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AKZENTE/112: Zum Tod Alexander Solschenizyns (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2008

Das Schwungrad der Geschichte
Zum Tod Alexander Solschenizyns

Von Hanjo Kesting


Bücher haben ihre Schicksale. Als am 4. August der Tod Alexander Solschenizyns weltweit für Schlagzeilen sorgte, war sein wichtigstes Buch, der Archipel Gulag, in den Buchhandlungen nicht lieferbar. Dabei gehört es zweifellos zu den Büchern, von denen man sagt, dass sie Geschichte gemacht haben - kein anderes hat im zurückliegenden Halbjahrhundert eine vergleichbar starke Wirkung ausgeübt. Solschenizyn hat, wie sein jüngerer Kollege Viktor Jerofejew schrieb, "die Welt zweimal auf den Kopf gestellt": zunächst die russische Welt mit der Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch Anfang der 60er Jahre; zwölf Jahre später die kommunistische Welt mit dem Archipel Gulag, der Beschreibung der sowjetischen Lager. Dieses Buch zerstörte das kommunistische Ideal. Eine notwendige, eine nützliche Tat, die dem realen Zusammenbruch der kommunistischen Welt anderthalb Jahrzehnte vorausging.

Es war die Tat eines Einzelnen und eines Dissidenten. Durch sie wurde Solschenizyn der größte und berühmteste Name der russischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vieles kam dabei zusammen: seine politische Rolle, sein literarischer Rang, nicht zuletzt sein Anspruch, das wahre, ursprüngliche, das "heilige" Russland zu repräsentieren. Das Bild des Autors hatte viele Facetten, und nicht nur in der Zeit seines wachsenden Ruhmes gab er Anlass zu ideologischem Streit. In den späten 60er und frühen 70er Jahren wurde er im Westen als Held und Märtyrer gefeiert und mit dem Nobelpreis dekoriert, doch schon wenig später, spätestens seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, wurde er auch in seinem westlichen Exil als Reaktionär und Chauvinist geschmäht. Nicht nur die Revolution frisst ihre Kinder, auch viele Dissidenten erleiden das Schicksal, vom Schwungrad der Geschichte überrollt zu werden.

Alexander Solschenizyn wurde 1918 in Kislowodsk am Kaukasus geboren. Er studierte Mathematik und Physik, nebenbei in Fernkursen Geschichte, Philosophie und Literatur. Während des Zweiten Weltkriegs brachte er es, vielfach ausgezeichnet, bis zum Rang eines Hauptmanns, bis er 1945 wegen kritischer Äußerungen über Stalin verhaftet und zu acht Jahren Lager verurteilt wurde. Sein langer Leidensweg durch den Gulag und seine dabei gewonnenen Einsichten in das Sowjetsystem bildeten die Grundlage, auf der sein gesamtes, riesig umfangreiches Werk über ein halbes Jahrhundert hinweg allmählich wuchs. Auf die Zeit im Lager folgten drei Jahre Verbannung, bis mit dem XX. Parteitag von 1956 die Entstalinisierung, das sogenannte "Tauwetter", einsetzte. In der Verbannung begann Solschenizyn zu schreiben, unermüdlich und obsessiv. "Wäre ich Vernunftgründen gefolgt", bemerkte er später, "hätte ich nichts von all dem geschrieben. Aber ich habe geschrieben beim Mauern, in überfüllten Baracken, auf Transport, sterbenskrank an Krebs, als Verbannter in einer winzigen Bauernhütte, in der Pause zwischen zwei Schulstunden. Ich schrieb, ohne mich von Gefahren, Hindernissen oder vom Ruhebedürfnis abhalten zu lassen."

Schreiben als Überlebensversuch unter dem inneren Zwang, Zeugnis abzulegen. 1958 schloss Solschenizyn den Roman Der erste Kreis der Hölle ab, an dessen Veröffentlichung trotz des "Tauwetters" nicht zu denken war. Die Hauptarbeit dieser Jahre aber galt der Materialsammlung zu zwei gigantischen Projekten: einmal der gültigen Darstellung des Archipel Gulag als Dokumentation und Analyse das Lagersystems; zum anderen der historisch exakten, in erzählerischer Form präsentierten Geschichte der sowjetischen Revolution und des Bürgerkriegs bis zur großen Hungersnot von 1922.

Jahrelang hielt Solschenizyn all diese Arbeiten unter Verschluss. "Ich war", schrieb er, "bis 1961 nicht nur sicher, dass ich zu meinen Lebzeiten keine einzige Zeile von mir gedruckt sehen würde, ich wagte es aus Angst vor Entdeckung nicht einmal, irgend jemandem außerhalb meines engsten Freundeskreises irgend etwas von meiner Arbeit zu zeigen". Erst auf dem Höhepunkt der Entstalinisierung 1961, die von dem damaligen Generalsekretär Chruschtschow vorangetrieben wurde, entschloss sich Solschenizyn zu dem Versuch, an die Öffentlichkeit zu gehen. Er überließ Lew Kopelew, einem Gefährten aus dem Lager, das Manuskript der Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, die in einem Straflager spielt, zur Weitergabe an Alexander Twardowski, den Chefredakteur der Zeitschrift Nowyj mir. Er startete eine Flüsterpropagandakampagne für die Erzählung und spielte sie Chruschtschow zu, der sie sich vorlesen ließ. Sie passte ins Konzept des Generalsekretärs, auch wenn er damit die Geister rief, die er später nicht zu bannen wusste. Mit seiner Erlaubnis erschien Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch 1962 in Nowyj mir - es trug nicht unwesentlich zu Chruschtschows späterem Sturz bei.

Die Erzählung erregte ungeheures Aufsehen, nicht nur durch das Was, sondern auch das Wie der Darstellung. Nicht nur wurden die Tore der sowjetischen Straflager erstmals aufgestoßen, das Außergewöhnliche lag noch mehr darin, dass ein Straflager hier als etwas scheinbar Normales und Gewöhnliches beschrieben wurde, ohne Pathos, undramatisch, scheinbar emotionslos. Aber gerade die bewusst naive Erzählweise aus der Perspektive eines einfachen Mannes machte das Absurde und Menschenfeindliche des Systems erschütternd deutlich. "Das zentrale Problem", schrieb Georg Lukács unter dem Eindruck der Lektüre, "ist heute die kritische Aufarbeitung der Stalinzeit".

Alle Augen richteten sich von nun an auf den bislang unbekannten Autor, der schon bald in Schwierigkeiten geriet. Der Lagerroman Der erste Kreis der Hölle wurde von der Zensur einbehalten. Zur Verschärfung des Konflikts kam es 1968, als Solschenizyn seine Bücher, darunter Die Krebsstation, im Westen zu veröffentlichen begann. 1969 wurde er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Als ihm im Jahr darauf der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, stieß dies auf schärfste Kritik der sowjetischen Stellen. Der Autor zog es vor, nicht nach Stockholm zu reisen, in der berechtigten Sorge, die Rückkehr nach Russland könne ihm verwehrt bleiben. Seine Austreibung konnte er damit zwar verzögern, aber nicht aufhalten. Das Manuskript des Archipel Gulag gelangte auf geheimen Wegen nach Paris, wo es 1974 veröffentlicht wurde. Die Wirkung war enorm, und Solschenizyn wurde unverzüglich ausgewiesen. Er kam zunächst in die Bundesrepublik, fand einige Tage Asyl in Heinrich Bölls Landhaus in der Eifel, ging von dort über Zürich nach Vermont, USA, wo er siebzehn Jahre verbrachte und das andere seiner beiden Großprojekte vollendete, den Zyklus Das Rote Rad über die Epoche der Revolution und des Bürgerkriegs.

Seine historische Rolle bleibt für immer mit dem Archipel Gulag verknüpft, dem dreibändigen Erzählwerk, das man zögert, einen Roman zu nennen, weil man darunter meist die Darstellung fiktiver Ereignisse versteht. Die Personen und Ereignisse seines Buches aber hat Solschenizyn nicht erfunden, er nahm sie aus der Geschichte seines Landes. Das Buch ist eine Chronik oder ein dokumentarischer Bericht: eine Gesamtdarstellung des Sowjetstaates in der Zeit von Lenin und Stalin, dieser Epoche der Verschleppungen und Massenvernichtungen, der Schauprozesse und Straflager, der Fünfjahrespläne und der Revolution von oben. Ein Stoff, der unter dem selbstgestellten Anspruch einer "künstlerischen Bewältigung" von seinem Autor Übermenschliches verlangt, mehr, als selbst der Erfindungsgeist eines Einzelnen vermag. Solschenizyn war sich dessen bewusst, im Prolog schrieb er: "Dieses Buch allein zu schaffen, hätte ein einzelner nicht die Kraft gehabt".

Es besteht aus vier Teilen, vier Erzählsträngen, die ineinander verflochten sind. Da sind zunächst die historischen Rückblicke, geschrieben wie aus der Vogelperspektive, monumentale Freskogemälde, Bilder von Menschenströmen und Sklavenkarawanen, auf denen das individuelle Leid für das Auge des Betrachters kaum erkennbar ist. In einem zweiten Strang hat Solschenizyn zahllose Zeugenberichte verarbeitet, Verhaftungs- und Verhörszenen, Gefängnis- und Lagererfahrungen, persönliche Schicksale, in denen greifbar wird, was die große Zahl verschweigt. Mit der Unerschrockenheit des Chronisten reiht er Hunderte von Geschichten aneinander, aus jeder einzelnen tritt die Absurdität des Ganzen hervor. Es sind diese Passagen, die Solschenizyns spätere Feststellung rechtfertigen, das Buch sei "mit dem Blut von Millionen geschrieben".

Doch spart der Autor das eigene Schicksal, die eigenen Erfahrungen nicht aus - aus ihnen gewinnt das Buch seine atmosphärische Dichte und psychologische Vertiefung. Und schließlich sind da die kommentierenden Passagen, die bewunderungswürdige intellektuelle Durchdringung des Stoffes, die philosophische Weite, die persönlichen Ansichten zu Revolution und Sozialismus. Das alles wird vorgetragen mit einer epischen Kraft, die sich aller Formen mächtig und jedem Stoff gewachsen weiß. Die literarischen Kunstmittel werden souverän eingesetzt: Satire und Lamento, Ironie und Pathos, die Überspitzungen ins Groteske, die satirische Verfremdung. Zum Beispiel die artistische Darstellung einer Bezirksparteikonferenz. Ein Schreiben an Stalin wird aufgesetzt und angenommen. Alle klatschen. Ovationen. Vier Minuten, fünf Minuten. Doch wer wird aufhören? Keiner wagt es, alle haben Angst. "Sie klatschen und werden klatschen, bis sie hinfallen, bis man sie auf Tragbahren hinausbringt! ... im kleinen, unbedeutenden Saal wird geklatscht ... und Väterchen kann's gar nicht hören." Der Witz entlarvt. Wie anders wäre dieser Wirklichkeit beizukommen! In solchen Szenen ist Solschenizyn der Erbe Gogols, so wie er in der Darstellung der Lager der Erbe Dostojewskis und Tschechows ist; in der formalen Anlage des Buches wiederum erkennt man Tolstois Krieg und Frieden als Maßstab und Muster. Im Archipel Gulag fließen verschiedene Strömungen der russischen Literatur zusammen.

"Als der Krieg ausbrach, waren seine wirklichen Schrecken ein Segen im Vergleich mit der unmenschlichen Macht der Lüge." Der Satz steht in Pasternaks Doktor Schiwago, doch er gilt auch für die Intention Solschenizyns, der Macht der Lüge mehr als die bloße Faktizität entgegenzustellen. Der Archipel Gulag ist die Beschreibung einer Epoche aus ihren Ruinen, eine der großen Erinnerungsspuren, die von Millionen Menschen geblieben ist.

Seine unmittelbare Wirkung tat das Buch zunächst im Westen. Die schieren Fakten, die hier zusammengetragen sind, im Verein mit Solschenizyns sprachlicher Gewalt, fegten alle ideologischen Vorbehalte hinweg, enthüllten sie als eine Art intellektueller Feigheit gegenüber der Wirklichkeit des kommunistischen Systems. Daran krankten fortan die kommunistischen Parteien des Westens, die letzten Lobreden auf den "realen Sozialismus" wurden nur noch mit belegter Stimme vorgebracht. Solschenizyns Fundamentalkritik betraf nicht nur den Stalinismus, sondern auch den Leninismus, die Oktoberrevolution, die marxistische Ordnung insgesamt.

Später erkannte man hinter solcher Dissidenz eine andere, ältere und tiefere Schicht: die Vorstellung einer urchristlichen, zugleich urrussischen, zutiefst antimodernen Gesellschaftsordnung auf der Grundlage von Besitzlosigkeit und Bedürfnislosigkeit. Nicht verwunderlich, dass Solschenizyn dadurch im Westen fast schlagartig seine Wirkung und auch viele Sympathien einbüßte. Es dauerte zwanzig Jahre, bis er 1994, inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, in seine russische Heimat zurückkehrte, auch hier mit seiner Beschwörung slawophiler Orthodoxie nur noch ein Außenseiter. Auf späten Fotos sah er immer mehr wie ein bäurischer Heiliger aus, ein Eremitenmönch, der sich berufen fühlte, ein Repräsentant des wahren, des ewigen Russlands zu sein. Seine Bücher, voran der Zyklus Das rote Rad, den Solschenizyn in unermüdlicher Arbeit noch vollendete, fanden eine immer kleinere Leserschaft, der Autor selbst, der so Ungeheures bewirkt hatte, schien sich mit eben dieser Wirkung selber überlebt zu haben. Doch am Tage seines Todes war er weltweit noch einmal ein Name und ein Gesicht für die Titelseiten.

Hanjo Kesting (*1943): Seit 2006 ist er Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Im Mai ist von ihm bei Wallstein erschienen: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2008, S. 65-68
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2008