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SPRACHE/531: Wie Polynesier einst Kokosnüsse zählten (Freiburger Uni-Magazin)


Freiburger Uni-Magazin - 2/April 2008

Zweinuss, Viernuss, Sechsnuss
Freiburger Wissenschaftler haben erforscht, wie Polynesier einst Kokosnüsse zählten

Von Holger Lühmann


Dr. Andrea Bender und Dr. Sieghard Beller aus der Abteilung Cognition, Emotion, Communication des Instituts für Psychologie haben die Grammatik polynesischer Zahlsysteme entschlüsselt. Damit haben sie bewiesen, dass eine anscheinend primitive Mathematik tatsächlich sehr ausgefeilt sein kann. In bestimmten Situationen war die Zählweise der Pazifik-Insulaner sogar effizienter als unsere eigene (nachzulesen in Science, 319, 213-215).


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Als die Ethnologin Andrea Bender zu Feldstudien in Polynesien die tonganische Sprache lernte, fielen ihr die verschiedenen Zählweisen in einem alten Grammatikbuch auf. Für unterschiedliche Objekte gab es verschiedene Zahlwörter, vor allem für fünf zentrale Güter der polynesischen Alltagskultur: Kokosnüsse, Zuckerrohr, Fisch, Yams, eine einheimische Knollenfrucht, und Pandanus, eine Pflanzenart, die zum Flechten von Matten verwendet wird. Tonganer fassen in ihren Rechnungen mehrere Objekte in Gruppen zusammen, um diese danach in Einheiten abzuzählen. Pandanus-Blätter und Kokosnüsse beispielsweise werden in Paaren gezählt. Steigt die Anzahl der Objekte, fasst man sie sogar in 20er-Einheiten zusammen." Zwar gab es seit langem akribische Beschreibungen dieses ungewöhnlichen Verfahrens durch Ethnologen", sagt Bender. "Aber es wissenschaftlich richtig zu entschlüsseln, ist den Forschern nie wirklich gelungen." Noch komplexer wird das Zählprinzip durch die Verwendung objektbezogener Zahlwörter. Für die Bezeichnung einer gleichen Anzahl von verschiedenen Gegenständen werden nämlich unterschiedliche Begriffe verwendet. Für Zuckerrohr beispielsweise wird die Zahl "20" mit tetula und für Kokosnüsse mit tekau bezeichnet. Das Lernen der tonganischen Sprache fiel Bender zwar leicht, aber sich die ungewöhnliche Zählpraxis zu erklären, ließ sie nicht los. Gemeinsam mit dem Psychologen Sieghard Beller, der die kognitiven Grundlagen menschlichen Zahlenverständnisses und andere Denkprozesse erforscht, kam sie auf die Lösung: Das scheinbar ineffiziente Vorgehen der Tonganer vereinfacht vor allem das Zählen großer Mengen von Gegenständen. Ein einfaches Rechenbeispiel mache diese Erkenntnis deutlich, sagt Beller: "72 - 24 + 36 im Kopf auszurechnen, fällt den meisten schwerer als 6 Dutzend - 2 Dutzend + 3 Dutzend." Doch die raffinierten Abkürzungsstrategien sind vermutlich nur eine Episode der tonganischen Sprachgeschichte, glauben die beiden Wissenschaftler.


Wichtige kulturelle Gegenstände werden anders gezählt

Ursprünglich existierte offenbar nur ein Dezimalsystem, wie wir es kennen. "Eines Tages jedoch ging man dazu über, bestimmte Gegenstände anders zu zählen als vorher", erklärt Beller, "und zwar genau diejenigen, die eine wichtige Rolle in der tonganischen Kultur spielten und außerdem in umfangreichem Maße vorhanden waren." Für größere Mengen wird Kopfrechnen schnell sehr aufwändig. Bei Tributzahlungen und Steuern an die tonganischen Könige kam es auf Genauigkeit an. Deshalb entwickelte man neue Systeme, in denen mit Zähleinheiten aus 2 oder 20 gerechnet wurde. Heute wird dieses Verfahren zunehmend zurückgedrängt. Das einfache Dezimalsystem ist wieder auf dem Vormarsch, seit die arabische Ziffernschrift Kopfrechnen in größerem Stil überflüssig machte." Nur noch zu traditionellen Anlässen wird im Königreich Tonga so gezählt wie früher", sagt Bender, "zum Beispiel beim Erntedankfest." Darum werde das Grammatikbuch, aus dem Bender anfangs gelernt hatte, kaum noch verwendet. Sprachschüler sind begeistert, Wissenschaftler nicht." Tonganer werden sich über die Studie freuen," meint Bender, "denn sie beweist, dass ihre Zahlsysteme keineswegs so primitiv waren wie sie lange schienen." Trotzdem gehe mit der tonganischen Zähltechnik eine interessante Rechenalternative verloren, bedauert Beller. Der Wechsel auf ein vereinfachtes Rechensystems zeige aber auch, dass jede Kultur sich das Zählen so leicht wie möglich mache." Vielleicht sollten wir in Deutschland auch mal darüber nachdenken, unser Zählsystem zu ändern. Denn warum heißt es zum Beispiel 'zwei-und-zwanzig' anstatt 'zwei-zehn-zwei'. Immerhin sagen wir ja auch 'zwei-hundert-zwei'." Auf manche Fragen finden selbst Experten nur schwer eine Antwort.


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Quelle:
Freiburger Uni-Magazin Nr. 2/April 2008, Seite 17
Herausgeber: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
der Rektor, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle
Redaktion: Eva Opitz (verantwortlich, itz)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2008