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MARVEL-BROKER/030: Wolverine, Origins 1 - Blutige Geburt (SB)


Daniel Way, Steve Dillon


Wolverine: Origins 1 - Blutige Geburt



Die Legende vom einsamen Rächer ... in der "Wolverine"-Variante

Mit dem vorliegenden Heft "Wolverine: Origins" beginnt hier und jetzt die neue Solo-Serie Wolverines, was bedeutet, daß euer Marvel-Broker künftig Geschichten sowohl aus der ursprünglichen Serie "Wolverine" als auch aus der neuen Reihe "Wolverine: Origins" vorstellen wird.

Mit "Origins" zieht das "Vielfraß" - so die Übersetzung des Namens Wolverine - mit der allzeit beliebten Spinne gleich und ist neben ihr der einzige Marvel-Superheld, der es in den USA zu einer zweiten fortlaufenden Solo-Serie gebracht hat. Kein Wunder, wird da der eingefleischte Wolverine-Fan zustimmend nicken, denn die dunkle Vergangenheit des ruhelosen Jägers hat schon immer viel Raum für Spekulationen geboten. Der kann nun nach und nach gefüllt werden. Kein Wunder aber auch, da Wolverine von Joe Quesada protegiert wird - der Marvel-Chefredakteur höchstselbst wird die Serie mit den Covern beliefern. Und zur Premiere von "Origins" erscheint diese Ausgabe sogar gleich mit zwei verschiedenen Covern, wobei das jeweils andere Deckblatt im Heftinnern zu finden ist.

Die Wolverine-Fans werden sich natürlich zu recht fragen, worin sich die neue Serie von der ursprünglichen Reihe unterscheidet, denn daß Wolverine stets nach dem Motto "allein gegen alle" handelte, ist ja freilich nichts Neues. Der Marvel-Redakteur Axel Alonso stellte im Online-Forum "Daily Bugle", aus dem in der Marvel-Depesche auf der letzten Heftseite zitiert wird, das neue Konzept vor. Alonso zufolge ist das Kreativteam mit Akribie vorgegangen und über scheinbare Widersprüche der Serie hinweggekommen:

Mit Logans Erinnerungen kam auch eine neue Sicht der Dinge bei ihm auf. Die Prioritäten haben sich verändert. 'Origins' zeigt Wolvie im braunen Kostüm. Auf ganz privater Mission. Er will Fehler geraderücken, einstige Beziehungen auffrischen und mit seinen Dämonen und seiner Vergangenheit ins Reine kommen. Weg von dem Pfad, der ihm bis alle Ewigkeit vorgezeichnet schien. Kurz, die Fans sollen bedeutende Veränderungen erwarten.

Erst als die Erinnerungen kommen, erkennt Logan alias Wolverine, daß sein richtiger Name James Howlett lautet und er Kanadier ist. Er wurde als Mutant geboren und besitzt verschiedene übermenschliche Fähigkeiten als da sind unglaubliche Selbstheilungskräfte, die auch schwerste Wunden innerhalb kürzester Zeit verschwinden lassen, ein deutlich langsameres Altern, tierartige Sinne, eine größere Kraft, Ausdauer, Agilität sowie eine kürzere Reaktionszeit. Außerdem ist er gegen telepathische Sondierungen gefeit.

Seine ureigenste Mutantenkraft jedoch bilden die drei messerlangen, vollständig einziehbaren Krallen an den Handrücken beider Hände. Im späteren Projekt "Waffe X" wurden diese und sein gesamtes Skelett mit dem unzerstörbaren Metall Adamantium bearbeitet. Insbesondere im Zusammenhang mit diesem Projekt war Logan manipuliert, schwer gefoltert und verwundet worden. Zwar hat ihn der Schmerz gestärkt, aber auch Narben an seiner Seele hinterlassen.

Die Verantwortlichen des Geheimprojekts "Waffe X" raubten Wolverine die Erinnerungen, und wie die Fans des beliebtesten Vielfraßes im Marvel-Universum wissen, litt Logan ganz besonders darunter, daß er nicht wußte, wer er wirklich war. Erst als er Teile seines Gedächtnisses wiedererlangte, drangen nach und nach Erinnerungen an gute wie auch furchtbare Dinge, die er erlebt, aber auch anderen zugefügt hatte, an die Oberfläche. Diese Diese Erinnerungen haben sich tief in ihn eingebrannt, doch fehlen Wolverine noch wichtige Fragmente seiner Vergangenheit, nämlich die Namen der Verantwortlichen des Projekts "Waffe X", die ihn zu den menschenverachtenden Dingen gezwungen hatten.

Nun sinnt der Düstere auf Rache. Er hat die Spur der Vergeltung aufgenommen, und nichts und niemand kann ihn aufhalten ... denn er ist nicht mehr allein! An seiner Seite kämpft eine der gefürchtetsten Klingen aus der Schmiede "Muramasa", eines jener legendären japanischen Schwerter, denen der Legende nach unvorstellbare Macht innewohnt und die ihre Peiniger von sich aus aufspüren und vernichten können. Aber Halt! Seit wann braucht Wolverine eine Waffe? Hat er doch immer seine Aufgaben mit seinen "natürlichen" Werkzeugen gelöst, den blitzscharfen, adamantium-gehärteten Klingen. Wenn Logan sich also mit einer Muramasa-Klinge verbündet, könnte es etwas geben, was das Schwert mit seinem Träger verbindet. Wolverine ist einerseits auf Rache aus, will aber gleichzeitig Gerechtigkeit für das an ihm begangene Verbrechen. Und die Muramasa? Was sind ihre Beweggründe?

Die Marvel-Autoren greifen wie so oft auf alte Legenden und Mythen anderer Kulturen zurück, was an sich eine schöne Sache ist, da der Leser über das Medium Comic häufig erstmals die Gelegenheit erhält, mit diesen Themen in Berührung zu kommen. Allerdings bleibt bei Marvel die Berührung mit den Mythen häufig oberflächlich, frei interpretiert und dermaßen aus dem ursprünglichen Kontext gerissen, daß der Leser bestenfalls ahnen kann, auf welche Sagen überhaupt zurückgegriffen wurde. Leider verspielt Marvel dadurch die Chance, gerade im amerikanischen Kulturraum, in dem neuzeitliche, urbane Mythen weit verbreitet sind, dem aufmerksamen Leser gut recherchierten, mythischen Stoff, und sei es auch in comichaft reduzierter Form, nahezubringen. Man denke nur an die Verfremdungen in den Abenteuern um den Helden Thor. Da hätte Marvel genügend Spielraum besessen, einen guten "Job" zu tun und die journalistischen Hausaufgaben richtig zu machen. Aber: Loki ist nie und nimmer der Bruder von Thor, genauso wenig wie Odin der Vater von Loki ist, sondern dessen "Blutsbruder".

Doch kehren wir zu unserem tragischen Helden Wolverine zurück. Was hat es mit diesem japanischen Wunderschwert auf sich, das er sich auf den Rücken geschnallt hat? Da viele Sagen und Erzählungen mündlich überliefert wurden und auch die Legende meist als unbeglaubigter Bericht oder sagenhafte Geschichte verstanden wird, variieren die Inhalte immer je nach Erzähler und Schreiber, und oft wird im Laufe die Zeit die eine Sage mit einer anderen verwoben oder von ihr beeinflußt.

Diese Anmerkungen seien vorweggeschickt, dann anschließend soll nur auf eine Variante des Muramasa-Mythos, der sich wiederum aus vielen kleineren Erzählungen zusammensetzt, eingegangen werden. Allerdings bietet dies den interessierten Leserinnen und Lesern die Chance, sich ein eigenes Bild über das Muramasa zu machen. Und wenn sich jemand dann mit erwachendem und wachsendem Interesse auf den Weg begeben sollte, die einmal gelegte Spur aus eigenem Antrieb weiterzuverfolgen, bleibt dem Marvel-Broker nur zu sagen: "Weiter so!"

"Die Legende vom verfluchten Schmied"

In der späten Muromachi- oder auch Ashikaga-Zeit (1333 - 1568) Japans, in der die Muromachi-Shogune die Hauptstadt wieder nach Kyoto verlegt hatten und die japanische Kultur das No-Theater und die Teezeremonie hervorbrachte, lebte in der ehemaligen Provinz Ise der japanische Schwertschmiedemeister Muramasa. Wie es damals üblich war, trug auch die sich von diesem Meister ableitende Schule der Schwertschmiedekunst seinen Namen, ebenso wie die von ihm geschmiedeten Schwerter. Eine Klinge mit dem Namen Muramasa ist somit kein bestimmtes Schwert, wie es demgegenüber in den germanischen Heldensagen, beispielsweise bei Wieland dem Schmied und seinem Schwert Mimung, der Fall ist, sondern bezeichnet alle von einem Meister geschmiedeten Schwerter. Ist also von irgendeiner Muramasa-Klinge die Rede, wird im Japanischen dennoch von "dem" Muramasa gesprochen, der Einzelname als Vertreter aller Schwerter.

Muramasa, der neben den Meistern Yukimitsu und Masamune als einer der drei großen Schwertschmiedemeister gilt, welche die Schwertschmiedetradition "Soshu" ausübten, war für seine außerordentlich scharfen Klingen bekannt. Der japanischen Legende nach soll sich der Charakter eines Schwertschmiedemeisters auf die von ihm gefertigten Schwerter übertragen. Da aber die Eigentümer und Träger von Muramasas überragenden Schwertern immer in blutige Auseinandersetzungen mit anderen verwickelt waren und den Gegnern, aber auch den Trägern und dessen Verbündeten selbst, Unheil brachten, war es nicht verwunderlich, daß Muramasa-Schwerter bald als "böse" und "blutrünstig" galten. Der Schmied Muramasa genoß schon bald einen finsteren Leumund, denn man zog den Umkehrschluß, daß die Blutspur, welche die Muramasa-Klingen nach sich zogen, nur im schlechten und nicht gefestigten Charakter des Schwertschmiedemeisters begründet sein konnten. Aus diesem Grund wurde damals auch eine Reihe von Muramasa-Schwertern vernichtet.

In der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1600 - 1868) wurde das Muramasa gänzlich geächtet. Der Legende nach soll der Shogun Tokugawa Ieyasu viele Verwandte und Freunde durch dieses Schwert verloren haben und auch selbst mit einem solchen schwer verletzt worden sein. So kam es, daß er seinen Samurai verbot, eine Muramasa-Klinge bei sich zu führen. Das trug zur weiteren Legendenbildung in vielen Dramen und Stücken in der japanischen Literatur bei.

So erhielt Muramasa seinen finsteren Ruf, und da man seine Klingen verdammte, galt er als der "verfluchte Schmied". Der "unrühmliche" Muramasa wurde immer mit Masamune, einem der zwei anderen großen Schwertschmiedemeister, der ungefähr zweihundert Jahre zuvor gelebt hatte, verglichen. Masamune wird als der Gegenpart zu Muramasa angesehen, weil sich ihre Schwerter angeblich in starkem Kontrast zueinander befanden. Das wird durch folgendes Bild zum Ausdruck gebracht: Während ein Blütenblatt, das von fließendem Wasser getragen auf eine Muramasa-Klinge zutreibt, von diesem zerschnitten wird, würde es bei einer Masamune-Klinge ausweichen und unversehrt weiterschwimmen. Und zwar nicht, weil das Schwert stumpfer wäre, sondern weil es dem Blatt den Raum zum Ausweichen gewährt hätte. Das Schwert des Masamune wird als "menschlich" bezeichnet, während das des Muramasa als "furchtbar" angesehen wurde. Und es ging das Gerücht, daß ein gezogenes Muramasa nicht eher in die Schwertscheide zurückkehren konnte, als bis es mit Blut in Berührung gekommen war.

So stellt sich denn den Lesern des Wolverine-Comics Origins 1 die Frage, ob die Muramasa-Klinge unseren Helden beherrscht und womöglich Blut fordert, das sein Träger nicht vergießen will, oder ob Klinge und Mutant gleichwertige Partner sind. Möglich aber auch, daß die Marvel-Produzenten lediglich bescheiden am japanischen Legendenschatz genippt haben, anstatt einen kräftigen Schluck zu tun, und dem Schwert keine tiefere Bedeutung beizumessen ist, als lediglich dem Helden ein superscharfes Tötungsinstrument mit mystischem Einschlag und klangvollem Namen an die Hand zu geben.

Das werden die nächsten Bände zeigen. Jedenfalls setzt sich die Story, die mit hohem Tempo vorangetrieben wird, aus zahlreichen bekannten Klischees zusammen: Bedrohung des Präsidenten, des "Vaters" aller Amerikaner; Ränkespiele miteinander konkurrierender Interessen innerhalb der US-Regierung; einsamer Held sinnt auf Rache und - man möchte beinahe "natürlich" einfügen - das amerikanische Vietnamkriegstrauma. Logan, einst an die Kette gelegter Folterfiesling für miese Figuren in der eigentlichen Machtzentrale der USA, schnipselt in einem Erdversteck an einem gefangenen Kameraden herum, um ihn anschließend zwei tumben Vietnamesen zu übergeben, die ihren Spaß daran haben, das Opfer mit Elektroschocks zu quälen.

Aber selbst in dieser Hölle menschlicher Grausamkeit wird der Amerikaner (okay, okay, Logan ist Kanadier, aber er steht hier eindeutig für "westliche" Interessen) als dem Vietnamesen moralisch überlegen gezeichnet. Denn während die Hintergründe, weshalb die Vietnamesen einen Haß auf die Amerikaner haben könnten, vollkommen ausgespart bleiben und die beiden Vietcong nur aus purer Lust am Quälen handeln - weswegen sie selbstverständlich die Strafe ereilt und sie durch das eigene, frevelhafte Tun ums Leben kommen -, wird Logans Metzelei als sinnvoll dargestellt. Denn er erfüllt damit einen höheren Auftrag, da zum Zeitpunkt der maximalen Pein des Opfers und nach einem bestimmten Stichwort innere Kräfte freigesetzt werden, die ihn alle Ketten sprengen lassen und zu einem Supersoldaten machen, der ein ganzes vietnamesisches Dorf auslöscht. (Womit nahegelegt wird, daß in Wirklichkeit nicht die US-Regierung, sondern nur eine kleine Gruppe an den Schalthebeln der Macht die Massaker in Vietnam, u.a. My Lai 1968, zu verantworten hat.)

Die Killermaschine namens Frank, dessen Gesicht von der amerikanischen Flagge verunziert wird - wobei die parallel angeordneten roten "Stripes" einst von der Stirn bis zum Mund von Logan mit dem Messer hineingeschlitzt worden waren -, wurde seit dem Vietnamkriegsmassaker "verbessert", so daß sie noch tödlicher ist. Nun wird Frank auf seinen Folterer von einst angesetzt, um ihn zu beseitigen. Es kommt zum klassischen Duell zweier Superhelden, wobei in diesem Fall die Rollenverteilung von Gut und Böse aufgebrochen wird, denn beide, Logan wie Frank, sind Marionetten an den Fäden einer bösen Macht im Hintergrund. Den Andeutungen zufolge, die ganz auf den Leserkreis einer stark fundamentalistisch christlich geprägten Gesellschaft wie die der USA zugeschnitten sind, könnte es sich dabei um einen gefallenen Engel, also den Teufel, handeln. Oder um jemanden, der sich mit diesem Namen zu zieren trachtet.

Wie dem auch sei. Wer den Marvel-Helden Wolverine bereits kennen und womöglich schätzen gelernt hat, wird an dieser Stelle vermutlich ahnen, daß dieser auf seinem Rachefeldzug Nägel mit Köpfen machen und sich nicht damit zufrieden geben dürfte, lediglich Schicksalsgenossen zu beseitigen oder die Fäden zu durchtrennen, die ihn zeit seines Lebens gesteuert haben, sondern daß er jene Fäden hochzuhangeln versucht, um mindestens die Hand desjenigen, der ihn gelenkt hat, abzuschlagen.

Wie es tatsächlich weitergeht mit "Wolverine: Origins" erfahrt ihr demnächst an gewohnter Stelle. Bis dahin habt ein wenig Geduld und die Gelassenheit eines Samurai ...

Euer Marvel-Broker

17. September 2007


Wolverine: Origins 1 - Blutige Geburt
PANINI Verlags GmbH
Autor: Daniel Way
Zeichner: Steve Dillon
Format: 52 Seiten, farbig, Heftformat
Erscheinungstermin: Jan 2007
Preis: 3,95 Euro