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MEDIEN/158: Transnationale Low-Budget-Filme und ihre Grenzpraktiken (ROSA)


ROSA:39 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - September 2009

Weder von hier noch von dort

von Seraina Rohrer


Die Grenzregion zwischen den USA und Mexiko dient seit Jahren als beliebter Schauplatz für zahlreiche Filme. Das Spektrum reicht von Dramen, über Actionfilme, Western, Komödien bis hin zu Kunstvideos. Sie alle verbindet der Hang zu körperlichen Exzessen; die weiblichen Figuren überqueren mit überschwänglichem Einsatz die Grenze, sie werden brutal vergewaltigt, mit ihren Organen wird gehandelt, oder sie werden selbst zu Aggressorinnen.


Täglich überqueren tausende Menschen legal und illegal die Grenze zwischen Mexiko und den USA. 2008 belief sich die Zahl auf 2.5 Millionen, schätzungsweise 500.000 davon passierten illegal.(1) Die mexikanisch-amerikanische Grenze ist somit die weltweit am häufigsten überschrittene Grenze überhaupt. Bilder der Grenzmauer, der Autoschlangen am Zoll, der kargen Wüstenlandschaft, des Grenzflusses oder der Strassenschilder, die vor Flüchtlingen warnen, zirkulieren seit geraumer Zeit durch die Medien, und sind zu regelrechten Symbolen hochstilisiert worden. Die mit der Überquerung verbundenen Risiken und Hoffnungen, Drogenschmuggel, Prostitution und insbesondere Gewaltexzesse, wie beispielsweise die Frauenmorde in Ciudad Juárez, sind denn auch Filmstoffe, die in den letzten Jahren weltweit ein breites Publikum in die Kinos lockten. Doch welchen Blickwinkel werfen U.S.-amerikanische und mexikanische Filmemacherinnen und Filmemacher auf die Grenze? Welche Genres und Themen stehen im Vordergrund? Und welche Rolle spielt der Körper?


Das amerikanische "Border Cinema": ein erfolgreiches Genre

Eben erst diesen Sommer in den Schweizer Kinos zu sehen war Crossing Over (2009). Wayne Kramer beleuchtet darin die Schicksale unterschiedlichster illegaler Einwanderer und Einwanderinnen in den USA. Darunter die junge Mexikanerin Mireya Sanchez (gespielt von Alice Braga), die versucht nach einer Deportation erneut in die USA zu gelangen, um dort ihren Sohn zu holen, die ihr Ziel aber nie erreicht. Wochen später wird nur noch ihr lebloser Körper gefunden. Durch eine Verknüpfung unglücklicher Umstände strandet auch die mexikanische Hausangestellte in Alejandro González Iñárritus' Babel (2006) mitsamt den Kindern eines U.S.-amerikanischen Paares mitten in der kargen Wüste im Grenzland; und nur knapp entrinnen sie dem Tod. In Julia (2008) entführt eine Alkoholikerin (gespielt von Tilda Swinton) einen Jungen, flieht über die Grenze nach Mexiko und fordert Lösegeld. Emotionsgeladene Geschichten über das Schicksal von Frauen sind eine neuere Tendenz im Genre des amerikanischen "Border Cinemas". Denn bis in die 1980er Jahre hatte sich das Genre auf männliche Helden versteift, die mit viel Engagement die USA vor fremden Eindringlingen beschützen, und die Werte der amerikanischen Gesellschaft verteidigen: so unter anderem in The Border (1979) von Christopher Leitch oder einer Vielzahl von Western. Eine andere gängige Formel sah so aus: Weibliche Figuren aus dem Süden versprechen den Helden aus dem Norden ein lang ersehntes erotisches Vergnügen und sexuelle Abenteuer fern der Norm. Die Protagonistinnen bestechen mit ihren Körperreizen und verführen damit auch die ZuschauerInnen.


Mexikanischer Blick auf die Grenze

Ein anderes Bild bietet das mexikanische "cine fronterizo", das beinahe ausschliesslich in Ländern Lateinamerikas und in der Grenzregion vertrieben wird. Schon früh für seine schlechte Qualität verschrien, geriet es in die Ungunst der Kritiker und wurde als pure Unterhaltung für die unteren sozialen Schichten abgetan. Den MacherInnen der Filme wurde jegliche künstlerische Ambition abgesprochen, und die Filme bleiben so von Intellektuellen und FilmkritikerInnen ignoriert. Dies zu unrecht, denn die Filme bieten, nebst viel Action und Unterhaltung, mexikanische Heldenfiguren, die im U.S.-amerikanischen "Border Cinema" weitgehend fehlen.


Lastwagenfahrerin und kämpfende Indigene

Auffallend im "cine fronterizo" sind insbesondere die neuen Heldinnen. Die Filme und TV-Serien von "Lola, la trailera" (Lola, die Lastwagenfahrerin) und "La India Maria", einer indigenen Mazahua Frau, zählen laut Statistiken der Videoverleiher und Einschaltquoten der TV-Sender zu den erfolgreichsten mexikanischen Filmen überhaupt. Bis heute geniessen sie insbesondere bei der mexikanischen Unterschicht und bei Emmigrantinnen in den USA grosse Beliebtheit.(2) In Ni de aquí ni de allá (1988) überquert La India Maria die Grenze in die USA, um dort Geld zu verdienen, damit sie sich in Mexiko einen Traktor leisten kann. Die Komödie, bei der die Schauspielerin Maria Elena Velasco auch Regie führte, entpuppte sich als Kassenschlager und lockte in Mexiko gar mehr Zuschauerinnen und Zuschauer ins Kino als der zeitgleich anlaufende Rambo 3. Die auf den ersten Blick naiv wirkende India Maria kann weder Schreiben noch Lesen, und wird in den USA nach Strich und Faden ausgenützt: Sie wird um ihr Gehalt gebracht, von der Mafia und den Einwanderungsbehörden verfolgt und muss für "Kentucky Fried Chicken" als Huhn verkleidet durch Los Angeles tanzen. Doch die anfängliche Unbeholfenheit täuscht, denn als sich La India Maria entscheidet Widerstand zu leisten, fliegen Fetzen: Sie schlägt ihre Gegner, überlistet sie, und lässt sie in die Falle tappen. Die Heldin fährt in Lola la trailera (1983) und der gleichnamigen Serie von Anfang an mit härterem Geschütz auf. In ihrem rosaroten Lastwagen rast sie durch die Grenzregion und kämpft gegen die Kriminalität. Dabei geht sie meist unzimperlich vor, mit überdimensionalen Waffen mäht sie auch mal ganze Drogenkartelle nieder.


Nichts mehr als Stereotypen?

Unkonventionell sind nicht bloss die Filmrollen der Schauspielerinnen Rosa Gloria Chagoyán (Lola) und Maria Elena Velasco (La India Maria). In zahlreichen Interviews und öffentlichen Auftritten forderten sie mehr Rechte für Frauen, oder eine Frau an der Spitze der mexikanischen Regierung. Trotzdem gelang es den beiden nicht, bei einem gebildeten Publikum ernst genommen zu werden. Dies mag unter anderem daran liegen, dass die gesamte populäre Kultur der Grenzregion für die stereotype Darstellungen von Geschlechterrollen seit längerem in Kritik geraten ist. Angeführt von der Feministin Norma Iglesias, warfen zahlreiche Intellektuelle den mexikanischen und US-amerikanischen Produktionen vor, Frauen in der vereinfachten Dichtonomie Huren/Heilige, beziehungsweise Opfer zu portraitieren. Obwohl die Kritik für eine Vielzahl der Filme durchaus berechtigt ist, verkennt sie, dass gerade durch die überspitzte und exzessive Darstellung von Stereotypen diese, und damit auch die etablierten Geschlechterrollen, hinterfragt werden.


Videoessays von Filmerinnen

Fern von jeglichen Stereotypen feierten in den letzten Jahren verschiedene dokumentarische und experimentelle Arbeiten internationale Erfolge. Eines der prominentesten Beispiele ist Performing the Border (1999) der Schweizer Filmemacherin Ursula Biemann. In ihrem Videoessay verhandelt sie Geschlechterrollen und fragt danach, welche Rolle der Körper in der häufig sexualisierten Grenzregion spielt. Mit ihrer Sammlung von Interviews, Texten und Bildern des Alltags wirft sie zahlreiche Fragen auf und regt zum Nachdenken an. Die Filme und Installationen der renommierten Chicana(3) Künstlerin Lourdes Portillo drehen sich häufig um die Grenzregion und die Frage nach weiblichen Identitätskonzepten. In Señoritas Extraviadas - Missing Women (2001) geht sie den bis heute ungelösten Morden an hunderten von Frauen in der Grenzstadt Ciudad Juárez auf den Grund. In Corpus: A Home Movie for Selena (1999) sinniert sie filmisch über das Latino Pop-Idol Selena, die von einem ihrer Fans ermordet wurde.

Egal ob mexikanische Low-Budget-Filme, U.S.-amerikanische Grossproduktionen oder experimentelle Videoarbeiten, die Inszenierung des Körpers spielt in allen Filmen eine Schlüsselrolle. Weibliche Körper dienen häufig als Transportmittel für den Drogenschmuggel, Prostituierte bieten ihren Körper als Ware an, illegale Immigrantinnen flüchten durch die Wüste über die Grenze, und nicht selten endet die Reise mit dem Tod. Organe werden gehandelt, und Körper vernichtet. Die Betonung des Körpers mag daher rühren, dass dieser gewisse Realitäten des Grenzalltags widerspiegelt. Trotzdem sind die Filme aber kein Abbild, vielmehr greifen sie Extremsituationen auf und inszenieren körperliche Exzesse, mit denen es gelingt, Aufmerksamkeit bei ganz unterschiedlichen Publika zu wecken.


Produktionsmekka

Die Grenzregion zwischen den USA und Mexiko bot zudem seit den 1940er Jahren ideale Produktionsbedingungen. Insbesondere für kleinere Familienbetriebe, die nicht selten von Frauen geführt wurden, galt die Region als Alternative zu den Zentren wie Mexiko Stadt oder Los Angeles. Arbeitsgesetze mussten nicht strikte befolgt werden, Arbeitsverträge und -zeiten liessen sich flexibel gestalten, und nicht selten wurden mehrere Filme gleichzeitig gedreht.

Noch bis vor wenigen Jahren wurden die Filme nach der Fertigstellung vorwiegend in Kinos speziell für Immigrantinnen gezeigt. Die Vorführungen glichen häufig regelrechten Festen: In den Kinosälen wurde gegessen, mitgefiebert, und bei Liedern lauthals mitgesungen. Auch die Filme Lola la trailera und Ni de aquí ni de allá basieren auf gleichnamigen "corridos" (populären Volksliedern) und verdanken diesen sicherlich Teil ihres Erfolgs. In den letzten Jahren verschärfte sich jedoch die Gesetzgebung, und regelmässig führt die U.S.-amerikanische Migrationspolizei Kontrollen durch, so auch in den Kinos für Immigrantinnen. Hauptvorführort ist deshalb heute das Wohnzimmer, wo meist mit Freunden oder Familie ab DVD geschaut wird.


Anmerkungen:

(1) Vgl. www.migrationinformation.org (20.12.07)

(2) Arbelaez, Maria S.. Low-Budget Films for Fronterizos and Mexican Migrants in the United States, Journal of the Southwest 43 (2001), S. 637-657.
Ricalde, Maricruz Castro. Popular Mexican Cinema and Undocumented Immigrants, Discourse 24 (2004), S. 194-213.

(3) Mit Chicana werden Frauen mit lateinamerikanischen Wurzeln bezeichnet, die sich in den USA aktiv für politische Rechte und Kultur einsetzen.


Autorin
Seraina Rohrer schreibt eine Dissertation zum Thema "Transnationale Low-Budget-Filme und ihre Grenzpraktiken" mit Fokus auf der mexikanisch-U.S.-amerikanischen Grenze. Von Sommer 2009 bis 2010 vertieft sie ihre Forschung am "Chicano Studies Research Center" an der University of California in Los Angeles (UCLA). seraina.rohrer@diskurs.ch


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Quelle:
ROSA:39 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe September 2009, S. 28-30
Redaktionsanschrift:
Rämistrasse 62, 8001 Zürich, Schweiz
E-Mail: rosa.gender@gmail.com
Internet: www.rosa.uzh.ch

Ein Einzelheft kostet 5 SFr,
das Rosa-Jahresabonnement 15 SFr / 11 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2010