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BERICHT/032: Der Bildungsbegriff im Internetzeitalter (UNESCO heute)


UNESCO heute 1/2008 - Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission

Bildung im Stand-by-Modus?

Zum Bildungsbegriff im Internetzeitalter

Von Hermann Engesser


Immer mehr Studierende können dem gesprochenen Wort in Vorträgen nur noch dann folgen, wenn es multimedial unterstützt wird. In diesem "PowerPointilismus" zeigt sich beispielhaft der Übergang vom Lesen und Zuhören zum Schauen. Mit dem stürmischen Wachstum des Internets hat sich auch der Bildungsbegriff verändert. Professionalisierung gewinnt an Bedeutung.


Der Weg in die Wiki-Welt

Seit der Aufklärung hat das Buch eine besondere Bedeutung bei der Organisation, Verteilung und Vermittlung von Bildung und Wissen für die bürgerliche Gesellschaft. Standardwerk der Aufklärung wurde das von D. Diderot und J. le Rond d'Alembert herausgegebene Werk "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers", das von 1751 bis 1780 in 35 Bänden erschien. Etwa 60.000 durch ein Verweissystem vernetzte Stichwortbeiträge spiegelten das "gebändigte" Wissen der damaligen Zeit. Ähnliche Digitale Medien in der Bedeutung errangen die von W. Smellie 1768 bis 1771 herausgegebene Encyclopaedia Britannica und das von F.A. Brockhaus ab 1805 verlegte Konversationslexikon. Während die gedruckte Version der Encyclopaedia Britannica bereits in den 1990er Jahren herbe Umsatzrückgänge hinnehmen musste und nach 1995 keine Neuauflage mehr gedruckt wurde, schaffte es die "gedruckte" Brockhaus-Enzyklopädie gerade noch ins neue Jahrtausend.

Zum Jubiläum im Jahr 2005 startete der Verlag die Auslieferung der 21. Auflage. Multimediale Versionen wurden parallel dazu im Internet und auf Speichermedien angeboten. Vor einigen Wochen erklärten die Lexikonmacher aus Mannheim, dass es keine weitere Auflage in gedruckter Form mehr geben werde, da es nicht mehr genügend Käufer gebe. Man werde die Brockhaus-Enzyklopädie nur noch im Internet "lesen" können.

Im neuen Jahrtausend wurde ein neues, die interaktiven Möglichkeiten des Internets nutzendes lexikalisches Wissensprojekt gestartet, die Wikipedia. Zu der 2001 verwirklichten internationalen Internet-Enzyklopädie kann grundsätzlich jeder als Autor sein Wissen beitragen. Nach eigenen Angaben schreiben 285.000 angemeldete Autoren regelmäßig für die Wikipedia. Bis jetzt wurden in der Wikipedia über zehn Millionen Beiträge in mehr als 250 Sprachen gespeichert. In deutscher Sprache sind mehr als 700.000 Artikel vorhanden. Sämtliche Inhalte stehen unter der Maßgabe, dass sie von jedermann unentgeltlich genutzt, verändert und verbreitet werden können. Im Gegensatz zur klassischen Enzyklopädie, in der wenige Spezialisten schreiben, publizieren in der Wikipedia viele Leser ihr Wissen. Eine Qualitätssicherung ist in dieser freien Internet-Enzyklopädie nur dadurch gegeben, dass Fehler oder Manipulationen in Wortbeiträgen irgendwann Nutzer finden, die es besser wissen und korrigieren.


Wissen wird flüchtig

Über die Jahrhunderte hat sich ein riesiger Schatz an Wissen auf Buchseiten angesammelt. Beinahe das gesamte Wissen der Menschheit ist in Büchern gespeichert und für die Zukunft archiviert. Auch dies ändert sich. Wir sind weit davon entfernt, anzunehmen, dass das im World Wide Web vorhandene Wissen für Jahrhunderte vorgehalten wird. Im Gegenteil, bereits nach wenigen Monaten können Webseiten verschwunden sein. Auch die Zugangsbedingungen können sich ändern, oder der gesuchte Inhalt ist nicht mehr unter dem ursprünglichen Link erreichbar, sondern auf einer neuen Webseite mit anderer Adresse. Möglich ist ferner, dass sich das Gesuchte zwar auf der ursprünglichen Webseite befindet, jedoch verändert wurde. Bei der Archivierung digitaler Wissensinhalte geht es also darum, Authentizität, Integrität und Funktionalität der Inhalte langfristig zu garantieren. Die aus der Welt der Bücher stammende internationale Standardbuchnummer ISBN wurde 1998 durch den Document Object Identifier (DOI) ergänzt, der das Auffinden von digitalen Inhalten ermöglicht, auch wenn sich die Informationen über das entsprechende Objekt im Laufe der Zeit verändert haben.

Mit dem Internet ändert sich die Bedeutung von Bildung und der sie ermöglichenden und begleitenden Medien radikal. Die Wissensinhalte sind nun auf einem Bildschirm anzuschauen. In der digitalen Welt fluten Buchstaben und Bilder auf dem Bildschirm am Betrachter vor bei. Der Effekt, der sich beim Lernen mit einem Buch einstellt, dass nämlich der Ort des Gelernten, ob das Gelernte vorne oder hinten im Lehrbuch stand, "automatisch" mitgelernt wird, und ein gelernter Sachverhalt, den man vergessen hat, dadurch wieder aufgefunden werden kann, stellt sich beim Lernen mit elektronischen Systemen nicht mehr ein, da es dort kein "vorne" und "hinten" gibt.

In der Welt des globalen Informationsaustauschs verlieren regionale oder nationale Ausprägungen verlässlicher Bildungsideale an Gewicht. Es stellt sich der kleinste gemeinsame Nenner der Soft Skills ein, durch den Kommunikation und Kooperation ohne Grenzen ermöglicht werden. Da gleichzeitig die Innovationszyklen in immer kürzerer Zeit ablaufen, reicht es in vielen Disziplinen nicht mehr aus, ein Leben lang auf einmal Gelerntes zu vertrauen. Man muss ständig in der Lage sein, Gelerntes falls erforderlich zu entsorgen und Neues zu lernen. Bei diesem Lifelong-Learning haben interaktive Lernumgebungen viele Vorteile. Ausbildung und berufliche Weiterbildung wachsen zusammen.

Inzwischen wird E-Learning von vielen in Studium und Beruf genutzt. Selbst das Fach- und Lehrbuch findet in seiner elektronischen Form, dem E-Book, große Verbreitung. Die Flexibilität der elektronischen Lernwelt scheint unbegrenzt und zeigt sich in virtuellen Seminaren und Tutorien mit Telekooperation, Televorlesungen, virtuellen Praktika und virtuellen Laborplätzen. Interaktives Lernen ist zeitlich sehr flexibel möglich. Der Lernende kann sich seine Lernzeiten selbst aussuchen. So ist das E-Learning sehr attraktiv für die berufliche Weiterbildung, da der Lernende seine Lernaktivitäten mit seinen beruflichen und privaten Terminen koordinieren kann.


Tore zum Wissen

Der hohe Grad an Vernetzung und das Zusammenwachsen von Festnetzen und mobilen Netzen schaffen neue Möglichkeiten der Information und Kommunikation. Sowohl über den PC als auch über mobile Geräte wie Notebook, Handy usw. kann fast unbegrenzter Datenaustausch erfolgen. Die weltweit verfügbaren Informationen verdoppeln sich in immer kürzeren Zeiträumen von wenigen Jahren. Aber die Informationen im Internet besitzen nur eine kurze Halbwertszeit. Die über 500 Milliarden Webseiten im Internet haben eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa 100 Tagen. Damit wird das Finden einer geeigneten Information zur Hauptaufgabe. Das globale Informationsangebot wird gleichzeitig als Informationsüberflutung und als Informationsmangel wahrgenommen. Suchmaschinen helfen häufig nicht wirklich weiter, da das Angebot des Gefundenen vielfach zu groß ist. In diesem Zusammenhang gewinnen Wissensportale an Bedeutung, da dadurch ein effizienter Zugriff auf das digital vorhandene Wissen und ein sowohl für das Unternehmen als auch für den Einzelnen vorteilhaftes Wissensmanagement möglich wird. Wissensportale, die vor allem in Unternehmen eingesetzt werden, ermöglichen neben der schnellen Verbreitung von Informationen auch die gezielte Suche und die Aufbereitung von Wissen. Ferner stellen sie Anwendungen zur Verfügung, unterstützen Unternehmensprozesse und ermöglichen die Zusammenarbeit und die gemeinsame Wissensnutzung über Abteilungs- oder gar Unternehmensgrenzen hinweg, sie erzeugen somit im Unternehmen einen permanenten Lernprozess.


Wissen im Stand-by-Modus

Mit der stürmischen Entwicklung der Technik und der Globalisierung haben sich die Schwerpunkte des Wissenserwerbs verschoben. Nicht mehr der Bildungsbürger, der auch Interessen an zweckfreiem Wissen pflegte, steht im Vordergrund. Ihn hat der Professional abgelöst, der virtuos die Techniken der digitalen Welt beherrscht. Mit den elektronischen Medien lässt sich explizites oder explizit gemachtes Wissen digital erfassen, managen und mit Suchmaschinen wiedergewinnen. Für den Professional kommt es darauf an, zur rechten Zeit den Zugang zum Wissen zu haben, um es optimal gewinnen und nutzen zu können. Wenn das Wissensmanagement immer effektiver wird, wandert immer mehr Wissen ins Netz. Es ist für den Menschen im Stand-by-Modus vorhanden. Der Mensch in der Wissensgesellschaft benötigt im Wesentlichen das Wissen über die Zugangsmechanismen zum "elektronischen" Wissen. Ob dies wirklich ausreicht, wenn man das in Giga- und Terabytes gemessene Datenuniversum des Internets betrachtet, ist zu hinterfragen. Unabhängig von der Medienkompetenz scheint ein zweckfreies Basiswissen unverzichtbar, um für den unvorstellbar großen Datenozean überhaupt sinnvolle Fragen zu finden. Hierfür dürfte der humanistische Bildungshintergrund nach wie vor eine gute Wahl sein.


Digitale Medien in der Hochschule
www.e-teaching.org

Das frei zugängliche Portal e-teaching.org bietet auf über 1000 Seiten wissenschaftlich fundierte Informationen und praxisorientiertes Wissen zur Nutzung digitaler Medien in der Hochschullehre. Dozenten finden hier Materialien und Praxisbeispiele zu methodisch-didaktischen, technischen, gestalterischen und organisatorischen Aspekten von E-Teaching. Der "NotizBlog" informiert täglich über neue Inhalte und aktuelle Nachrichten aus dem Bereich E-Learning. Regelmäßig finden Online-Events wie Live-Webcast oder Chats mit E-Learning-Experten statt. Über 50 Partnerhochschulen geben auf dem Portal Einblick in ihre E-Learning-Aktivitäten.

Das Portal e-teaching.org wurde von der Bertelsmann Stiftung und der Heinz-Nixdorf Stiftung 2002 initiiert. Das Institut für Wissensmedien in Tübingen wurde mit der Konzeption, redaktionellen Betreuung und Evaluation des Portals beauftragt. Finanziert wird das Portal vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg. Verbunden mit der Finanzierung ist der Auftrag, ein Landesportal zur Darstellung der E-Learning-Aktivitäten der Hochschulen Baden-Württembergs zu entwickeln.


Hermann Engesser ist Programmleiter für den Bereich Informatik beim Springer-Verlag Heidelberg und Chefredakteur der Zeitschrift Informatik-Spektrum.


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Quelle:
UNESCO heute, Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission
Ausgabe 1/2008, S. 16-18
Herausgeber: Deutsche UNESCO-Kommission e.V.
Redaktion: Colmantstraße 15, 53115 Bonn
Tel.: 0228/60 497-0, Fax: 0228/60 497-30
E-Mail: sekretariat@unesco.de
Internet: www.unesco.de, www.unesco-heute.de

UNESCO heute erscheint halbjährlich.
Bezug frei.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2008