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MEDIEN/146: Die Abschaffung des Journalismus (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2008

Die Abschaffung des Journalismus

Von Michael Schornstheimer


Wir leben in einer modernen Informations- und Mediengesellschaft und fühlen uns dabei großartig. Je umfassender wir informiert werden, desto besser scheinen wir für die Zukunft gewappnet zu sein. Doch der ständige Informationsregen, der auf uns niederprasselt, lenkt davon ab, wie wenig wir in Wirklichkeit wissen. Erwin Chargaff der Biochemiker und Zivilisationskritiker, hat die paradoxe These formuliert, das Gegenteil von Wissen sei nicht Unkenntnis, sondern Information.


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Handwerk bedeutet den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Dieser Wunsch kann nicht nur durch Konkurrenzdruck Schaden nehmen, wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett ausführt, sondern auch durch neue Rahmenbedingungen, die den Vorsatz, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen, im Keim ersticken.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Literaturkritik: Lange war es z.B. in den Kulturprogrammen des Hörfunks üblich, ein Buch kritisch zu besprechen und dabei Ablehnung oder Lob eingehend zu begründen. Das brauchte Platz und Zeit. Seit den 90er Jahren machten sich mehr und mehr Redakteure die Überlegung zu eigen: "Wie sollen wir die Hörer um Aufmerksamkeit bitten, wenn wir zum Schluss zu einem ablehnenden Urteil oder gar zu einem Verriss kommen? Enttäuschen wir damit nicht die Zuhörer?" Aus solchem Dienstleistungs- und Konsumgeist mutierte die Literaturkritik zum Literaturtipp, die Musikkritik zur Konzertkartenverlosung, die Filmkritik zum Lifestyle-Bericht über das Defilee auf dem roten Teppich.

Sechsminütige, differenzierte, manchmal geistreiche Buchkritiken wichen so innerhalb weniger Jahre zweieinhalbminütigen Inhaltsangaben, die überdies mit Zitaten oder Statements der Autoren anzureichern sind. Mehr und mehr junge Journalisten empfinden es als zutiefst überflüssig, ein Buch, das sie vorstellen sollen, auch zu lesen. Einfacher und schneller ist es doch, dem Autor das Mikrophon hinzuhalten und ihn selbst etwas über sein Buch sagen zu lassen. Solche Reklameclips müssten eigentlich von den Marketingabteilungen der Buchverlage verwaltet und bezahlt werden.

Zeitschriften arbeiten ähnlich: Kommt ein neuer Film in die Kinos, werden die Hauptdarsteller nicht etwa zu ihrer Rolle und den Dreharbeiten befragt, sondern zu ihrem aktuellen Liebesleben: Gehen sie gerade fremd oder sind sie treu? Haben sie noch Sex oder spielen sie schon Golf? Frauenzeitschriften buchen die Schauspielerinnen, die gerade sind, mit Vorliebe als lebende Kleiderständer für Modestrecken, natürlich an exotischen locations. Die begleitenden Interviewtexte enthalten so viel Schaum wie der unvermeidliche latte macchiato, der zum Gespräch im Szenecafé serviert wird. Diese Art der Berichterstattung betrifft nicht nur Stars und Sternchen, sondern auch gestandene Politiker: Als Joschka Fischer gen Princeton, New Jersey, enteilte, um seinen Lehrauftrag am 'Institute for Advanced Study' anzutreten, interessierte sich die Illustrierte 'Stern' weder für die außenpolitische Bilanz noch die Vorlesungen des Ex-Vizekanzlers, sondern für den Inhalt seines Reisegepäcks: Weine deutscher Winzer.


Format und Gesprächswert

Seitdem Artdirektoren offenbar die Macht auf den publizistischen Führungsetagen übernommen haben, sehen viele Blätter erschreckend ähnlich aus. Nichts gegen die Schauspielerin Nina Hoss! Aber müssen alle Zeitungskioske mit ihren Fotos zugepflastert sein, wenn ein neuer Film mit ihr in die Kinos kommt? Der Zwang zu Uniformität und mainstream ist leider hoch ansteckend. Das Virus breitet sich überall aus. Auch in Hörfunkredaktionen, wo es (noch) keine Artdirektoren gibt, scheinen sie bereits zu herrschen. Ahnungslose Jungredakteure hecheln den Schlagzeilen von gestern hinterher. Sie wollen keine neuen Menschen und Themen entdecken, sondern bekräftigen das Bekannte, Bewährte, Prominente. Originalität erweist sich demnach nicht durch Abweichung, sondern durch Übereinstimmung. Die Bedeutung eines Themas bemisst sich an der Trefferzahl bei google.

Zurück zur Hochkultur: Das Zurückstutzen der Kulturkritik auf konsumkompatible Kaufempfehlungen ist kein vereinzeltes Phänomen, sondern hat System. Immer mehr Hörfunk-Kulturprogramme gehen zum sogenannten Formatradio über. Das klingt, als ob man mit der Kettensäge alle Pfeifen einer Orgel auf gleiche Höhe stutzt. Auf jeder Frequenz ertönt derselbe, gleichförmige (Miss-)Ton. Egal wie bedeutend eine Inszenierung, ein Film, eine Ausstellung oder eine Diskussionsveranstaltung auch sein mag, die Berichte darüber dürfen nur noch eine exakt festgelegte Länge haben, vier Minuten oder gar zwei Minuten dreißig. Autoren zerbrechen sich nicht mehr den Kopf über die Frage: "Habe ich das Thema interessant und verständlich dargestellt?", sondern sie zittern: "Hoffentlich bin ich nicht zu lang!" Auf Konferenzen wird nicht mehr über Inhalte diskutiert, sondern über den "Gesprächswert". Und es wird nach Sekunden gezählt. Vor einigen Jahren hatten die meisten Sender noch mehrere thematische Magazine, die über den Tag verteilt waren: Die Redakteure konnten relativ autonom über die Themen und die Ausführlichkeit der Darstellung entscheiden. Von diesen markanten Eigenheiten sind viele Kulturprogramme inzwischen befreit. Die tagesbegleitenden Sendeplätze heißen jetzt im internen Jargon "Fläche", womit die damit einhergehende Verflachung unfreiwillig präzise beschrieben ist. All dies geschieht selbstverständlich mit Rücksicht auf "den Hörer", den sich die verantwortlichen Reformer offenbar als halb debiles Wesen vorstellen. Angeblich kann er zusammenhängende Worte nur in kleinen Portionen aufnehmen und muss durch anschließende musikalische Berieselung sofort wieder entspannt werden.


Ick bün all door

Einher mit diesen Veränderungen geht das Versprechen von mehr Modernität und vor allem Aktualität. Seitdem es Medien gibt, standen ihre Macher schon immer unter dem Druck, schnell sein zu müssen. Wer als erster eine bedeutende Nachricht melden konnte, landete einen scoop. Aber abgesehen davon, dass heute mancher scoop im einlullenden Dudel der Einheitsfläche untergeht, sehen sich immer mehr Redakteure gezwungen, Berichte über Ereignisse zu bringen, bevor sie sich ereignet haben. Da sie sich ja kaum noch durch die Themenwahl unterscheiden, müssen sie sich durch Geschwindigkeit profilieren. Also werden Bücher besprochen, bevor sie offiziell erschienen sind. Kaum jemand hält sich mehr an Sperrfristen. Veranstalter schließen mit lokalen Medien Kooperationsvereinbarungen. Beide Seiten versprechen sich davon in 'McKinsey'-Manier sogenannte Synergieeffekte. In Wirklichkeit geht es um Werbung auf Gegenseitigkeit. Die betreffenden Medien dürfen vorab, noch vor der offiziellen Eröffnungspressekonferenz, berichten: natürlich wohlwollend bis jubelnd. Schnell verspielen sie dabei ihre über lange Zeit gewachsene Reputation. Man erinnere sich nur an die legendäre Doppelseite, die FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher Bernd Eichingers berüchtigtem Hitlerfilm 'Der Untergang' widmete. Schirrmacher war zu einer privaten Voraufführung eingeladen worden und verstieg sich danach in verquaste "Meisterwerk-Elogen", die bei vielen, die den Film später sahen, nur noch mitleidiges Kopfschütteln auslösten.

Weil jeder der Erste sein will und sein muss, werden Jubiläen und Jahrestage wie selbstverständlich einige Tage, mitunter auch einige Wochen vor dem Stichtag abgefeiert. Die Nachrufe auf prominente Zeitgenossen werden schon zu deren Lebzeiten geschrieben. Und auch über mehrtägige Konferenzen lässt sich berichten, noch bevor sie begonnen haben - die "Positionen" der bekanntesten Teilnehmer sind ja im Internet nachlesbar. "Vorabbericht" heißt diese Unsitte des modernen Journalismus, dem oft weder ein Haupt- noch ein resümierender Schlussbericht folgt.

Noch einfacher, schneller und billiger kommen Zeitungen, Zeitschriften und Radiosender zu ihren Inhalten, indem sie Buchautoren, Ausstellungskuratoren, Veranstaltungsdirektoren und Universitätsprofessoren zu Gastbeiträgen einladen. Dann spielen Zeilenanzahlen oder Sendeminuten plötzlich keine Rolle mehr. Der Studiogast darf von seinen natürlich "wahnsinnig erfolgreichen Projekten" schwadronieren, ohne dass ihm die Moderatoren und Moderatorinnen wirklich Paroli bieten. Dafür haben sie bei ihrer Vorbereitung nicht genügend Zeit, dafür werden sie auch nicht bezahlt. Das Studiogespräch bzw. der geschriebene Gastbeitrag in eigener Sache, früher eher die Ausnahme, avanciert mehr und mehr zur Normalität. Manche Programme sind inzwischen so niedrig budgetiert, dass sie auf die Gastbeiträge angewiesen sind. Der Studiogast wiederum eilt in freudiger Hoffnung auf publicity bereitwillig zu jeder Tages- und Nachtzeit ins Funkhaus und kostet in der Regel nichts. Der journalistisch recherchierte und fundierte Beitrag, der bezahlt werden muss, wird überflüssig.


Die Welt in einer Minute

Zu Zeiten der Brüder Grimm war eine Nachricht die "mitheilung einer begebenheit", zum "danachrichten". Seitdem die (elektronischen) Medien glauben, Nachrichten im Stunden-, Halb- oder Viertelstundentakt senden zu müssen, gibt es zu wenig Neues, das mitzuteilen wäre, um sich danach zu richten. Infolgedessen packen sie komplexe Sachverhalte der Außen- und Innenpolitik ins 1:30' Nachrichtenformat, blitzlichtartig illustriert von Grafiken, die in dieser Kürze kein Mensch lesen, geschweige denn behalten kann, angereichert mit Ein-Satz-Originaltönen, die so schnell an einem vorbeirauschen, wie ein ICE am Dorfbahnhof.

Man wage den Selbstversuch und fasse den Inhalt einer Tagesschau in eigenen Worten nach der Wetterkarte zusammen. Es wird kaum etwas von Substanz hängengeblieben sein. Doch nicht unser miserables, analog konstruiertes Gedächtnis ist daran schuld, sondern die Darbietungsform. Oder man verordne sich für begrenzte Zeit eine Medien-Diät oder -abstinenz. Selbst ein ausgewiesener Nachrichtenjunkie wird dann staunen, wie wenig er verpasst hat. Mit ihren Live-Aufsagern vom Börsenparkett und den Direktschaltungen zu den Korrespondenten suggerieren die Medien, wir könnten die Welt besser verstehen und uns sicherer in ihr bewegen. Aber erst wenn wirklich etwas passiert, ahnen wir, dass wir einer Illusion erlegen sind.

Dennoch sehen die Medien in komplexen Kurznachrichten mehr und mehr das Non-plus-ultra des zeitgemäßen Journalismus. Zeitungen reservieren ihnen ganze Spalten, und die Info- und Kulturradios versuchen sich - nach der Maxime "Es geht immer noch kürzer" - mit aktuellen Nachrichtenminuten gegenseitig zu übertrumpfen. Dabei erweisen sie sich als gelehrige Schüler des Leitmediums Fernsehen. Bei dem einminütigen Kulturbeitrag geht es nicht mehr nur um die Nachricht, dass zum Beispiel ein bedeutender Zeitgenosse gestorben ist - das entspräche der Grimmschen "mitheilung zum danachrichten" -, sondern ganze Filme, Bücher, Ausstellungen und Festivals sollen in 60 Sekunden abgehandelt werden, selbstverständlich mit Originaltönen. Solche Info-Clips haben nichts mehr mit journalistischem Handwerk zu tun, sondern entsprechen der industriell gefertigten Wegwerfware. Aber da nach den Resultaten der Marktforscher die Hörer das Radio sowieso nicht mehr gezielt einschalten, werden sie es vielleicht auch nicht gezielt abschalten, sondern als "Tagesbegleitprogramm" im Hintergrund weiterdudeln lassen. Da stört auch der Geräuschteppich Kulturnachrichten nicht weiter.


Markt und Quote

Fernsehen und Rundfunk haben sich seit der Zulassung von Privaten dem Diktat der Quote ausgeliefert und korrigieren seitdem ihre Qualität permanent nach unten, statt sie selbstbewusst zu verteidigen. Zeitungen und Zeitschriften bemessen ihren Erfolg nach der verkauften Auflage und den durch Anzeigen erzielten Werbeeinnahmen. Doch in manchen Zeitschriften fällt es mitunter schwer, zwischen all den Anzeigen noch redaktionelle Beiträge zu entdecken - und dann geht es oft um Autos, Reise, Köche oder Computer, also um Konsum. Immer schwieriger wird es, redaktionelle Texte von Werbung zu unterscheiden. Neben dem journalistischen Literaturtipp steht die Anzeige des Verlags, meist mit Zitaten aus Literaturtipps der Rezensenten. Die Werbung imitiert den journalistischen Stil, und die Grafiker präsentieren die redaktionellen Texte nach allen Regeln der PR-Kunst.

Lesen wir nochmal bei Erwin Chargaff nach: "Ich glaube, dass die so oft und so laut bezeugte Freude an der Leichtigkeit, mit der heutzutage Informationen erzeugt und verbreitet werden, von den Erfindern und Betreibern der dazu notwendigen Maschinerie herkommt, und nicht von den Leuten, denen sie angeblich zugedacht sind." Chargaff nannte sich einen schwarzen Pessimisten. Aber irgendwo hat er auch notiert, dass nur der schwärzeste Pessimist in der Lage sei, zu hoffen.


Michael Schornstheimer (*1956) ist Soziologe und freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist, vorwiegend für den ARD-Hörfunk und 'Deutschlandradio Kultur'.
mschornst@aol.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2008, S. 61-64
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2008