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AKZENTE/095: Fragwürdige Geheimnisse (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 5/2006

Fragwürdige Geheimnisse

Wie aktuelle Romane das Leben Jesu darstellen


Von Elisabeth Hurth

Jesusromane haben derzeit Konjunktur. In den vergangenen Monaten sind gleich mehrere Romane erschienen, die sich der Gestalt Jesu losgelöst von dogmatischen Vorgaben und exegetischen Einsichten annehmen, den Mann aus Nazaret als außergewöhnlichen, von Geheimnissen umwitterten Menschen präsentieren. Sie setzen damit eine Deutungslinie fort, die in die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts zurückreicht.


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In jüngster Zeit ist es literarisch wieder einmal "in", die dunklen Seiten der Kirche aufzudecken: Geheimbünde, die über Leichen gehen, Kirchenfürsten zwischen Konspiration und Kontemplation, Kapuzenmänner, die brisanten Dokumenten nachjagen. Diese Ingredienzien von finsteren Sakral-Thrillern folgen Dan Browns Werk nach.

Brown, der Superstar der sakralen Spannung (vgl. HK, November 2005, 563 ff.), hat mit seinem Bestseller "Sakrileg" (Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2004) die Themen für seine Nachfolger vorgegeben und gezeigt, dass nichts reizvoller und erfolgreicher ist, als Jesus im Zusammenhang mit Sexualität zu thematisieren. Dieser Ansatz gipfelt in Browns Erfolgsroman in der provokativen These, Jesus habe mit Maria Magdalena eine Affäre gehabt und mit ihr ein Kind gezeugt. Um diese These bastelt Brown einen Krimi, in dem er seinen Helden Robert Langdon die angeblich größte Verschwörung der letzten 2000 Jahre aufdecken lässt.

Was in den letzten Monaten an Jesusromanen in die Buchläden gelangt ist, ist ein Abklatsch von Browns Verschwörungstheorie. Henri Loevenbrucks Roman "Das Jesusfragment" (Knaur Verlag, München 2005) benutzt alle Versatzstücke, die ein sakraler Thriller heute braucht: Alltagshelden, die Geheimnisse der Jesusgeschichte aufdecken, gewaltbereite Organisationen, die skandalträchtige kirchliche Dokumente in ihren Besitz bringen wollen, und schließlich die dunkle Sekte der Essener, die ebenfalls in eine Verschwörung verwickelt ist. Die spannend in Szene gesetzte Verschwörungstheorie handelt von der letzten Botschaft, die Jesus selbst den Menschen hinterlassen haben soll, verborgen in einer Reliquie, dem Stein von Iorden.


In eine nachchristliche Kultur hineingeschrieben

Thematisch hat sich Loevenbruck in das Fahrwasser all jener Romane begeben, die nach dem Menschen Jesus fragen und dabei den Gottessohn entmythologisieren. Jesus, so heißt es in Loevenbrucks Roman, war ein "ungewöhnlicher Mann. Man hätte ihn nicht zum Sohn Gottes machen müssen, um seinen Worten, so entstellt sie heute auch wiedergegeben werden, einen wahren philosophischen Gehalt zu verleihen." Was Loevenbruck hier aufdecken will, ist Gemeingut der liberalen Leben-Jesu-Theologie des neunzehnten Jahrhundert: Jesus ist nicht Gottes Sohn, er wurde vielmehr nachträglich dazu gemacht.

Die Leben-Jesu-Theologie greift zurück auf das Werk des Hamburger Professors für orientalische Sprachen, Hermann Samuel Reimarus. Reimarus will in seinen postum von Gotthold Ephraim Lessing herausgegebenen Fragmenten (1778) das Leben Jesu rein historisch aufschlüsseln und unterscheidet zwischen der ursprünglichen Jesusüberlieferung und einer nachösterlichen Übermalung. Die Verkündigung Jesu ist also vom Christusglauben der Apostel zu trennen. Sie gehört in den zeitgenössischen Kontext der jüdischen Religion und enthält vor allem die Predigt von der Nähe des Himmelreiches und den daraus folgenden Ruf zur Buße. Jesus verheißt nach Reimarus ein weltliches Königreich, seine Botschaft ist politisch-messianisch, die Verkündigung eines durch Leiden erlösenden, auferstehenden und wiederkommenden Christus ist dagegen eine Neuschöpfung der Apostel.

Reimarus' methodische Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Christusglauben der Apostel führt in der Folge notwendig auf die Frage nach Jesus und einer Darstellung seines Lebens, "wie es wirklich war". Es entsteht eine Forschungstradition, die Albert Schweitzer 1906 in seiner "Geschichte der Leben- Jesu-Forschung" als die "größte Tat der deutschen Theologie" bezeichnet - die historisch-kritische Annäherung an das Leben Jesu. Leben-Jesu-Forscher wie Johann Jakob Hess und Heinrich Eberhard Paulus wollen das hinter der theologischen Übermalung liegende Bild des "wahren" Jesus rekonstruieren. Das Leben Jesu soll vor seinem kulturhistorischen Hintergrund menschlich- vernünftig nachvollziehbar erscheinen. Durch natürliche Erklärung des Wunderhaften soll zugleich der rationale Gehalt der Christologie deutlich werden.

Struktur und Theorie der Leben-Jesu-Darstellungen sind nach Schweitzer leicht durchschaubar und völlig gleichförmig: "Ihre Tendenz ist, aus Jesus einen Vertreter einer höchsten (...) Geheimlehre zu machen (...) Er ist ihr Werkzeug. Diese dirigieren sein Auftreten. Sie inszenieren seine Wunder, wie auch seine Verurteilung und Kreuzigung. Ehe er völlig tot ist, lassen sie ihn vom Kreuze abnehmen und rufen ihn in der Verborgenheit wieder ins Leben zurück, worauf er, bis zu seinem wirklichen Sterben, mit den Jüngern noch einige Zeit als ein Auferstandener verkehrt."

Von diesen Themenkonstanten ist es letztlich nur ein kleiner Schritt zu der Literarisierung des Lebens Jesu durch moderne Bestsellerautoren wie Loevenbruck und Brown. Literarische Phantasie, historische und psychologische Erklärungen verbinden sich hier zu einem antiklerikal ausgerichteten Porträt des Menschen Jesus.

Jesu Botschaft ist nach Loevenbruck die eines vollkommen irdischen Menschen, der als Mit-Mensch aller Menschen auftritt. Dass Jesus auferstanden ist, gehört nicht länger zur Botschaft des Neuen Testaments. "Die frohe Botschaft", so Loevenbruck, "liegt in der Lehre Jesu. Er überbringt die Botschaft vom Frieden, von der Liebe." Als Jesus erkennt, dass seine Lehre nicht angenommen wird, beschließt er, "sein Geheimnis den künftigen Generationen anzuvertrauen, indem er es versteckte."

Loevenbruck deckt dieses Geheimnis am Ende seines Romans auf. Es mutet wie die Geheimoffenbarung eines Science Fiction-Thrillers an, der sich mit außerirdischem Leben beschäftigt, und enthält, wie Loevenbruck ausdrücklich betont, "keine religiöse Botschaft, keine Offenbarung, kein Dogma, kein Gesetz", sondern vielmehr die "einfache Bestätigung": "Wir sind allein im Universum." Diese Botschaft Jesu soll "Antwort" sein auf die "ewige Frage" des Menschen.

Loevenbrucks Jesusgestalt hat nichts mit dem Zeugnis der Evangelien zu tun und kann weder dogmatisch abgesichert noch christologisch vereinnahmt werden. Jesus zielt hier auf eine innere Befreiung des Menschen, nicht aber auf heilsgeschichtliche Erlösung. Er ist kein erhöhter Weltenrichter und Heilsbringer, sondern eine universale Vorbild- und Identifikationsfigur. Es ist dieser menschliche Jesus, den Loevenbruck ebenso wie Dan Brown als den "echten Jesus", den "Original-Jesus" vorstellt, dessen "ursprüngliches" Evangelium durch nachträgliche Dogmatisierung und Theologisierung zu einem "System" kirchlicher Verkündigung verfälscht worden sei.

Loevenbrucks Roman ist in eine nachchristliche Kultur hineingeschrieben, die sich von kirchlich-religiösen Vorgaben gelöst hat. Im literarisierten Jesus werden diese Ablösungsprozesse durchgespielt. Heilserwartungen wirken nun eigentümlich gebrochen. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus Gottes wird in Frage gestellt. So entsteht ein unüberbrückbarer Gegensatz: Ein Menschensohn wird vorgestellt, der Bruder der Menschen, aber nicht mehr Sohn des Vatergottes ist.

Den rein irdischen Menschensohn profiliert Loevenbruck im Stil von Dan Brown provokativ gegen die kirchliche Geschichtsschreibung. Als Anwalt eines entdogmatisierten Christentums deckt dieser Menschensohn einen Aspekt Christi ab, ohne jedoch den ganzen Christus zu erfassen.

Karriere als Wundertäter wider Willen

Einen Menschensohn will auch Eric-Emmanuel Schmitt in seinem Roman "Das Evangelium nach Pilatus" (Ammann Verlag, Zürich 2005) darstellen. Erzählt werden zunächst die letzten Minuten Jesu auf dem Ölberg. Auf seine Verhaftung wartend, berichtet Jesus in einem langen Monolog über sein Leben. Er erzählt davon, wie er sich verliebt und verlobt. Im "Rausch der Verliebtheit" entdeckt Schmitts Jesus "das Egoistische des Glücks": "Glück heißt, sich zu weigern, die Welt so zu sehen, wie sie ist." Für dieses Glück, so erkennt Jesus, ist er "nicht geschaffen".

Der Absage an das Glück der Verliebtheit folgt eine Karriere als Wundertäter wider Willen. Jesus kann von Gott sprechen, "von seinem Licht", weil es in ihm "strahlt". Aber Jesus sieht sich nicht als Messias. Die anderen "überhöhten mich", beobachtet er nicht ohne Vorwurf und beharrt: "Ich bin ein Menschensohn, nicht der Sohn Gottes." Als Menschensohn bleibt Jesus bei Schmitt "bis zum Ende ein Zweifelnder, ein endlicher Geist, der sich vom Unendlichen gerufen fühlt, aber sich über nichts sicher ist..."

Auch Pilatus, aus dessen Perspektive in Briefromanform der Tod und die Auferstehung Jesu erzählt werden, ist ein "Zweifelnder", Pilatus berichtet vom Diebstahl der Leiche eines Gekreuzigten. Die Suche nach der Leiche bleibt ergebnislos. Gerüchte über die Auferstehung des Gekreuzigten mag Pilatus nicht glauben. Doch am Ende geht er auf den Spuren seiner verschwundenen Frau Claudia, die er unbedingt liebt, auf die Suche nach Jesus, "Denn die wahre Vermittlerin auf dem Weg zu Christus", so Schmitt, "ist die Liebe." Das Reich Gottes "wird erst Wirklichkeit, wenn die Menschen bereit sind zu lieben."

Im Nachwort offenbart Schmitt, dass Ernest Renan Vorbild für seinen Jesusroman ist. Die theologischen "Charakterbilder" der Leben-Jesu-Forscher gelangten 1863 in der Form eines historischen Jesusromans mit romantischem Sentiment durch Renan zu einer sensationellen Breitenwirkung. Die Ergebnisse der historisch- kritischen Exegese harmonisierend in einem "Vie de Jésus" zusammenfassend, präsentiert Renan ein "fünftes Evangelium" um das religiöse Vorbild Jesus, einen Propheten und Thaumaturgen mit einmaliger Persönlichkeit und unerreichter moralischer Vollkommenheit, der inmitten der idyllischen Umgebung Galiläas eine "théologie de l'amour" verkündet.

Renans Umdeutung der Auferstehung zu einem mythischen Symbol, einem vergeistigten Geschehen im Herzen all derer, die das Bild der von Jesus gestifteten universellen und ewigen Menschheitsreligion in sich tragen, stilisiert die Persönlichkeit Jesu mit kirchen- und dogmenkritischer Spitze zum Gewährsmann ethisch-religiöser Ideale. Historisierend und psychologisierend bietet Renan in seinem "fünften Evangelium" eine biographisch- genetische Rekonstruktion des "Helden" Jesus. Danach durchläuft Jesus in seinen menschlichen Zweifeln und Leiden eine Entwicklung von einem weichen, sensiblen Propheten zu einem sozialen Reformer, der sich in ein exaltiertes Messiasbewusstsein hineinsteigert und schließlich an einem verhärteten jüdischen Establishment scheitert.

Dem Vorbildcharakter Jesu tut dies keinen Abbruch: "Alle Jahrhunderte werden verkünden", so ist Renan überzeugt, "dass unter den Menschensöhnen kein größerer denn Jesus geboren ist." Jesus ist und bleibt für Renan eine einmalige Persönlichkeit von natürlicher Würde und Weisheit, von unverbrauchter Naivität. Mehr als eine einmalige Persönlichkeit ist auch Schmitts Jesus nicht. Und es sind wiederum nur "die Kirchen, die zur Erbauung des Volkes einen seiner Bestimmung bewussten Gott präsentieren" wollen.

Auf deutschem Boden findet Renans Roman zahllose Nachahmer. Historisierende und psychologisierende Jesusromane wie Oskar Linkes "Leben Jesu" (1888) profilieren den "ursprünglichen Jesus" - dogmen- und kirchenkritisch - als sittliche Orientierungsgestalt für die eigene Zeit. In seiner "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" zeigt Albert Schweitzer, dass dieser "ursprüngliche Jesus" letztlich eine Selbstdarstellung der Autoren ist. Die literarischen und theologischen Leben-Jesu- Bilder sind Projektionsflächen für eigene Wunschvorstellungen und Ideale.

Das Problem des Lebens Jesu ist nach Schweitzer "ohne Analogie" in der Geschichtswissenschaft. Jeder Jesusinterpret schafft nur "seinen" Jesus nach eigenem Bild und Gleichnis. Schweitzers Grabrede auf die Leben-Jesu-Bilder weist auf ein hermeneutisches Grundproblem, eine grundsätzliche Grenze in der literarischen Vergegenwärtigung der Jesusgestalt: "Jesus von Nazareth lässt sich nicht modernisieren. Als historische Erscheinung bleibt er in seiner Zeit gebannt. Er antwortet nicht auf die Frage: Sage doch, wie heißt du in unserer Zeit, in unserer Sprache?"

So hart die Theologie über die Leben-Jesu-Bilder urteilt, so bemerkenswert und eindeutig ist aber auch, dass dieses Urteil die vielfältigen literarischen Rekonstruktionsversuche einer Lebens- und Entwicklungsgeschichte Jesu nicht zum Erliegen gebracht hat. Das literarische Interesse am historischen Jesus hält sich nahezu ungebrochen bis heute durch. Unberührt von formgeschichtlichen und kerygmatischen Ansätzen geben Autoren wie Eric-Emmanuel Schmitt die Bemühungen um eine historisch- literarisierende Erfahrung des Lebens Jesu nicht auf. Es zeigt sich, dass die Frage, wer und wie Jesus in seiner Zeit war, von existenzieller Bedeutung bleibt und der Romanliteratur angesichts der historischen Skepsis der Fachexegese eine nicht zu unterschätzende Ausgleichsfunktion zukommt.

Schmitts Jesusroman gibt dem Glauben einen anschaulichen Stand, der ihn von wissenschaftlicher Bibelgelehrsamkeit unabhängig macht. Zum anderen verweist Schmitts Roman darauf, dass die Evangelien nicht eine Lehre, sondern einen Menschen darstellen, um den es dem Glauben zu tun ist - einen Menschen, der auch aktualisierend zur Identifikationsfigur moderner Religiosität gemacht werden kann. Neben die Frage, "wer Jesus wirklich war", tritt die Frage: "Wer ist Jesus für uns heute?"


Maria Magdalena als zentrale Figur

Schmitt will, so bekennt er sich in seinem Nachwort, "Jesus lebendig, nah, intim wieder aufleben lassen". Ähnliches versucht Gerald Messadié in einer Liebesgeschichte. In seinem Roman "Ein Mensch namens Jesus" (Knaur Verlag, München 1991) stellte Messadié Jesus als Wundertäter und Messias wider Willen vor, als charismatisch begabten Propheten, der in unmittelbarer Nähe zur Qumran-Gemeinde lebte und noch lange nach der Kreuzigung am Leben war.

Mit dem neuen Roman "Die Geliebte des Herrn" (2005) liefert Messadié eine skandalträchtige Fortsetzung der Jesusgeschichte. Erneut beschreibt Messadié, wie Jesus die Kreuzigung überlebt. Maria Magdalena steht im Zentrum einer Verschwörung, die Jesus vor dem Tod bewahrt. Soldaten werden bestochen, damit Jesus nicht am Kreuz stirbt, der schwer verletzte Jesus wird von Nikodemus und Josef von Arimathäa nur zum Schein bestattet, um den Mythos von der Auferstehung in Gang zu setzen.

"Das Außergewöhnlichste an der Geschichte der Maria aus Magdala ist", so Messadié im Nachwort zu seinem Roman, "dass sie Jesus, indem sie ihn dem Grab entriss, in den Augen der Apostel einen übernatürlichen Charakter verlieh. Folglich war sie es, die Jesus zu einem göttlichen Wesen machte. Damit wird sie zur wahren Begründerin des Christentums, wie wir es heute kennen." Diese These ist ein Abklatsch von Dan Browns "Glaubensbotschaft", die da lautet: Ein frauen- und lebensfreundliches Urchristentum wurde von einer asketisch sinnenfeindlichen Kirche verfolgt und unterdrückt. Zentrale Figur dieses Urchristentums ist Maria Magdalena.

Sie ist, so Brown, "das heilige Gefäß", "der Kelch, der Christi königliches Blut aufgefangen hat", "der Weinstock, der die heilige Rebe getragen hat". Doch dieses Geheimnis "von unfassbarer Bedeutung" wurde, so will es der Sensationsplot von "Sakrileg", über Jahrhunderte vertuscht. Autoren wie Messadié machen sich zum Enthüller dieses Geheimnisses und profilieren ihre Jesusgestalt als "Widersacher" einer verkopft und autoritär daherkommenden Institution Kirche.

Wer weiteren Verschwörungstheorien nachgehen will, wird von Julia Navarros Roman "Die stumme Bruderschaft" (Limes Verlag, München 2005) bedient, der in Spanien Dan Brown von den Spitzenplätzen der Bestsellerlisten verdrängt hat. Der Roman will aufdecken, dass das Turiner Grabtuch nur eine Kopie ist. Die "Stumme Bruderschaft" aus Urfa, deren Mitglieder sich ihre Zungen herausschneiden lassen, damit sie nicht reden können, wenn sie verhaftet werden, jagt dem echten Grabtuch hinterher, um es wieder in ihre Heimatstadt zu bringen. Am Ende wird das "Wunder" um das Grabtuch vollends entzaubert.

Aber anders als Dan Brown ist Navarro offen dafür, dass Jesus Gottes Sohn gewesen sein könnte. Für den Jesusverehrer Josar, aus dessen Perspektive der Roman das Leben Jesu erzählt, ist Jesus jemand, der "alles Menschliche übersteigt". Für andere wiederum ist Jesus lediglich "der beste aller Menschen". In beiden Rollen - als Menschensohn und als Gottessohn - wird Jesus in Navarros Roman zum Wundertäter von bleibender Bedeutung. Sein Grabtuch heilt Josars kranken König. Aber was dann als Jagd nach dem Grabtuch erzählt wird, ist die grausame Geschichte von machtgierigen Menschen, die über Leichen gehen, nur weil sie "glauben, dass es Dinge mit übernatürlichen Kräften gibt."

Navarro reduziert den Verkündigungs- und Bekenntnisgehalt der Evangelien auf biographisch-anthropologische Kategorien. Ihrem Rekonstruktionsversuch liegt die "Persönlichkeit" Jesu zugrunde, die nachösterlichen Elemente der Geschichte dieser "Persönlichkeit" werden zugunsten eines Einblicks in die Psyche Jesu ausgeblendet. Dieser thematischen Engführung entspricht eine Hermeneutik, die das Instrumentarium der historisch-kritischen Jesusforschung narrativ überspielt zugunsten einer intuitiven Rekonstruktion der Jesusgestalt.


Frontstellung zur offiziellen Theologie

Man kann diese Abkehr von wissenschaftlicher Exegese und kirchlicher Christologie heftig beklagen und als "Psychologismus" verurteilen, andererseits wäre aber auch zu fragen, was sich in diesem Unterlaufen historisch-kritischer Jesusforschung und eines kirchlich-dogmatischen Christusglaubens grundsätzlicher zeigt. In einer Zeit der Kirchenverdrossenheit liegt die Vermutung nahe, dass der bemerkenswerte Erfolg von Jesusromanen gerade darauf zurückzuführen ist, dass diese Werke Auffangbecken für ein Publikum sind, das mit einer wissenschaftlichen Hochtheologie und Fachexegese nichts anzufangen weiß. Und wenn die modernen "Verwalter" der Geheimnisse des Lebens Jesu "ihre" Jesusgestalt in Frontstellung zur offiziellen Theologie und Kirche propagieren, so verbirgt sich hinter dieser dezidiert antiklerikalen Polemik eben auch die Einsicht, dass das Jesusbild der Bibelwissenschaft und der kirchlichen Lehrtradition in der religiösen Sozialisation vieler Menschen einfach nicht vorkommt.

Für die neuesten Sakral-Thriller ist die Jesusgestalt prinzipiell literarisch darstellbar, aber für diesen Jesus ist die letztlich unfassbare Einheit von Kreuz und Auferstehung, das Zugleich von Gottheit und Menschheit nicht mehr maßgeblich. Jesus wird ein beliebig ausfüllbares Symbol, das eine grundlegende Diastase zwischen einem menschlichen Jesus und einem göttlichen Christus voraussetzt. "Es handelt sich nicht darum", schrieb Giovanni Papini einst im Vorwort zu seiner "Lebensgeschichte Christi" (1924), Jesus "in einer Modefarbe neu aufzuputzen, aber es handelt sich darum, seine ewige Wahrheit und seine unsterbliche Lebensgeschichte mit dem Wort der Gegenwart hinzustellen in ihrem Bezug auf das, was jetzt ist". In einer Zeit, die immer weniger zu einem Leben in der Nachfolge Jesu bereit ist, sind die "Modefarben" jedoch sehr vielfältig geworden und damit auch die Gefahr, dass die Jesusgestalt, gerade in romanhaften Darstellungen, lediglich diffuses Projektionsobjekt von religiösen Erwartungen und Selbstfindungsproblemen wird, in denen der Blick auf den Christus des Glaubens ausfällt.


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Elisabeth Hurth, geb. 1961 in Wiesbaden, hat Amerikanistik, Germanistik und katholische Theologie in Mainz und Boston studiert. PH.D. 1988 in American Studies in Boston, Promotion 1992 in Mainz in Germanistik. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Medien und Religion.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
60. Jahrgang, Heft 5, Mai 2006, S. 240-245
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