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SPRACHE/615: Wie der Mensch zur Sprache kam (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Wie der Mensch zur Sprache kam


"Sprich, dass ich dich segne", rief Kardinal de Polignac im 18. Jahrhundert einem Orang-Utan zu, der gerade in den zoologischen Garten des französischen Königs gebracht wurde. Jeder Mensch spricht einen oder mehrere der etwa 4000 auf der Erde erfassten Idiome. Wenn man sich also fragt, was der Menschheit zugrunde liegt, muss man auch über das Auftreten der Sprache sowohl in der Evolution als auch in der kindlichen Entwicklung nachdenken.


Seit mehr als einem Jahrhundert weiß man, dass für die Erzeugung gesprochener Sprache eine spezifische Region des linken Cortex unversehrt sein muss. Der Neurologe Paul Broca hatte dieses Areal, das heute seinen Namen trägt, bei der Untersuchung eines an Aphasie leidenden Patienten entdeckt, bei dessen Autopsie festgestellt wurde, dass bei ihm diese Region durch einen Hirnschlag zerstört worden war. Mit den Methoden des modernen Neuroimagings wurde bestätigt, dass dieses Broca-Areal während des Sprechens aktiv ist. Daher wäre es überaus interessant, die Frage nach der Geburt der Sprache über die Frage nach dem Auftreten dieser Gehirnregion anzugehen, da sie bei den Primaten nicht vorhanden ist. Interessant sicherlich, aber auch sehr schwierig, da das Gehirn ein weiches Organ ist, das nicht fossilisiert. Durch die Untersuchung der Schädelnachbildungen von Hominiden lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob das BrocaAreal nun im Gehirn unserer Vorfahren vorhanden war oder nicht. Einige sind überzeugt, dass es dieses seit dem Homo habilis (also seit 4 Millionen Jahren) gibt, andere wiederum glauben, dass es mit dem Homo sapiens (vor 100.000 Jahren) aufgetreten ist und die vorherigen Arten nur eine rudimentäre Ursprache beherrschten.


Die Position des Kehlkopfes

Die Paläontologen haben jedoch auch einen ganz anderen Ansatz für die Frage nach dem Auftreten der artikulierten Sprache gefunden. Gewiss benötigt man zum Sprechen das Broca-Areal, aber viel banaler auch einen Stimmapparat aus Zunge, Kehlkopf (dessen Schleimhautfalten die Stimmbänder bilden) und dem Rachen, der die Luft vom Kehlkopf zum Mund und zur Nase leitet. Je länger der Rachen ist, desto länger kann die Luft vibrieren und desto größer ist die Palette der möglichen Töne. Im Gegensatz zu den Menschenaffen, bei denen er höher liegt, sitzt der Kehlkopf beim erwachsenen Menschen tief im Rachen. "Der Mensch kann so Vokale bilden, indem er die Form der Zunge in zwei Richtungen verändert - vertikal an der Zungenwurzel hinten im Rachen und horizontal an ihrem Ende in der Mundhöhle -, wodurch der Klangumfang erhöht wird", erklärt James Steele vom Institut für Archäologie am University College London, Koordinator des Projekts Hand to Mouth(1). Ist das Absinken des Kehlkopfes tief in den Rachen ein anatomisches Anzeichen für das Auftreten der Sprache? An dieser Hypothese arbeiten die Forscher zurzeit. Durch die Rekonstruktion der Form des Stimmtraktes von Hominidenfossilien mithilfe des Computers hoffen sie das Auftreten eines ausreichend tief sitzenden Kehlkopfes, der die Erzeugung artikulierter Sprache ermöglicht, datieren zu können.


Ist Sprache nützlich?

Das Problem lässt sich auch anders angehen, nämlich, indem man sich fragt, wofür unseren entfernten Verwandten die Sprache nützlich gewesen sein könnte. Sprechen hat nämlich nicht nur Vorteile. Sitzt der Kehlkopf tief, haben Luft und Nahrung unten in der Kehle viel Platz, wodurch Erstickungsgefahr droht, wenn die Nahrung einmal nicht in die Speise-, sondern in die Luftröhre gelangt. Aus Sicht der Evolution musste diese Gefahr folglich durch andere Vorteile aufgewogen werden. Aber welche? Für die Forscherteams von Hand to Mouth könnte es sich dabei um die Herstellung von Werkzeugen handeln. "Die Herstellung von Werkzeugen ist eine soziale Tätigkeit, die von Generation zu Generation durch Lernen tradiert wird", fährt James Steele fort. "Wir versuchen herauszufinden, ob dieser Lernvorgang durch einfaches Nachahmen oder durch mündliche Unterweisung effizienter ist." Über diese Frage wird in der Tat umfassend diskutiert. So haben beispielsweise japanische Hochschullehrer ihren Studenten die Anfertigung von Steinwerkzeugen beigebracht, entweder indem sie es ihnen ohne Worte zeigten oder indem sie ihnen präzise mündliche Anweisungen gaben. Das Resultat: Beide Gruppen erzielten vergleichbare Ergebnisse - vor allem aber sehr schlechte, wenn es um eine komplexe Aufgabe ging! Diese Art Experimente, die bis dahin nicht sehr aufschlussreich waren, will das Projekt Hand to Mouth jetzt mit der fachkundigen Unterstützung der Archäologen und Anthropologen des Teams wieder aufnehmen. Der theoretische Kontext dieser Forschungsarbeiten hat sich nämlich geändert, nachdem kürzlich Spiegelneuronen (die nur dann aktiv sind, wenn eine Person einen Vorgang, den sie beobachtet, wiederholt) in einer bestimmten Hirnregion entdeckt wurden, die eine Rolle bei der Sprache spielt. Für James Steele lässt "diese Entdeckung vermuten, dass das Auftreten bestimmter Merkmale der menschlichen Sprache von bereits existierenden Neuronenkreisläufen abhängt, die dazu dienen, das Verhalten einer anderen Person zu lesen, indem ihre Bewegungen beobachtet werden".


Die ersten Worte

Das Auftreten der artikulierten Sprache erforderte zweifellos im Laufe der Evolution eine Reihe von anatomischen Veränderungen im Gehirn und am Stimmapparat. Und wie sieht es bei Kindern aus? Bei Säuglingen sitzt der Kehlkopf, wie auch bei den Menschenaffen, höher, sodass sie gleichzeitig an der Mutterbrust trinken und atmen können. Er senkt sich dann sehr bald, wodurch das erste Lallen möglich wird, das sich dann schnell zu artikulierten Worten entwickelt. Dieses Erwecken der Sprache entzückt die Eltern und fesselt das Interesse der Wissenschaftler gleichermaßen. Den Experten zufolge ist die menschliche Sprache ein generatives System, das den Bau unendlich vieler Sätze mit einer endlichen Anzahl von Wörtern (der durchschnittliche Wortschatz eines Erwachsenen umfasst 50.000 bis 100.000 Wörter) ermöglicht, deren Sinn durch Konvention festgelegt ist. Wenn man ein Wort nicht kennt, schlägt man dessen Sinn in einem Wörterbuch nach. Andererseits ist der Sinn einer jeden beliebigen Kombination neuer Wörter in einem Satz verständlich, da die Kombination von einer Reihe von Regeln bestimmt wird: nämlich der Syntax. Nun beherrschen Kinder jedoch ab drei bis vier Jahren den größten Teil dieser Syntax, ohne sie gelernt zu haben. Man lernt in der Schule nicht, dass in der Satzfolge "Das Kind hat einen Ball. Dieses hat auch einen." mit dem Wort "dieses" ein anderes Kind und mit "einen" ein anderer Ball gemeint ist. Daher brachte der amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky in den 1950er Jahren die Idee einer genetischen Prädestination des Menschen für das Erlernen einer Sprache auf. Seitdem haben Hunderte von Forschern versucht, die Grundlagen dieser angeborenen "Universalgrammatik" zu entschlüsseln, deren Existenz zwar von Chomsky als gegeben vorausgesetzt wird, über deren Art aber noch gerätselt wird.


Konsonanten und Vokale

"Das Lautsignal der Sprache enthält keine nachvollziehbaren Informationen über den Wortschatz oder die Grammatik der Sprache", bemerkt Jacques Mehler, Spezialist für kognitive Wissenschaften an der Scuola Internazionale Superiore di Studi Avanzati von Triest (IT) und Koordinator des Projekts Calacei. "Selbst wenn man die Existenz von sehr starken angeborenen Strukturen voraussetzt, muss immer noch der Bezug zwischen der linguistischen Struktur und dem empfangenen Signal erklärt werden. Nun haben aber jüngste Forschungsarbeiten gezeigt, dass das Signal reichhaltiger ist, als man bisher vermutet hat, denn es enthält viele Informationen über die statistische Verteilung der wenigen Hauptelemente, die vielleicht unbewusst erkannt werden, wenn man sprechen lernt." Darauf beruht die von Mehler und seinen Mitarbeitern untersuchte Hypothese: Das Gehirn könnte anhand der Konsonanten die Wörter in der Prosodie erkennen, während die Vokale vor allem dazu dienten, die Syntax zu ermitteln.

Die Forscher von Calacei interessieren sich auch dafür, auf welche Art und Weise ein Neugeborenes seine Muttersprache erlernt. Folgearbeiten in Triest hatten gezeigt, dass ein Säugling bereits ab der Geburt für den Rhythmus der gesprochenen Sprache empfänglich ist. Wenn man ihn verschiedene Sprachen hören lässt und dabei seine Aufmerksamkeit misst, indem man die Bewegungen seiner Augen oder des Kopfes beobachtet, stellt man fest, dass er bereits in der Lage ist, die Sprache in Konsonanten bzw. Vokale zu unterteilen, um bestimmte rhythmische Merkmale der Sprachen zu bestimmen. Das Calacei-Team konnte nachweisen, dass ein vier Tage altes Baby auch zwischen den Wiederholungen der Silben vom Typ A-B-B und denen vom Typ A-C-C unterscheiden kann. Diese Fähigkeit erfordert die Aktivierung einer Unterregion des BrocaAreals, die sehr frühzeitig ausgereift ist. Ab einem Alter von drei Monaten kann man beobachten, dass sie reagiert, sobald das Kind die Aufzeichnung seiner Muttersprache hört, aber nicht, wenn die gleiche Aufzeichnung rückwärts abgespielt wird. Noch überraschender ist, dass diese Unstimmigkeiten bei der Reihenfolge der Silben bei ihm Verwunderung auslösen, als erwarte es eine bestimmte Folge. Diese Vorhersagefähigkeit entwickelt sich immer weiter und geht mit dem Erlernen der Sprache und dem Auftreten des Humors einher. Denn, die Komiker wissen es, zu den stärksten Trümpfen der Komik gehören verbale Unstimmigkeiten, die das Gehirn verwirren, da es etwas anderes erwartet hat. Hat nicht Franüois Rabelais im 16. Jahrhundert gesagt: "Lachen ist ein Menschengut"?

M.S.


Anmerkung

(1) Die Projekte Hand to Mouth und Calacei sind Teil der europäischen Initiative Nest Pathfinder, What it means to be human.

infos
ftp://ftp.cordis.europa.eu/pub/nest/docs/4-nest-what-it-290507.pdf


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Und wenn das Erlernen durch Nachahmung ebenso effizient wäre, wenn nicht sogar noch effizienter als das Erlernen durch mündliche Anweisung? Um beispielsweise Wissen weiterzugeben, wie die Herstellung von Werkzeugen, die seit der Urgeschichte existieren. Hier eine Feuersteinspitze aus dem Mittelpaläolithikum aus dem Fond des Blanchards (Gron-Yonne, FR).


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008, Seite 16-17
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2008
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
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Chefredakteur: Michel Claessens
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research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2009