Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → FAKTEN

SPRACHE/746: Frühgeschichte der Schrift (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2011

Frühgeschichte der Schrift

Von Kerstin Kazzazi u. Gaby Waxenberger


Über 1400 Jahre hinweg war die Runenschrift in Europa als Kommunikationsmedium verbreitet. Runische und lateinische Schrift existierten lange Zeit nebeneinander. Ein auf 16 Jahre angelegtes Projekt geht der frühesten Geschichte von Schrift in unserem Kulturraum nach.


Die wissenschaftliche Erforschung der germanischen Runenschrift und speziell ihrer englischen Ausprägung hat an der KU bereits eine Tradition (1995-2006; s. Agora 2005), die nun innerhalb des neuen Forschungprojektes "Runische Schriftlichkeit in den germanischen Sprachen" (RuneS) durch die gemeinsame Arbeitsstelle Eichstätt-München (Leitung: Prof. Dr. Alfred Bammesberger, Prof. Dr. Elke Ronneberger-Sibold, Prof. Dr. Ursula Lenker; Bearbeiterinnen: Dr. Gaby Waxenberger, Dr. Kerstin Kazzazi) weitergeführt wird. Diese Fortsetzung ist eingebettet in ein von der Union der Akademien der Wissenschaften gefördertes und an der Akademie Göttingen angesiedeltes Langzeitprojekt (2010-2025) mit weiteren Arbeitsstellen an den Universitäten Kiel (Prof. Dr. Edith Marold (Sprecherin des Gesamtprojektes), Dr. Christiane Zimmermann, Ute Zimmermann, Dr. Jana Krüger), Göttingen (Prof. Dr. Klaus Düwel, Prof. Dr. Wilhelm Heizmann, Dr. Alessia Bauer, Dr. des. Sigmund Oehrl). Die Arbeitsstelle Eichstätt-München ist innerhalb dieses Kooperationsprojektes für die Edition und thematische Erforschung der englischen und friesischen Runeninschriften zuständig.

In der Germania stellt die Runenschrift als ältestes eigenständig entwickeltes Schriftsystem - vor und neben der erst später durch das Christentum vermittelten Lateinschrift - eine Besonderheit dar. Als Kommunikationsmedium war sie in unterschiedlicher Ausformung in großen Teilen Europas über einen Zeitraum von mehr als 1400 Jahren verbreitet. Schwerpunkte der Verbreitung der runischen Schriftzeugnisse sind Skandinavien, Großbritannien, Deutschland und die Niederlande (Friesland). Daneben finden sich auch vereinzelte Runeninschriften in den übrigen Ländern West- und Osteuropas. Die Anzahl der zur Zeit bekannten epigraphischen Runendenkmäler beträgt ca. 6.600. Inschriftenträger sind neben Runensteinen verschiedene Gegenstände des täglichen Gebrauchs aus festen Materialien wie Metall, Holz oder Knochen sowie Waffen und Schmuck. Runen sind jedoch nicht nur auf Gegenständen angebracht worden, sondern sie fanden ihren Weg auch auf das Pergament (sog. Runica Manuscripta).

Die frühen germanischen Runeninschriften (ca. 1./2. - 7./8. Jh.) sind in der 24 Zeichen enthaltenden älteren Runenreihe, dem sog. älteren fupark - die Bezeichnung folgt den ersten sechs Runen dieser Reihe - geritzt. Dieses Alphabet entwickelt sich in den Einzelsprachen weiter und spaltet sich auf in das anglo-friesische fuporc mit bis zu 31 Zeichen und das in Skandinavien in verschiedenen Varianten überlieferte sog. jüngere fupark, das zunächst auf 16 Zeichen schrumpft, jedoch bald die Zahl der Runen wieder erhöht. Betrachten wir alle ihre unterschiedlichen Ausprägungen zusammen, so ist die Runenschrift in einem Zeitraum vom 1./2. bis zum 15./16. Jh. als Kommunikationsmedium überliefert. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Zeugnisse unserer ältesten Schriftkultur konzentrierte sich bislang vor allem auf das Textverständnis der einzelnen Inschriften und ihre kultur-historische Interpretation. Von den bisherigen Untersuchungen unterscheidet sich das neue Projekt RuneS dadurch, dass es die Runenschrift unter dem Blickwinkel eines Systems betrachtet, das sich über Jahrhunderte hinweg in unterschiedlicher Weise entwickelt hat und verschiedene kommunikative Funktionen übernahm.

Die Arbeiten im Projekt umfassen drei Module. Die laufenden Arbeiten in Modul I an der Arbeitsstelle Eichstätt-München dienen vor allem der Vervollständigung der Dokumentation des Corpus für die Edition der altenglischen Inschriften. Dies geschieht u.a. durch sog. Autopsien (wörtl. "eigene Besichtigung"), bei denen im letzten Jahr u.a. das größte Objekt, das Ruthwell Cross in Schottland, per Foto- und Videoaufnahmen dokumentiert wurde. Außerdem wurden diverse Neufunde (einer von ihnen enthält eine bisher unbekannte Rune) im Norwich Castle Museum erstmalig autopsiert und ins Corpus aufgenommen. So entsteht eine umfassende Dokumentation dieser bisher in der Forschung vernachlässigten frühen schriftlichen Zeugnisse. In Kooperation mit dem KU-Lehrstuhl für Physische Geographie (Prof. Dr. Michael Becht) ist außerdem eine digitale georeferenzierte Dokumentation der Inschriften nach Fundort, Datierung und Verteilung von Schreibvarianten in Vorbereitung.

In den Modulen II und III werden zwei thematische Bereiche im Zentrum der Forschung stehen: Modul II "Runische Graphematik" (2014-2019) ist Fragen der Umsetzung von Lauten in Schriftzeichen gewidmet, der so genannten "Verschriftung" (Oesterreicher 1993). Dabei wird das System der Laute (Phonemsystem) in seiner Beziehung zu dem System der Schriftzeichen (Graphemsystem) untersucht. War das System der Runenzeichen "perfekt" an das Lautsystem/die Lautsysteme der germanischen Sprachen angepasst? War das immer und überall der Fall oder gab es regionale Varianten? Gab es über den langen Zeitraum der Verwendung der Schrift Entwicklungen im System der Schriftzeichen und wodurch wurden sie ausgelöst? Wie wirkte sich die Entwicklung der Phonemsysteme der Sprachen dabei aus? Eine bisher sehr kontrovers diskutierte Frage ist die nach orthographischen Traditionen in der runischen Schriftlichkeit: gab es solche Schreibregeln oder schrieb man "wie man es hörte"? Bei den Analysen werden die Erkenntnisse der neueren Schriftlichkeitsforschung mit herangezogen.

Ein erster Schritt in diesem Arbeitsabschnitt wird die Erstellung einer Liste von runischen Zeichen (Graphen) und ihrer Lautwerte sein. Dabei ist nicht immer mit einer Relation von einem Lautwert zu einem Zeichen zu rechnen. Es besteht die Möglichkeit, dass ein Graph verschiedene Laute wiedergibt. Häufig wird jedoch umgekehrt derselbe Laut durch verschiedene Graphe repräsentiert. Diese Graphe können entweder verschiedene Runen oder verschiedene Realisierungen derselben Rune sein. Im zweiten Fall sprechen wir in Anlehnung an die Phonologie von Allographen. Es gibt jedoch auch Markierungen auf den Runendenkmälern, bei denen nicht klar ist, ob sie überhaupt als runische Zeichen, d.h. Graphen mit Lautwerten, einzuordnen sind oder aber als ornamentale, d.h. sog. außerrunische Zeichen fungieren.

Das Modul III "Runische Textgrammatik und Pragmatik (2020-2025)" schließlich geht vom Begriff der "Verschriftlichung" (Oesterreicher 1993) aus. Hier geht es um das Verhältnis von mündlicher Rede zu schriftlicher Äußerung. Welche Arten von Äußerungen wurden schriftlich nieder gelegt? Versuche, die Funktionen der Schrift selbst zu erfassen, kreisen seit langem fast ausschließlich um das Begriffspaar magisch/kultisch vs. profan. Innerhalb des Moduls soll eine übergeordnete Systematik entwickelt werden, die es erlaubt, die Inschriften als Textsorten zu beschreiben. Dabei wird das gesamte Runendenkmal - das beschriftete Objekt selbst, der darauf angebrachte Text, außerrunische Begleitzeichen, Bildelemente und Ornamente, die Anordnung der Zeichen auf dem Zeichenträger und der Überlieferungskontext des Runendenkmals - im Zusammenhang gesehen und bei der Bestimmung der Funktion dieses Schriftzeugnisses in der Gesellschaft zugrunde gelegt. So finden sich auf den Runendenkmälern auch ikonographische Elemente, deren Beitrag zur Themen- und Funktionsbestimmung nicht außer Acht gelassen werden darf. Bei der Einbeziehung dieser außerrunischen Zeichen wird von den Ergebnissen der ikonographischen Forschung ausgegangen.

Beide Untersuchungskreise widmen sich dabei zentral der Frage nach dem Verhältnis zwischen runischer und lateinischer Schriftlichkeit. Die beiden Schriftsysteme existierten teilweise über einen langen Zeitraum hinweg nebeneinander. Wie hat sich diese Koexistenz mit der lateinischen Schriftlichkeit auf die runische Schriftlichkeit ausgewirkt? Lässt sich der Kontakt eher als Dialog oder als Abgrenzung beschreiben? Waren die beiden Schriftsysteme soziologisch gebunden - etwa im Sinn der These von den zwei Kulturen (einheimische vs. lateinische Kultur)? Da die verschiedenen Phasen der runischen Schriftlichkeit in vielfältiger Weise vernetzt sind, kann nur ein umfassend angelegtes Forschungsvorhaben wie "RuneS" die grundlegenden Fragen zur frühesten Geschichte und Entwicklung des Kommunikationsmediums Schrift in unserem Kulturraum beantworten.


Dr. Kerstin Kazzazi ist Mitarbeiterin im hier beschriebenen Projekt "Runische Schriftlichkeit in germanischen Sprachen" (Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft/ Lehrstuhl für Englische Sprachwissenschaft).

Dr. Gaby Waxenberger wirkt als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Englische Philologie der LMU an diesem Projekt mit.


*


Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2011, Seite 16-17
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
85071 Eichstätt
Tel.: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-2594
E-Mail: pressestelle@ku-eichstaett.de
Internet: www.ku-eichstaett.de

AGORA erscheint einmal pro Semester und
kann kostenlos bezogen werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2011