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THEORIE/006: "Rinnstein" - Spannender Schauplatz zwischen zwei Bildern


Was spielt sich zwischen den Bildern eines Comics ab?


Wer sorgt eigentlich dafür, daß die einzelnen Bilder eines Comics zu einer sinnvollen Story zusammengefügt werden? Zunächst einmal natürlich Zeichner und Autor, danach jedoch, jedesmal wenn der Comic aufgeschlagen und gelesen wird, wieder neu - der Leser. Im Comic kommt dem Leser, im Unterschied zu anderen Medien, wie etwa dem Film, eine sehr aktive Rolle zu. Und nur wenn er bereit dazu ist, diese Rolle zu übernehmen, kann eine Geschichte immer wieder neu entstehen.

Man fragt sich, wie es möglich ist, daß einander völlig fremde Menschen - Zeichner/Autor und Leser - einen so zuverlässig funktionierenden Konsens herstellen können. Hierfür gibt es zwei Gründe: Zum einen, und dies ist wohl der Hauptgrund, hat der Mensch grundsätzlich das Bedürfnis, Zusammenhänge und Beziehungen zwischen allen möglichen Dingen zu konstruieren, zum anderen benutzen bzw. kennen Zeichner und Leser dieselbe, in ihrem gemeinsamen Kulturkreis gewachsene Symbolsprache. Mit der Symbolsprache eines anderen Kulturkreises würden sich schon gewisse Schwierigkeiten und Unsicherheiten in der Interpretation ergeben, wie man beispielhaft an den in den letzten Jahren boomenden Mangas nachvollziehen kann, mit denen ein Neuling zu Beginn nicht so ohne weiteres zurechtkommt.

Stellen wir uns als Beispiel einmal zwei Bilder vor: In dem ersten sitzt ein Autofahrer am Steuer seines Wagens und trinkt dabei aus einer Flasche. An den Geschwindigkeitslinien ist zu erkennen, daß er fährt. Im zweiten Bild ist ein Kreuz mit Blümchen davor zu sehen. Die meisten werden bei der Betrachtung wohl ganz automatisch einen Zusammenhang zwischen den beiden Bildern herstellen und sich denken, daß der unvernünftige Autofahrer des ersten Bildes einen Unfall hatte und ein tragisches Ende nahm. Doch woher nimmt man eigentlich diese Information? Genaugenommen sind da doch nur zwei Einzelbilder, die nichts miteinander zu tun haben, außer, daß sie zufällig nebeneinander angeordnet sind. Der Unfall selbst ist nirgends zu sehen, man "denkt" ihn sich lediglich, weil man die Informationen, die man präsentiert bekommt, "unvernünftiger Autofahrer" und "Grabstein", miteinander verbindet und daraus den Schluß "Autounfall" zieht.

Dieser Mechanismus ist eine der Grundlagen unseres Alltags- und Soziallebens und uns so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er kaum mehr auffällt. Die Schlußfolgerungen, die man wie selbstverständlich zieht, erscheinen einem so logisch und folgerichtig, daß man sie als gegeben akzeptiert. Man macht sich, um noch einmal auf unser Beispiel zurückzukommen, wenn überhaupt, dann erst im nachherein klar, daß der Autounfall ein Produkt der eigenen Phantasie ist und keine "Tatsache".

Der Comiczeichner hat natürlich eingeplant, daß der Leser sich den Autounfall "denken" wird. Ähnlich diesem Beispiel baut er in seine Story zahlreiche derartige Auslassungen ein. Sie sind für dieses Medium unerläßlich. Man stelle sich nur einmal eine Bildergeschichte vor, in der jede Handlung, jede Bewegung in einem Einzelbild festgehalten ist - sie wäre unendlich lang und unendlich langweilig. Eine Bilderfolge hingegen, in der zuviel weggelassen wird und die deshalb außer dem Zeichner keiner versteht, ist auch nichts wert. Die Kunst besteht deshalb gerade darin, das richtige Maß des "Weglassens" zu finden. Der Leser soll zwar Raum für seine eigene Phantasie haben, aber trotzdem der vorgegebenen Story folgen können. Weder darf man den Leser in einer zu indifferenten oder zu komplizierten Handlung hängenlassen, noch darf man ihm jede Einzelheit vorkauen.

Der Spalt zwischen den Einzelbildern eines Comics, von amerikanischen Fans "Rinnstein" genannt, überbrückt kleine wie große inhaltliche Lücken. Diese Übergänge zwischen zwei Bildern kann man in verschiedene Kategorien unterteilen, die vom Leser jeweils einen unterschiedlich hohen Grad an "Eigenleistung" verlangen:

1. Bei einem Übergang von einem Augenblick zum nächsten, wenn beispielsweise in mehreren aufeinanderfolgenden Bildern die gleiche Person bei ein und demselben Handlungsablauf gezeigt wird, braucht man in in der Regel in seiner Phantasie nur wenig hinzuzufügen. Solche Bilderfolgen, die eine ruhige und besinnliche Atmosphäre vermitteln, eignen sich außerdem gut dazu, Detailinformationen zu übermitteln, die der Leser sonst wahrscheinlich übersehen würde.

Von dieser Regel gibt es natürlich Ausnahmen, etwa wenn ein Übergang von einem Augenblick zum nächsten gezeigt wird, der eher unverhofft kommt. Sieht man beispielsweise im ersten Bild einen Kuchen, der im zweiten Bild nicht mehr da ist, weiß man als Betrachter, daß dafür eine Einwirkung von außen nötig war und wird sich nun fragen, auf welche Weise der Kuchen denn nun verschwunden ist. Hat sich eine hungrige Gästeschar darauf gestürzt, hat der Hund den Kuchen gefressen oder wurde er einfach nur woanders hingestellt? Da bei den Bildern jegliche Einbindung in eine Geschichte fehlt, bleiben die Vorstellungen allerdings vage und unbestimmt und der Leser ist sich, im Gegensatz zu dem "tatsächlich geschehenen" Autounfall, darüber im klaren, daß es sich hierbei um Spekulationen handelt.

2. Etwas größere Sprünge, etwa wenn die handelnde Person von einer Aktion zur nächsten wechselt, erfordern ebenfalls nicht allzuviel Eigenleistung. Bei dieser Form von "gerafften" Übergängen steht die Aktion im Vordergrund, und die Handlung wird vorangetrieben. Trotz des gesteigerten Tempos bleibt der Handlungsablauf jedoch überschaubar.

3. Bildübergänge, die sich innerhalb eines Handlungsablaufs befinden und hier von einer Person oder einem Gegenstand zum nächsten wechseln, verlangen dem Leser schon mehr ab. Er muß eine ganze Menge dazu beitragen, die Übergänge mit Bedeutung zu füllen. Zu dieser Kategorie gehört unser Beispiel vom Anfang mit dem unvernünftigen Autofahrer.

Gerne werden auch "Überraschungeseffekte" verwendet, mit denen der Zeichner witzige oder auch dramatische Akzente setzt, indem er eine bestimmte Situation, die der Leser vom Handlungsablauf her erwartet, gerade nicht eintreffen läßt - etwa wenn bei einer Verfolgungsjagd der Verfolger um eine Ecke biegt und an Stelle des (von ihm und vom Leser erwarteten) Gejagten dort ein Monster steht, ein Abgrund sich auftut etc. ...

4. Eine weitere Steigerung bedeuten die Sprünge, die von einer Szene zur nächsten führen, denn hier wechseln unter Umständen die Handelnden und die Umgebung. Hier kommt es besonders auf die Erfahrung von Zeichner und Autor an, die darauf achten müssen, daß der Leser den Faden behält und nicht zu wilde Übergänge entstehen.

5. Eine weitere reizvolle Möglichkeit der inhaltlichen Gestaltung besteht darin, verschiedene Aspekte, etwa eines Ortes oder auch einer bestimmten Stimmung, in mehreren aufeinanderfolgenden Bildern darzustellen. Diese oftmals ruhigen und stimmungsvollen Übergänge, die wie Filmeinstellungen anmuten, sind ein besonderes Charakteristikum des japanischen Comics und werden dort viel verwendet. Ein interessanter Effekt an ihnen ist, daß die Zeit dem Leser wie "eingefroren" erscheint, denn er sieht nacheinander denselben Moment aus verschiedenen Blickwinkeln.

Diese "Zeitlosigkeit" ist übrigens nur eine der vielen Spielarten, in denen Zeit im Comic dargestellt wird; das Thema "Zeit" soll deshalb in einem späteren Beitrag gesondert behandelt werden.

6. Fast ausschließlich in Experimental-Comics und auch dort eher als Ausnahme trifft man die Übergänge an, die eigentlich gar keine sind, weil die Bilder wirklich ohne jeglichen inhaltlichen Zusammenhang nebeneinander stehen. Ein gewisser formaler Minimal- Zusammenhang besteht zwar darin, daß die Bilder in denselben Comic eingebunden sind, aber für das Verständnis der Handlung ist es unerheblich, ob und welche Assoziationen der Leser hat. Da man als Konsument in der Regel eher das Bedürfnis hat, geführt und geleitet zu werden, sind einem diese Bildfolgen in der Regel unangenehm und man kann nichts mit ihnen anfangen.


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Abgesehen davon, daß es eine ausgesprochen interessante Sache sein kann, sich seine Comic-Sammlung einmal unter diesem Gesichtspunkt anzusehen, steigert sich so ganz nebenbei auch der reine Unterhaltungswert beim Comic-Lesen, je mehr man in ihnen entdeckt.