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FESTIVAL/189: Erlangen 2010 - Laudationes zum Max und Moritz-Preis 2010 (CSE)


Kulturprojektbüro der Stadt Erlangen - Pressemitteilung vom 5.6.2010

14. Internationaler Comic-Salon Erlangen, 3. bis 6. Juni 2010

Max und Moritz-Preis 2010 - Laudationes


Bester deutschsprachiger Comic-Künstler

Nicolas Mahler

Es gibt sehr viele Gründe, Nicolas Mahler als besten deutschsprachigen Comic-Künstler auszuzeichnen, an dieser Stelle können nur drei genannt werden. Erstens. Mahler ist überall. Seit Jahren überzieht er die Comic-Landschaft - und auch die Kunstlandschaft, mit hochwertigen, wunderbaren Büchern und Strips, ein hinreißender ästhetischer Minimalismus und seine ganz eigene Marke von Antidepressiva. Natürlich muss man die Sachen wieder und wieder lesen, weil es davon zwar viele, aber noch lange nicht genug gibt. Zweitens. Neuerdings hat er sich auch der "grafischen Novelle" zugewandt, und "Engelmann" ist eine höchst überzeugende Erweiterung des Mahleruniversums. Das Buch hat alles: Glamour, Sex, Witz, Intelligenz, es ist vielschichtig und gesellschaftskritisch und - das Beste am Ganzen - es handelt von Superhelden. "Engelmann" ist, als würde ein sehr guter Singer-Songwriter mit einem Mal ein grandioses Broadway Musical schaffen. Davon wollen wir mehr. Drittens. Nach Ansicht der Jury ist Mahler ein Genie, Genies soll man alle Preise hinterherwerfen, die man hat.


Bester Comic-Strip

"Prototyp" und "Archetyp" von Ralf König (Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rowohlt Verlag)

Seit er mit pointierten Cartoons Stellung zum Streit um die Mohammed-Karikaturen bezog, hat sich Ralf König in das Thema Religion eingearbeitet. Religion ist ihm dabei weniger Glaubenssache als Auseinandersetzung mit einem sozialen Phänomen und seinen Wurzeln. So hat er eine Urlaubsvertretung auf dem redaktionellen Platz, den die FAZ für Comic-Strips zur Verfügung stellt, genutzt, um sich mit der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte auseinanderzusetzen. Das Resultat war "Prototyp", ein ebenso witziger wie tiefsinniger Bericht über das Experiment Mensch. Mit dem Strip "Archetyp" hat König ihn später fortgeschrieben und sich der Themen Fanatismus und Schuldzuweisung angenommen. Das sind Haltungen, die er stets vom Menschen aus beschreibt, während er ein Gottesbild der Toleranz, Sympathie und idealen Humanität entwickelt. So werden mit Humor und präzis gesetztem Strich Thesen aufgestellt, die den theologischen Diskurs in den Religionsgemeinschaften bereichern könnten, wenn die denn auf Comic-Strips hören würden.


Bester deutschsprachiger Comic

"Alpha. Directions" von Jens Harder (Carlsen Comics)

Mit dem Buch "Alpha. Directions" hat Jens Harder dem Medium der grafischen Erzählung neue Dimensionen eröffnet. Er hat eine Erzählung geschaffen, allerdings eine "Große Erzählung", wie man den Mythos im Kontext der postmodernen Kulturdiskussion genannt hat. Harder erzählt in einer Grafik, die sich an klassischen Drucktechniken orientiert, vom Werden des Kosmos, von der Entstehung der Erde, vom Wachsen der Evolution. Er referiert naturwissenschaftliche Erkenntnisse und stellt sie in den Zusammenhang vieler kultureller Hervorbringungen im Lauf der Menschheitsgeschichte. Denn die Menschen haben sich die Rätsel ihrer Herkunft stets zu erklären versucht, haben dazu Metaphern geschaffen und Bilder erfunden. Indem Jens Harder diese Bilder zitiert und sie mit den aktuellen Erkenntnissen wissenschaftlicher Forschung verbindet, schafft er den Mythos der Gegenwart. Das ist eine vielschichtig schillernde Erzählung von der Existenz, die sich in einem folgenden Band in die Geschichte der Menschheit fortschreiben soll.


Bester internationaler Comic

"Pinocchio" von Winshluss (avant-verlag)

Alle kennen "Pinocchio", die kleine Holzmarionette mit der langen Nase. Carlo Collodis rabenschwarze Erziehungsmoritat erschien ursprünglich 1881; sechzig Jahre später, 1940, versüßlichte Walt Disney sie in seinem Trickfilm, und heute - nun, heute reißt uns Winshluss mit auf eine furiose und überaus unterhaltsame Tour de Force durch den aktualisierten "Pinocchio"-Stoff. In Winshluss' "Pinocchio" ist Geppetto ein skrupelloser Waffenfabrikant, der zur Weltunterwerfung einen kleinen Roboter mit Flammenwerfernase baut. Dieser Pinocchio stolpert in einen wilden Strudel von Ereignissen, er schlägt sich mit Neonazis herum, mit religiösen Fundamentalisten und kriegsgeilen Kapitalisten, mit Atommüll, Sex, Totschlag und vielem anderem mehr. Atemlos ist das, bitterböse, brillant, nicht selten unkorrekt und geschmacklos, aber immer mit großer Kelle angerührt. Zeichnerisch entfacht Winshluss auf zweihundert weitgehend wortlosen Seiten ein sinnverwirrendes Feuerwerk an unterschiedlichen Stilen und spickt sie mit unzähligen Zitaten aus der Populärkultur der letzten 100 Jahre. Dem breiten Publikum bekannt ist Winshluss alias Vincent Paronnaud als Co-Regisseur von Marjane Satrapis Animationsfilm "Persepolis". Als Comic-Autor hingegen zelebriert er in "Pinocchio" ohne Furcht vor Tabus das subversive Potenzial der Comics, das in den Zeiten der "Graphic Novel" ein bisschen vernachlässigt wird. Nicht zuletzt deswegen überreichen wir Winshluss und seinem kleinen Roboter den Preis für den besten internationalen Comic.


Bester Comic für Kinder

"Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln" von Nadia Budde (S. Fischer Verlag)

Wenn das Kind im Hochhaus Lift fährt, geht es in diesem Buch drunter und drüber - und nicht nur da. Nadia Buddes großartiger Kindheitsüberblick in 10 Kapiteln, "Such dir was aus, aber beeil dich!", führt erfrischend vor Augen, wie oft man einst die Dinge von unten, von der Seite, aus der Schräglage, unter Wasser etc. erlebte, anstatt in der geraden Haltung eines seriösen Erwachsenen. In Buddes heiterer Rückschau auf eine Zeit, als Tischplatten noch auf Nasenhöhe waren, geht es wild durcheinander - die Kapitel springen vom Baden im Sommer zum Proustschen Geruch von Erbsensuppe mit Zigarre zum internationalen Frauentag bei Oma auf dem Land zu einem kleinen absurden Kammerstück über die Begegnung von Stadt- und Landtod. Wie bei jeder hochrangigen Kinderlektüre bleibt am Ende unentscheidbar, wer mehr von diesem Buch haben wird: Die Kurzen? Oder doch ihre Eltern?


Spezialpreis der Jury

Salleck Publications und Carlsen Comics für ihre Will Eisner-Ausgaben "Die Spirit Archive" (Salleck Publications) und "Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten" (Carlsen Comics)

Will Eisner (1917-2005) hat für den Comic Epoche gemacht, und das gleich in dreierlei Hinsicht. Indem er mit der Seitenarchitektur experimentierte, verlieh er als einer der seinerzeit ersten Produzenten für die US-amerikanischen Verlage dem noch in den Kinderschuhen steckenden Comic-Heft ab 1937 eine eigene Ästhetik, die sich deutlich von der der Zeitungsstrips absetzte. Nur wenig später entdeckte er im Comic das Potenzial für eine gänzlich neue literarische Ausdrucksform - allerdings stand er mit dieser Meinung zunächst allein da und wurde verlacht. Doch mit seiner Serie "The Spirit" (1940-1952) trat er schon bald den Beweis an, dass sich im Comic auch ganz andere Geschichten erzählen lassen, als es bislang Usus war. Damit emanzipierte Eisner als Blasenfutter für Pubertierende. Und 1978 schließlich legte er mit "Ein Vertrag mit Gott" überraschend eine Sammlung von New Yorker Erzählungen aus den Depressionsjahren vor, die er erstmals mit der Bezeichnung "graphic novel" labelte und der weitere Comic-Romane über die Abgründe der menschlichen Existenz unter den Bedingungen urbaner Lebensverhältnisse folgten. "Ein Vertrag mit Gott" wurde zu einem Meilenstein, mit dem er eine völlig neue Erzählhaltung begründet hat. 1994 hat Will Eisner den Max und Moritz-Preis für sein Lebenswerk erhalten. Sein "Spirit" wird vollständig und originalgetreu erstmals in deutscher Übersetzung von Salleck Publications in 26 Bänden aufgelegt, seine Graphic Novels erscheinen als Neueditionen bei Carlsen.


Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk

Pierre Christin

Pierre Christin, geboren 1938 bei Paris, ist einer der renommiertesten und wegweisendsten Autoren des zeitgenössischen Comics in Europa. Er hat an der Sorbonne studiert und rief gerade an der Universität Bordeaux den Fachbereich Journalismus ins Leben (den er bis 2003 leitete), als er eher zufällig, durch seinen zeichnenden Jugendfreund Jean-Claude Mézières, in die Rolle des Szenaristen geriet. Gemeinsam schufen Christin und Mézières 1968 mit "Valerian und Veronique" die erfolgreichste europäische Science-Fiction-Serie (die sie gerade nach 21 Bänden abgeschlossen haben). Für Enki Bilal schrieb Christin ab 1975 eine Reihe von mit Elementen der fantastischen Literatur arbeitenden Politthrillern (u. a. "Die Kreuzfahrt der Vergessenen", "Schlaf der Vernunft", "Treibjagd"), mit denen er das Erzählformat der "graphic novel" zu einem Zeitpunkt vorwegnahm, als es den Begriff noch nicht einmal gab. Nach über 40 Jahren umfasst Christins Werk (neben sechs Romanen, Filmdrehbüchern und Theaterstücken) heute über 80 von Comic-Künstlern wie Annie Goetzinger (u. a. "Die Diva", "Das Fräulein von der Ehrenlegion", "Die Frau des Sultans") oder André Juillard ("Lenas Reise") umgesetzte Alben.


Beste studentische Comic-Publikation

"Strichnin" (Hochschule Augsburg / Fakultät für Gestaltung)

Die Zukunft des deutschsprachigen Comics wird genährt von Hochschulen und Fachbereichen, die fast nie ein "Comic" im Namen tragen und deren Studenten, Absolventen und Dozenten dennoch den gegenwärtigen Markt wesentlich prägen. Diese Hochschulen sind in Kassel, in Berlin, in Hamburg, Luzern, Leipzig usw., und seit dem letzten Comic-Salon sind sie aufgefordert, sich mit Publikationen, die ihre Auseinandersetzung mit Comics (ob im Rahmen einer Projektarbeit oder außerhalb des Lehrplans) dokumentieren, um den Preis für die beste studentische Comic-Publikation zu bewerben. In diesem Jahr geht dieser Preis nach Augsburg. An der dortigen Hochschule gibt Professor Mike Loos mit Studierenden der Fakultät für Gestaltung das Comic-Magazin "Strichnin" heraus, 2010 mit dem Thema: "Straße: darauf, darunter, daneben". "Strichnin" ist weit mehr als eine studentische Projektschau, der broschierte Heft-Auftritt ist selbstbewusst, mit witzigen Vorsatzblättern, einem charmanten Editorial und einem pfiffigen Überblick über verworfene Covers. Die durchwegs hochwertigen, liebevoll präsentierten Comic-Beiträge zeugen von einer lustvollen Experimentierfreude im Gang durch die "sequentielle Kunst".


Publikumspreis

"Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" von Ulli Lust (avant-verlag / electrocomics)

Mit "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" legt die Österreicherin und Wahlberlinerin Ulli Lust ein fulminantes autobiografisches Debüt vor: Es ist die Irrfahrt von zwei gelangweilten und naiven Punk-Mädels aus Wien, die im Sommer 1984 ohne Geld, Gepäck und Ziel durch Italien trampen. Der schwärmerische Aufbruch zweier freiheitstrunkener Aussteigerinnen mutiert indes bald zum Albtraum. Ulli Lust schildert diese Initiationsreise mit Distanz, geradezu kühl, ohne Larmoyanz, aber mit einer gesunden Prise schwarzen Humors. Ihre Erzählweise ist dicht und atemlos und reißt den Leser mühelos mit - bis zum Absturz in Sizilien: Vergewaltigung, harte Drogen, Prostitution, Mafia. Im spannungsvollen Kontrast zur reflektierten Erzählhaltung stehen die fiebrigen Zeichnungen: Scheinbar schnell hingeworfen, schwarz-weiß und mit einem schmutzigen olivgrünen Farbton unterlegt, vermitteln sie den Eindruck größtmöglicher Unmittelbarkeit und Authentizität. Ulli Lust zeichnet ihre Erfahrungen bis zum bitteren Ende mit beeindruckender Konsequenz auf und ohne den Versuch, sie moralisch oder pädagogisch abzurunden oder zu schmücken.


Die 20 für den Max und Moritz-Preis 2010 nominierten Titel
(in alphabetischer Reihenfolge)

Alpha. Directions von Jens Harder (Carlsen Comics)
Bäche und Flüsse von Pascal Rabaté (Reprodukt)
Drei Schatten von Cyril Pedrosa (Reprodukt)
Ein neues Land von Shaun Tan (Carlsen Comics)
Engelmann. Der gefallene Engel von Nicolas Mahler (Carlsen Comics)
Freche Mädchen - freche Manga! Handykuss und Liebesrätsel von Bianka Minte-König und Inga Steinmetz (Tokyopop)
Gift von Peer Meter und Barbara Yelin (Reprodukt)
Hector Umbra von Uli Oesterle (Carlsen Comics / Edition 52)
Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens von Ulli Lust (avant-verlag / electrocomics)
Ikkyu von Hisashi Sakaguchi (Carlsen Manga)
Kirihito von Osamu Tezuka (Carlsen Manga)
Lio von Mark Tatulli (Bulls Press)
Louis am Strand von Guy Delisle (Reprodukt)
Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen von Jean Regnaud und Émile Bravo (Carlsen Comics)
Orange von Benjamin (Tokyopop)
Pinocchio von Winshluss (avant-verlag)
Prototyp / Archetyp von Ralf König (Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rowohlt Verlag)
Spirou & Fantasio Spezial. Porträt eines Helden als junger Tor von Émile Bravo (Carlsen Comics)
Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln von Nadia Budde (S. Fischer)
Das variable Kalendarium von Kat Menschik (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Veranstalter: Stadt Erlangen - Referat für Kultur, Jugend und Freizeit, Kulturprojektbüro


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Quelle:
Pressemitteilung vom 5. Juni 2010
Herausgeber:
Stadt Erlangen
Referat für Kultur, Jugend und Freizeit
Kulturprojektbüro
Gebbertstraße 1
91052 Erlangen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2010