelischen Gesellschaft. Möglicherweise hat jede Person in Israel ihre eigene Ansicht.

Martin Lejeune: Sind Sie vielen Leuten begegnet, die mit der Sache der Asylsuchenden sympathisieren?

Silvina Landsmann: Ich glaube, es gibt sehr viel Unwissenheit. Wenn sie erst einmal verstehen, wer diese Menschen sind und von wo sie kommen, ist das etwas anderes. Informationen können Ansichten verändern.

Martin Lejeune: Ist es wirklich im wesentlichen eine Frage der fehlenden Information und hat nichts mit inhärentem Rassismus zu tun?

Silvina Landsmann: Inhärenten Rassismus gibt es überall auf der Welt, das ist kein spezielles Merkmal der israelischen Gesellschaft. Aber ich bin der Meinung, daß Informationen es Rassismus schwerer machen, sich auszubreiten.

Reut Michaeli: Mit der Schwarz-Weiß-Sicht will man es sich nur einfach machen. Die Situation ist sehr viel komplexer. Es gibt Aktivistengruppen, es gibt die Menschenrechtsorganisationen und es gibt Aktivisten in den Nachbarschaften in Israel, die für die Asylsuchenden kämpfen. Auch die Gemeinschaften der Asylsuchenden selbst sind aktiv. Das ganze ist viel komplexer.

Martin Lejeune: Gibt es viele Internierungszentren wie Saharonim?

Asaf Weitzen: Es gibt tatsächlich zwei größere, Saharonim und Keziot sowie Givon, das etwas näher am Flughafen liegt, um schneller deportieren zu können. Es wurde ein weiteres Internierungszentrum gebaut, aber sie mußten es nicht benutzen, weil niemand mehr kam, nachdem der Zaun an der Grenze zu Ägypten fertiggestellt war.

Martin Lejeune: Gestern wurde der Dokumentarfilm Flotel Europa gezeigt, über ein dänisches Schiff als Unterkunft für Flüchtlinge zu Anfang der 90er Jahre. Die Situation der bosnischen Flüchtlinge war anscheinend vollkommen anders. Sie waren sicher, daß man sie nicht deportieren würde, weil Krieg im früheren Jugoslawien herrschte und die Menschenrechtsbestimmungen eine Rückführung nicht erlaubten. So stellte es sich zumindest aus Sicht des Erzählers, eines damals 12jährigen Jungen dar. Die Flüchtlinge waren zwar frustriert, weil sie drei Jahre lang in einer Art Limbus auf dem Schiff verharren mußten, aber wenigstens fühlten sie sich sicher. Die in Israel Internierten dagegen fühlen sich nicht sicher.

Kann man sagen, daß sich die Politik gegenüber Immigranten aus afrikanischen Ländern verändert hat, als Frontex ins Spiel kam? Denken Sie, daß es Vereinbarungen mit Israel oder anderen Ländern im Nahen Osten gibt?

Reut Michaeli: In Israel wirst du nicht als Flüchtling anerkannt, egal, wo du herkommst, weil das System einfach nicht funktioniert. Die Anerkennungsrate liegt bei weniger als 1 Prozent.

Asaf Weitzen: Ich denke, wie der britische Parlamentarier sagte, die Flüchtlinge haben ein doppeltes Problem. Sie haben, ähnlich wie in anderen Ländern, Europa eingeschlossen, das Problem der Hautfarbe und noch dazu das Problem, daß sie nicht jüdisch sind in einem jüdischen Staat. Frontex hat wahrscheinlich für eine Weile die Regeln für die Migration geändert. Wenn Sie fragen, ob Europa versucht, die Praxis in Israel zu beeinflussen, dann hat Israel, was das anbelangt, bedauerlicherweise andere Themen, die die internationale Gemeinschaft mehr berühren. Ein Großteil der Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft richtet sich auf die Friedensverhandlungen über ein Ende der Besetzung und weniger auf Migrationsfragen. Die werden eher als innere Angelegenheit eines jeden Staates betrachtet oder als innenpolitisches Problem.

Reut Michaeli: Auch, wenn ein Teil der Migrationsprobleme in Israel gelöst ist, bewegen sich die Leute von Israel aus weiter nach Europa, und ich bin nicht sicher, ob Europa wirklich dazu ermutigen will im Moment. Derzeit ist es aufgrund einer Notiz des Europäischen Gerichtshofs [5] so, daß die Menschen, die nicht mehr nach Israel hineinkommen, eine andere Route nehmen. Sie kommen aus denselben Regionen, aus Eritrea und dem Sudan durch Libyen und überqueren das Mittelmeer nach Italien. Es ist eine Frage der Migrationsroute.

Martin Lejeune: Es gab Gerüchte über Bemühungen, Flüchtlinge zu sterilisieren. Ist da etwas dran?

Reut Michaeli: Nein. Ganz gewiß nicht.

Asaf Weitzen: Nein, das ist Unsinn. Es gibt schon genug Schlimmes ohne das.

Reut Michaeli: Wir müssen nichts erfinden, die Situation ist schlimm genug, so wie sie ist. Für uns sind das nichts als Gerüchte, ich bin sicher, daß wir sonst davon erfahren hätten.

Martin Lejeune: Noch einmal zu den Zahlen: Wieviele Menschen haben versucht, nach Israel zu kommen?

Reut Michaeli: Bei Höchststand waren es 60.000 Asylsuchende in Israel, zur Zeit sind es 47.000. [6]

Asaf Weitzen: Wir wissen natürlich nicht, wieviele es versucht haben und nicht ins Land hineingekommen sind.

Reut Michaeli: Und wir wissen, daß man die Menschen, die aufgehalten werden, nach Ägypten zurückbringt. Wir wissen nicht, wieviele.

Martin Lejeune: Wieviele Menschen ungefähr kommen in Ihr Büro jedes Jahr?

Reut Michaeli: Unsere Organisation hilft rund 3000 Menschen im Jahr. Wir treffen sie entweder während ihrer Internierung oder in unserem Büro. Die Rechtsabteilung hilft grob geschätzt etwa 100 Menschen im Jahr. Dieses Jahr lag die Zahl viel höher, aber wir haben nur eine kleine Rechtshilfeabteilung mit zwei Anwälten. Wir treten darüber hinaus für die Interessen der Flüchtlinge ein und machen eine Menge Kampagnenarbeit, die man auf unserer Website verfolgen kann. Unser Engagement in der Knesset ist ausgezeichnet und auch die internationale Arbeit.


Drei Flüchtlinge und eine Hotline-Mitarbeiterin im Büro - Filmstill: © Berlinale

Flüchtlingsberatung - Szene aus dem Film Hotline
Filmstill: © Berlinale

Martin Lejeune: In einigen Abschnitten des Dokumentarfilms wird die Frage gestellt, ob Israel eine Demokratie sei oder nicht. Zu welchem Schluß kommen Sie in dieser Frage?

Reut Michaeli: Für mich ist Israel eine Demokratie. Wenn ich es mit dem vergleiche, was ich von meinen Kollegen in anderen Ländern höre, die in Menschenrechtsorganisationen arbeiten, dann erfreuen wir uns vergleichsweise liberaler Freiheiten. Trotzdem denke ich, daß wir uns in einer sehr schwierigen Situation befinden. Die Demokratie verschlechtert sich und es gibt in zunehmendem Maße gefährliche Aspekte und Gefahren für die Demokratie in Israel. Sie gerät ins Rutschen.

Silvina Landsmann: Ich finde interessant, wie die Menschen in Israel - im Film - Europa als Beispiel heranziehen. So sagen die einen: Wir sollten es wie Europa machen, die Konvention befolgen und den Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft geben. Jemand anderes in Israel sagt wiederum: Wir sollten es wie Europa machen und die Leute ausweisen. Um ihre eigenen Ansichten zu untermauern, wählen die beiden entgegengesetzten Seiten Europa. Das ist interessant.

Martin Lejeune: Als Sie versucht haben, eine Frau aus der Transithaft am Flughafen freizubekommen, hörte man die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Ihnen als Anwalt und dem für die Haft zuständigen Beamten. Er hat einige rassistische Bemerkungen von sich gegeben, kann man das sagen?

Asaf Weitzen: In gewissem Sinne.

Martin Lejeune: Können Sie sich erklären, was die Wurzel oder der Grund für dieses Phänomen des Rassismus gegenüber Menschen nicht-weißer Hautfarbe ist?

Reut Michaeli: Nun, wie jede Gesellschaft setzt sich die israelische aus unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammen. Wie man das auch in Deutschland, Frankreich, in Spanien und in den USA kennt, findet man Menschen, die liberaler sind und andere, die, sagen wir, eigentlich nicht einmal konservativ sind, aber rassistische Ansichten haben.

Asaf Weitzen: Nun, vor ein paar Wochen gab es hier in Dresden eine Demonstration gegen Migranten mit rassistischen Ansprachen. Es ist ein Phänomen, das wir aus der Geschichte der Menschheit kennen. Ich glaube nicht, daß Israel hier im Vergleich zu Deutschland ein extremer Ausnahmefall ist, vielleicht weniger politisch korrekt. Aber die Tatsache, daß jemand weniger politisch korrekt ist, besagt noch nicht, daß er rassistischer ist.

Was speziell diesen einen Beamten betrifft, so würde ich sagen, daß er nach dem ganzen Prozedere eigentlich - und ich weiß, daß das paradox klingt und daß man darüber unterschiedliche Theorien haben kann - extrem hilfsbereit war bei der Freilassung dieser Frau, der er zuvor die Hilfe verweigert hatte. Das ist ein Beispiel für einen Menschen, der seine Überzeugungen hat und rassistisch zu sein scheint, der aber gleichzeitig nur ein Angestellter ist, der am Ende sagt: Ich wollte meinen Job nicht verlieren, ich mache nur meine Arbeit. Er sagt, selbst, wenn er der Meinung sei, daß niemand entlassen werden sollte, würde er es tun, wenn es sein Job ist. Ich meine, in gewissem Sinne denkt man an Hannah Ahrendt und entsprechende politische Theorien, wenn man sich fragt: Wie kann dieser Mann, der gegen eine Freilassung ist, eigentlich bei der Freilassung behilflich sein? Das wäre schon eine Frage, die man stellen könnte, denke ich.

Reut Michaeli: Dem würde ich noch hinzufügen: Israel hat zudem die Entschuldigung, ein jüdischer Staat zu sein. Wir benutzen das, ohne Schuld zu empfinden.

Asaf Weitzen: Andererseits, auch wenn eine ganze Nation Schuld empfindet, nimmt das nicht die persönliche Schuld vom einzelnen Individuum. Wenn man sagt: Wir sind alle schuldig, heißt das im Grunde, daß niemand schuldig ist.

Martin Lejeune: Silvina Landsmann, Reut Michaeli, Asaf Weitzen - vielen Dank für dieses Gespräch.

Raute


Berlinale Filmpublikum und Moderatorin im Gespräch mit Silvina Landsmann, Reut Michaeli und Asaf Weitzen nach der Premiere des Films Hotline am 7. Februar 2015 im Kino Arsenal 1

Auf die Frage nach ihrer ersten Kontaktaufnahme mit der "Hotline for Migrants and Refugees" erzählt Regisseurin Silvina Landsmann, es sei ganz unkompliziert gewesen, sie habe Reut einfach angerufen, vorgeschlagen, einen Film über die Hotline zu drehen, und gefragt, ob das von Interesse wäre. Reut habe dann Sigal an den Apparat geholt, die meinte: Ja, komm morgen vorbei.

Moderatorin: Wann war das, in welchem Jahr?

Silvina Landsmann: Das war im Juni 2012. Ich habe mit den Filmaufnahmen im September begonnen und vier Monate lang gedreht.


Silvina Landsmann, Porträtfoto - Foto: © Martin Lejeune

Im Gespräch
Foto: © Martin Lejeune

Moderatorin: Man kann sehen, daß sich die Kamera sehr dicht am Geschehen bewegt. Sie haben selbst die Kamera geführt, Silvina. Sie enthalten sich jeder Parteinahme und wirken fast wie ein unsichtbarer Teil. Wie war es für Sie, Silvina so dicht dabei zu haben? Wie haben Sie Silvina in Ihre tägliche Arbeit mit eingepaßt?

Reut Michaeli: Zuerst war es ungeheuer aufregend. Ich möchte mich bei Silvina für diesen sehr inspirierenden Film bedanken, der nicht nur die Arbeit von Hotline zeigt, sondern, welchen Aufwand, wieviel unablässige Arbeit die Bürokratie fordert, mit der sich unsere Mitarbeiter/innen und im wesentlichen auch die asylsuchende Bevölkerung, der wir beistehen, die ganze Zeit herumschlagen müssen. Um auf Ihre Frage zu antworten: Es war schon sehr merkwürdig am Anfang, jemandem zu erlauben, so nah heranzukommen. Aber ab einem bestimmten Stadium ist sie praktisch zur Familie geworden.

Asaf Weitzen: Letztendlich haben Sie jetzt etwa 40 Minuten gesehen, aber es waren Hunderte von Shootings. Am Anfang weiß man die ganze Zeit, daß die Kamera am Laufen ist, später wird man, wenn die Lage dramatisch ist, von der Arbeit absorbiert und vergißt vollkommen, daß die Kamera dabei ist.

Moderatorin: War es schwierig, Zugang zu Orten wie der Knesset beispielsweise zu bekommen? Es waren Parlamentsabgeordnete und Anhörungen zu sehen, hatten Sie Probleme, an diesen Orten zu filmen?

Silvina Landsmann: Nein, eigentlich überhaupt nicht. Das ist ganz klar geregelt: Wo man filmen darf, kann man filmen und wo man nicht filmen darf, kann man nicht filmen. Die Knesset und ihre Gremien sind zugänglich für die Öffentlichkeit. Auch die Knesset selbst filmt dort heutzutage.

Moderatorin: Das Internierungslager für Asylsuchende ist für Außenstehende geschlossen. Haben Sie versucht, Zugang dazu zu erhalten?


Flur mit Fahrstühlen, Fensterfront und einem Schild auf Englisch und Hebräisch: 'Do not enter'; am Fenster telefoniert ein Mann mit Handy - Filmstill: © Berlinale

"Zutritt verboten" - Szene aus dem Film Hotline
Filmstill: © Berlinale

Silvina Landsmann: Ja, ich habe es versucht. Aber ich bin nicht die einzige, die es versucht hat und der es nicht gelungen ist. Es ist unmöglich.

Reut Michaeli: Silvina war nicht die einzige, die versucht hat zu filmen oder die Möglichkeit einer Medienberichterstattung über das, was in den Internierungseinrichtungen mit den Migranten geschieht, zu erhalten. Zu der Zeit gab es die erste Fassung des Antiinfiltrationsgesetzes, nun im Jahr 2015 sprechen wir über die dritte Novellierung dieses Gesetzes, das aufgehoben wurde. Unter diesem Gesetz war niemand in der Lage, die Einrichtungen zu betreten oder ein Gespräch mit einem der Internierten dort zu führen. Das ist Teil des Verfahrens.

Moderatorin: Sie haben einen gewissen Ruf als Dokumentarfilmerin, dies hier ist Ihr fünfter Dokumentarfilm, Sie haben Preise gewonnen, Sie unterrichten auch im Dokumentarfilmfach. War es schwierig, das Geld für die Produktion dieses speziellen Films zusammenzubringen?

Silvina Landsmann: Es gibt niemanden, der den Film zeigt.

Moderatorin: Noch nicht! (Publikum lacht) Wird er in Israel gezeigt werden? Haben Sie Pläne in die Richtung?

Silvina Landsmann: Es ging alles so schnell, daß ich jetzt erst einmal sehen werde, was in Israel passiert.

Moderatorin: Gibt es Fragen aus dem Publikum?

Teilnehmer 1: Gibt es nicht ein Gesetz in Israel, nach dem man für einige Jahre ins Gefängnis muß, wenn man Flüchtlingen hilft?

Asaf Weitzen: Nun, es gab entsprechende Passagen im Antiinfiltrationsgesetz. Vielleicht kurz zum rechtlichen Rahmen: Israel hatte bis 2012 ein Einreisegesetz, das die Internierung von Migranten erlaubte. Aber der Zweck der Internierung war die Deportation, ihre Abschiebung. Laut einem Urteil des Obersten Gerichts darf jemand, der nicht deportiert werden kann, nicht interniert werden. Natürlich ist es ein großes Problem für die israelische Regierung, daß niemand mehr deportiert werden kann, weil die Verfassung es nicht erlaubt. Deshalb wurde das Gesetz von 1954 aus den frühen Jahren des Staates Israel novelliert. Es war ein sehr armeeorientiertes, sehr sicherheitsorientiertes Gesetz. Es wurde Antiinfiltrationsgesetz genannt und hing mit dem Ausnahmezustand in Israel zusammen. Es erlaubte die Internierung von Menschen, die aus feindlichen Staaten kamen, für unbestimmte Zeit und ohne Prüfung durch einen Richter oder dergleichen. Das war der Rahmen, den Israel versuchte, durch eine Änderung des Gesetzes auch auf die Asylsuchenden aus dem Sudan anzuwenden. Paradoxerweise machten sie es auch etwas verfassungsgemäßer. Die unbestimmte Zeit wurde zu drei Jahren, und es gibt eine Art richterlicher Prüfung, die nicht wirklich eine richterliche Prüfung ist, aber lassen wir das einmal beiseite.

In dem alten Gesetz gab es Teile, die besagten, daß jeder, der solchen Menschen aus Feindstaaten, die nach Israel kommen, hilft, auch kriminell ist. Aber soweit mir bekannt ist, wurde das nie wirklich angewendet. Und was das neue Gesetz angeht, so sind zwar einige Teile geblieben, werden aber nicht wirklich relevant sein.

Teilnehmer 2: Zu Anfang des Films gab es eine Menschenansammlung mit sehr hochgekochten Gefühlen gegenüber den Asylsuchenden. Ich frage mich, ob das in den letzten ein, zwei Jahren gleich geblieben ist. Ist es besser oder vielleicht schlimmer geworden? Wie ist das in der öffentlichen Wahrnehmung? 2013 gab es in Israel große Flüchtlingsproteste. Könnten Sie dazu etwas sagen? Was bedeutete das für den ganzen rechtlichen Rahmen und die Strafverfolgung?

Reut Michaeli: Die Situation zwischen den Gemeinschaften der Asylsuchenden und den verschiedenen Gemeinschaften in Israel, hauptsächlich den Altansässigen in Süd-Tel Aviv, verändert sich die ganze Zeit. Es gab viele Spannungen. Im Jahr 2012 kam es zu einem schweren Zusammenstoß in Süd-Tel Aviv, man kann das sogar ein Pogrom nennen. Es gab eine große Demonstration, angeführt von einigen Knesset-Mitgliedern, die zu viel Haß und massiver Gewalt führte. Das hat zwar in gewisser Weise aufgehört, aber man kann spüren, daß es noch da ist und unter dem Teppich rumort. Und wenn wir darüber diskutieren, machen die Anwohner von Süd-Tel Aviv ihren Gefühlen gegenüber den Asylsuchergemeinschaften sehr deutlich und laut Luft. Natürlich tut das nicht jeder und ich möchte sie auch nicht beschuldigen, rassistisch zu sein, denn es gibt da ein großes Problem. Um ehrlich zu sein, hat die Tatsache, daß die Regierung 25.000 Migranten dorthin geschickt hat, ihnen einfach eine Busfahrkarte an einen Ort gegeben hat, der unterprivilegiert ist, und sie dann kaum unterstützt hat, zu einer Situation geführt, die explodieren mußte. Es handelt sich um eine sehr einfache Teile-und-herrsche-Politik und das ist es wohl, was die Regierung Israels in den vergangenen Jahren versucht hat.


Das Knesset-Gebäude, ein moderner Flachbau, von außen; davor ein leerer Platz - Foto: Rodrigo Balan Uriartt. CC By-NC-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/deed.de) [9]

Die Knesset in Jerusalem - das israelische Parlament.
Foto: Rodrigo Balan Uriartt. CC By-NC-SA 3.0
(http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/deed.de) [9]

Asaf Weitzen: Im Juni 2012 trat das Antiinfiltrationsgesetz in Kraft. Es wurde nur auf Neuankömmlinge angewendet, also auf Menschen, die gerade die Grenze überquert hatten, sowie auf eine kleine Gruppe, von der man annahm, sie sei in kriminelle Aktivitäten verwickelt. Wer in Verdacht geriet, wurde interniert, statt ihn vor Gericht zu bringen. Die Menschen, die vor Juni oder Mai 2012 nach Israel gekommen waren, schickte man nicht in die Internierung. Es gab einige Proteste, aber hauptsächlich von israelischen Aktivisten und Linken. Im September 2013 hob der Oberste Gerichtshof aufgrund einer Petition der NGOs das Gesetz auf. Im Dezember des Jahres gab es ein neues Gesetz, das die sogenannte offene Internierung vorsah, eine Einrichtung, die weit davon entfernt ist, offen zu sein. Die Menschen müssen sich dreimal am Tag melden, nachts ist die Anlage abgeschlossen. Sie ist eher wie ein Gefängnis und weit ab vom Schuß in der Wüste. Abhängig davon, wie das Gesetz ausgelegt wird, kann die Verweildauer unbegrenzt sein oder einige Tage.

In dieser Zeit fingen sie an, Menschen aus der Stadt, Menschen, die sechs, sieben, acht Jahre in Israel gelebt hatten, gearbeitet hatten, die dort ein Leben, Freunde, Verbindungen und Netzwerke hatten, zu internieren. Sie haben das mit den Leuten gemacht, die zuerst gekommen waren, also denen, die eine Brücke bildeten zwischen den Neuankömmlingen, der Migrantengemeinschaft und der israelischen Gesellschaft. Nachdem sie angefangen haben, diese Menschen in die Einrichtung nach Holot zu schicken, gab es eine große Bewegung. Das war nebenbei bemerkt etwas sehr Erstaunliches. Etwa 20.000, 30.000 aus der Gemeinschaft der Asylsuchenden protestierten auf sehr organisierte und höfliche Weise - vielleicht zu höflich, wie einige meinen. Einer der auslösenden Faktoren war der Marsch für den Frieden. Ich nehme an, daß den meisten von Ihnen der Begriff nicht viel sagt, also will ich das noch kurz erklären: Der Oberste Gerichtshof hatte in seinem Urteil über die unter dem Antiinfiltrationsgesetz internierten Menschen angeordnet, daß ihr Leben sich von einem Leben in Internierung zu einem Leben mit Hoffnung und in Frieden wandeln solle. Statt dessen schickte sie der Innenminister in diese "offene Wohnanlage", die alles andere als offen ist. Zwei Tage, nachdem man sie dort hingebracht hatte, Mitte Dezember, begannen sie ihren Protestmarsch aus der Wüste nach Jerusalem.

Sie hätten weglaufen können nach Tel Aviv und Arbeit suchen. Sie arbeiten gut und gern, aber nein, sie sind zusammen als Gruppe durch den Schnee nach Jerusalem marschiert. Der Schnee war tief und es gibt viel Schnee in Israel. Sie protestierten vor der Knesset und vor dem Obersten Gericht und wurden dann verhaftet, geschlagen und ins Gefängnis gesteckt wegen Verstoßes gegen die Residenzregeln. Das wurde im israelischen Fernsehen gezeigt und gab den Anstoß für massive Proteste der Asylsuchenden. Mich hat diese Aktion sehr überrascht. Menschen, die nicht als menschliche Wesen behandelt wurden, haben ihr Potential zur politischen Aktion entdeckt. [7]


Foto: Yony Maron - CC By-NC-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/deed.de) [10]

Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv.
Foto: Yony Maron. CC By-NC-SA 3.0
(http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/deed.de) [10]

Moderatorin: Die Anfangsszene mit dem Menschenauflauf wurde erwähnt. Diese Szene zeigt Sigal Rozen, die Aktivistin, die versucht, ihre Politik gegenüber Menschen in Süd-Tel Aviv zu erklären, in deren Gemeinde 25.000 Asylsuchende leben. Es ging erstaunlich viel Haß und fast Gewalt von der israelischen Bevölkerung aus. War das eine typische Situation oder war es eine Situation, in der es einfach knallte und die Sie im Film festhalten konnten?

Silvina Landsmann: Während der Filmaufnahmen war das die einzige Szene dieser Art. Ich habe die Hotline und ihre Mitarbeiter/innen begleitet und bin nicht zu Ereignissen gegangen, die anderswo stattfanden. Natürlich kann es noch weitere Unruhen oder ähnliche Vorkommnisse gegeben haben. Ich habe aber die ganze Zeit dicht an der Organisation gefilmt.

Moderatorin: Die israelische Gesellschaft ist sehr vielschichtig. Es gibt reich und arm, und wie in jedem Land gibt es viele Unterschiede. Es gibt politische Proteste wie in Deutschland und in anderen Ländern auch. Hatten Sie eigentlich Angst um Sigal, Angst, daß ihr dabei etwas zustoßen könnte? Natürlich gibt es auch andere Aktive, aber sie scheint doch schon etwas im Mittelpunkt zu stehen.

Silvina Landsmann: In diesem speziellen Moment, als ich die Filmaufnahme machte, ja, da hatte ich Angst, weil Gewalt in der Luft lag. Sie aber hatte keine Angst.

Moderatorin: Eine sehr mutige Frau - und eine sehr mutige Organisation, muß ich sagen, die unbeirrbar ihre Arbeit macht. Ich habe da wirklich allen Respekt vor. Gibt es weitere Fragen?

Teilnehmerin 1: Zuerst einmal vielen Dank für den Film. Bis dahin hatte ich nichts aus dieser Perspektive über die Migration aus afrikanischen Ländern nach Israel gesehen. Hier ist hauptsächlich das Problem in Europa präsent, insbesondere in Berlin wird in den letzten Jahren viel darüber gesprochen. Meine Frage ist: Warum werden diese Menschen "Infiltratoren" genannt? Liegt das an dem Gesetz von 1954 [8] oder woran liegt das?

Reut Michaeli: Ich finde das ist eine sehr interessante Frage. Denn das Antiinfiltrationsgesetz wurde erklärtermaßen in den frühen 1950er Jahren zur Bekämpfung des Terrorismus geschaffen. Und ich denke, daß der Regierung damit, daß sie diese Menschen als Infiltratoren, als Eindringlinge brandmarkt, ein großartiger Coup gelungen ist. Wieso? Wenn man über den jüdischen Charakter des Staates spricht und die Angst vor Terrorismus, dann ist das der kleinste gemeinsame Nenner für die israelische Öffentlichkeit, der jeden in Israel tief im Inneren berührt. Da die Regierung in der Lage war, diese Menschen als Infiltratoren zu brandmarken, sind sie keine Arbeitsmigranten, keine Asylsuchenden, keine Menschen, die um ihr Leben fürchten, sondern sie sind jene, die den jüdischen Charakter des Staates und unsere Sicherheit bedrohen. Sie hatte Erfolg damit.

Teilnehmerin 2: Ich würde gern noch etwas über das Thema, wie mit Menschenhandelsopfern in Israel umgegangen wird, hören und was aus dem Kontakt zu dem britischen Parlamentarier in der Frage geworden ist.

Reut Michaeli: Um ganz ehrlich zu sein, Menschenhandel ist der einzige Punkt, den ich der israelischen Regierung zugute halten kann. Und das mache ich normalerweise nicht. Israel hat eine ziemlich liberale Praxis, was Menschenhandelsopfer betrifft. Das liegt hauptsächlich daran, daß das US-Außenministerium in den letzten zwei Jahren in der Lage war, in der OECD genug Druck auf Israel auszuüben. Es hat viele Gespräche gegeben. Israel stand kurz davor, Gelder aus den Vereinigten Staaten zu verlieren, und in dieser Situation wurden Verbesserungen erreicht. Wenn Menschen als Menschenhandelsopfer anerkannt werden, haben sie Anrecht auf ein recht freizügiges Paket an Hilfs- und Rehabilitationsleistungen. Das schließt ein gutes Unterkommen ein, daß man sie mit einem Dach über dem Kopf versorgt, sowie Gesundheits- und Sozialleistungen. Das Problem ist, daß bei Asylsuchenden - anders als im Falle des Sex-Menschenhandels aus Osteuropa und anderen Formen eindeutigen Menschenhandels - die Anzeichen für die Folter, die im Film erwähnt wurde, nicht immer in die Definition von Menschenhandel passen und Israel kein Verfahren für die Anerkennung von Folteropfern als Folteropfer hat. Tatsache ist also, daß es, wenn mehrere Menschen im selben Lager von denselben Schmugglern oder Menschenhändlern gefoltert wurden, sein kann, daß manche anerkannt werden und andere nicht. Wir arbeiten daran. Treffen wie das mit dem britischen Parlamentarier, das gezeigt wurde, bei dem er Informationen zu diesem Thema erhalten hat, tragen dazu bei, für diese Menschen zu arbeiten und zu kämpfen, damit sie Rechte bekommen.



Anmerkungen:

[1] www.hotline.org.il

[2] http://www.cominofilms.com/

[3] https://www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.php?film_id=201510661#tab=filmStills

[4] Der in Tel Aviv gezeigte Dokumentarfilm beschreibt die schwierigen Lebensumstände von Israelis und afrikanischen Migranten in einem Viertel am Südrand der Stadt. Sigal Rozen, Public Policy Koordinatorin der Hotline, versucht zu informieren und wirbt für Verständnis für die Flüchtlinge, denen bei einer Rückkehr in ihre Heimatländer Verfolgung droht. In dieser Szene wird sie aggressiv beschimpft, teils treten offener Haß und Rassismus zutage.

[5] Am 5. September 2012 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Beschluß über die See-Operationen von Frontex, der eine Zurückweisung von Flüchtlingen erlaubte, aufgehoben. Die neue, von EU-Parlament und -Rat erlassene EU-Seeaußengrenzenverordnung - Verordnung (EU) Nr. 656/2014 vom 15. Mai 2014 - beinhaltet neben der Möglichkeit, fremde Schiffe zu einer Kurskorrektur aufzufordern oder die Beförderung oder Überstellung an einen Drittstaat zu veranlassen, eine Pflicht zur Seenotrettung und bestätigt den in der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltenen Grundsatz der Nichtzurückweisung.
http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:32014R0656

[6] "Den von der Bevölkerungs- und Immigrationsbehörde (PIA) veröffentlichten Zahlen zufolge gab es Ende 2013 fast 53.000 Asylsuchende in Israel. Die meisten von ihnen kommen aus Eritrea (68%) und dem Sudan (24%). 2013 wurde der Strom unerlaubter Grenzübertritte aus Ägypten nach Israel zu einem Rinnsal, der niedrigsten Zahl seit 2006, als die PIA diese anfing zu dokumentieren und zu veröffentlichen: Nur 43 Asylsuchenden gelang es im Jahresverlauf, die israelisch-ägyptische Grenze zu passieren. Ohne Genehmigung nach Israel zu kommen - die einzige Möglichkeit, die Flüchtlinge haben, die vor Krieg und Verfolgung in ihren Heimatländern fliehen - ist aufgrund des an der Grenze errichten, verstärkten Grenzzauns sowie einer koordinierten Push-Back Praxis, praktisch unmöglich geworden." (aus: Hotline Jahresbericht 2013, S. 6 - Übersetzung: Redaktion Schattenblick)
http://hotline.org.il/wp-content/uploads/englishsep.pdf

[7] Im Januar 2014 marschierten über 20.000 afrikanische Migranten und Asylsuchende nach Tel Aviv und demonstrierten vor einer Reihe ausländischer Botschaften für die Anerkennung ihrer Rechte als Flüchtlinge. Zuvor, im Dezember 2013 hatte das israelische Parlament ein Gesetz erlassen, das die unbefristete Internierung von Migranten ohne gültiges Visum erlaubt.
http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Immigration/SudaneseRefugees.html

[8] Das 1954 verabschiedete Gesetz sollte im wesentlichen den Grenzübertritt (bewaffneter) Palästinenser/innen aus und nach Syrien, Ägypten und Jordanien - damals befeindeten Ländern - verhindern.

[9] http://www.boell.de/de/2014/01/13/israel-fluechtlinge-aufruhr

[10] http://www.boell.de/de/2014/06/17/israels-neuer-praesident-neue-impulse-fuer-die-demokratie

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Quelle:
Martin Lejeune, 07.02.2015
Freier Journalist, Berlin
E-Mail: info@martinlejeune.com
Homepage: www.martinlejeune.com
Facebook: www.facebook.com/lejeune.berlin
Blog: martin-lejeune.tumblr.com
 
Transkription und Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2015

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