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THEORIE/007: Darstellung von Zeitabläufen in Comics


Zeit im Comic


So, wie die Zeit im normalen Leben eher unbemerkt verstreicht, ist sie auch im Comic eine zwar stets vorhandene, jedoch weitgehend unbeachtete Größe. Dabei trägt die gekonnte und durchdachte Gestaltung des Zeitablaufs einen guten Teil zu einem gelungenen Szenario bei. Das sollte Grund genug sein, die vielfältigen Möglichkeiten der visuellen Darstellung von Zeitverläufen in Comics einmal näher zu betrachten.

Dem Zeichner steht eine Vielzahl von Darstellungsmitteln und -tricks zur Verfügung, mit denen er Zeit visuell darstellen kann. Zeit kann "gedehnt" und "gerafft" werden, Zeitlosigkeit kann ebenso dargestellt werden wie das Gefühl, man würde mit einer Zeitmaschine durch die Jahrtausende rasen - nur mit Hilfe visueller Gestaltungsmöglichkeiten. Der Übersichtlichkeit halber haben wir sie in drei Bereiche unterteilt:

1. Darstellung von Zeit durch die äußere Form des Bildes, durch Rahmen, Größe und Anordnung auf der Seite.

2. Verschiedene Möglichkeiten der Darstellung von Zeit innerhalb eines Bildes.

3. Zeitabläufe von Bild zu Bild.


In diesem Beitrag beschäftigen wir uns anhand von einigen Beispielen mit dem ersten Bereich: Darstellung von Zeit durch Form und Anordnung des Bildes.

Ganz allgemein sei hier vorangestellt, daß der Vorgang des Comic- Lesens nur funktioniert, weil Zeichner und Leser etwas voneinander wollen:

Der Leser möchte eine zusammenhängende, verständliche Geschichte lesen und sich dabei möglichst gut unterhalten. Daran hat er, wie wir in den vorangehenden Theorie-Beiträgen schon festgestellt haben, durchaus aktiven Anteil, denn er muß die visuellen Informationen, die die einzelnen Bilder liefern, interpretieren und in einen logischen Zusammenhang bringen. Dazu bedarf es einer gewissen Grundkenntnis von bildlichen Symbolen, ohne die er die Bedeutung der Bilder selbst beim bestem Willen nicht verstehen würde.

Der Zeichner verfolgt ebenfalls eine bestimmte Absicht, er möchte in der Regel, daß seine Story beim Leser so unverfälscht wie irgend möglich - das heißt so, wie er sie "gemeint" hat - ankommt. Das wird umso besser gelingen, je gezielter er seine Kenntnisse der Wahrnehmungsmechanismen einsetzt, den Leser also so manipuliert, daß dieser die bildlichen Symbole genau so wahrnimmt und interpretiert, wie der Zeichner es beabsichtigt.

Die Interpretation von Zeitabläufen ist nur ein kleiner Teil aus der Unmenge an visuellen Informationen, deren Ergebnis eine zusammenhängende Comic-Story sein wird.

Da man für das Lesen und Erfassen einer Bilderfolge eine gewisse Zeit benötigt, entsteht ein erster Zeiteindruck schon dadurch, daß der Leser die Bildfolge der Reihe nach betrachtet. Weiter verfügt er über seinen eigenen Erfahrungsschatz, von dem er abruft, welche Dauer der dargestellte Vorgang in der Realität hat. Aus beidem setzt er sich dann sein subjektives Empfinden der verstrichenen Zeit zusammen.

Stellen wir uns eine Folge aus drei Bildern vor. Im ersten Bild ist eine Figur zu sehen, die fragend guckt. In einer Sprechblase sind drei Fragezeichen zu sehen. Im zweiten Bild kratzt sie sich am Kopf und im letzten Panel sagt sie erkennend: "Aha!". Aus Erfahrung weiß der Leser, daß der Zeitraum, der zwischen dem ersten und dem dritten Bild verstreicht, nicht allzu lang sein kann.

Durch die Veränderung der Form eines Bildes und seines Rahmens kann der Zeichner das Zeitmaß nun in seinem Sinne verändern. Macht er das mittlere Bild schmaler, wird der Zeitraum, den die Figur zum "Kopfkratzen" benötigt, kürzer, gestaltet er ihn länger und setzt die Figur nach links, so daß sich rechts von der Figur ein Stück leerer Raum befindet, scheint die verstrichene Zeit länger geworden zu sein.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, ein Bild ganz oder teilweise ohne Rahmen zu lassen - es wird dadurch aus dem Zeitablauf des übrigen Geschehens herausgehoben, was den Eindruck von "Zeitlosigkeit" vermittelt. Auch durch einen besonders dicken, auffälligen Rahmen wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf dieses eine Bild gelenkt und bewirkt so eine Verlängerung der Zeitempfindung.


Kommen wir nun zur Darstellung von Zeitabläufen durch die Anordnung der Bilder im Gesamtaufbau einer Seite:

Ein beliebtes darstellerisches Mittel sind sogenannte "stumme" Bilder ohne Sprechblasen, die höchstens mit einem erläuternden Text versehen sind und von ihrem Inhalt her keinen Hinweis auf ihre Dauer geben - zum Beispiel eine Person, die an einem Regentag zum Fenster hinauschaut, eine Landschaftsszene, die in die Ferne schweifen läßt, usw. Die Wirkung solcher Bilder, die gerade wegen ihrer Unbestimmtheit beim Leser oft tiefen Eindruck hinterlassen, läßt sich durch einen Trick noch weiter steigern: Setzt man das Bild angeschnitten an einen Außenrand, so daß es nach dort keine Begrenzung hat, scheint das Bild und mit ihm die unbestimmbare Zeit gewissermaßen über den Rand "hinauszufließen". Der eigentümliche und nachhaltige Eindruck von Zeitlosigkeit, der beim Leser hervorgerufen wird, erhöht sich dadurch enorm. Solche Bilder, die Stimmung und Atmosphäre ganzer Szenen oder Schauplätze hervorrufen können, gehören zu den subtil eingesetzten und eher unbewußt wahrgenommenen Details. Man empfindet zwar die Stimmung, ist sich aber über die Funktion des Bildes als Auslöser nicht im klaren.

Schnelle, rasante Zeitverläufe werden in Comics häufig durch schräg verlaufende Bilder oder Bilderzeilen deutlich gemacht. Dadurch soll Dynamik und Geschwindigkeit symbolisiert werden. Auch Bilder, die beispielsweise eine gezackte Außenform haben oder ihren Rahmen sprengen, haben eine dynamisierende Wirkung.

Eine besonders wirkungsvolle Erzähltechnik besteht darin, parallel verlaufende Handlungen zu konstruieren und bildlich darzustellen, was Spannung und Dramaturgie einer Geschichte enorm steigern kann. Gerade bei dieser Darstellungsweise arbeitet der Autor damit, daß der Leser aus dem, was er auf den Einzelbildern sieht, Schlüsse zieht und logisch kombiniert. Der Leser fügt einzelne "Puzzleteile" zu einem Ganzen zusammen, wobei der Zeichner die Vorgaben macht, indem er mit visuellen Mitteln die Reihenfolge der zusammenzusetzenden Bausteine angibt.


Hierfür nun als Beispiele ein einfacher und ein komplex konstruierter Parallel-Verlauf von Handlung und Zeit:

Durch die Verwendung eines Bildformates, das eine ansonsten regelmäßige Anordnung in Zeilen durch ein schmales, senkrecht über die ganze Seite verlaufendes Bild rechts auf einer Comicseite unterbricht, konstruiert der Zeichner den Verlauf von zwei parallelen Handlungs- und Zeitverläufen. Das lange Format des Bildes bedeutet, daß sich der Zeitverlauf des in ihm dargestellten Inhalts über die gesamten drei Zeilen erstreckt: Im rechten Bild könnte man sich einen Bankräuber vorstellen, der mit einer Pistole alles in Schach hält, während in den Bilderzeilen gezeigt wird, wie die Kundschaft ängstlich die Hände hebt und der Bankangestellte hastig das Geld einpackt.

Beim "Avantgarde-Bildaufbau" (bekannt aus Theorie/005) verlaufen oftmals mehrere Handlungs- und Zeitstränge nebeneinander, was durch verschiedene Bilder, die einander überlagern, visualisiert wird. Ein großes Bild im Hintergrund würde beispielsweise das Umfeld der Handlung beschreiben, zum Beispiel ein Stadtpanorama. Mehrere darüber gesetzte, längliche Bilder könnten Einblick in drei Wohnungen und ihre Bewohner geben, wobei ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den gezeigten Personen besteht, beispielsweise, daß sich alle für eine Party zurechtmachen. Ein kleineres, viertes Bild zeigt wiederum eine Fortsetzung zum vordersten, länglichen Bild, in dem der Betreffende verstohlen ein Messer einsteckt. Der Leser wird vermuten, daß auf der Party, zu der alle gehen werden, jemand umgebracht werden soll ...