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AKZENTE/137: Die große russische Erzählung (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 29/30 vom 19. Juli 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die große russische Erzählung
Einige Bemerkungen zu Lew Tolstoi in der Hoffnung die Lust am Lesen zu entfachen

von Klaus Wagener



Eine Abendgesellschaft. Wer zur gesellschaftlichen Elite gehören will, spricht eine Fremdsprache. Es wird ironischerweise die Sprache der Eroberer sein, die das Land und seine Führungsschicht bis in die Grundfesten erschüttern. Noch verläuft alles in beruhigend wohlgeordneten Bahnen. Auch als Pierre, ein aus dem Ausland zurück gekehrter, großer, etwas zerstreuter junger Mann mit seinen fremden, "gotteslästerlichen" Ideen für staunendes Unverständnis sorgt, kann die Dame des Hauses die Situation souverän einfangen und kanalisieren. Alle sind viel zu selbstzufrieden mit sich beschäftigt, als dass der Gedanke an Veränderung ernsthaft Raum greifen könnte.

Andrej, anders als sein eifriger Freund Pierre, der Ignoranz, der kleinlichen Ränke und sich selbst genügender Rituale überdrüssig, hat sich in eine müde, gelangweilte Abwesenheit zurückgezogen. Zwar absolviert er mit seiner "reizenden", ihm aber höflich-gleichgültigen Gattin Lisa das gesellschaftliche Pflichtprogramm, was seinen spöttischen Skeptizismus aber nur umso größer werden lässt. Desillusioniert beobachtet er die Bemühungen Pierres mit freundlichem, aber hoffnungslosem Interesse. Allenfalls das Elementarereignis des herannahenden Krieges vermag ihn noch einmal aus seiner Zurückgezogenheit zu reißen. Er meldet sich als Adjutant des Oberbefehlshabers Kutusow an die Front. In einer Aufwallung seiner bislang unterdrückten Leidenschaften, der Chance, sich in einer Ausnahmesituation zu beweisen, stürmt er in aussichtsloser Lage gegen den Feind, fällt schwer verwundet und muss von den zurückflutenden eigenen Leuten zurück gelassen werden.

Pierre, zurückgeblieben in der Hauptstadt, wird durch Erbschaft zu einem der reichsten Männer des Landes. Obwohl weiterhin unsicher, beinahe schüchtern seinen Platz in der Gesellschaft wie im Leben suchend, verhelfen ihm Vermögen und Titel zu einer privilegierten Position und zu einer ungeahnten Attraktivität für gewisse Damen. Eigentlich weiß er mit der ebenso schönen wie einfältig-selbstsüchtigen Hélène wenig anzufangen. Trotzdem, er sah, was er sehen sollte, und unter der Regie seines entschlossenen zukünftigen Schwiegervaters kommt es zur Heirat und der zu erwartenden ehelichen Katastrophe. In St. Petersburg geht das Leben weiter. Die Niederlage im Feld liegt weit entfernt im Ausland. Schnell kehrt die Elite zu ihren alten Gewohnheiten, Egoismen und kleinlichen Händeln zurück. Aber es ist nur eine Galgenfrist. Der Krieg, der große Veränderer, hat nur eine Pause eingelegt. Ihm wird sich am Ende niemand entziehen können.


Aus Freude am Lesen

Vielleicht braucht es eine Begründung, warum 2013, in Zeiten des Dschungelcamp und Channel-Hopping, diese Zeitung einen fast 150 Jahre alten 1.800-Seiten-Roman vorstellt. Dazu eine Geschichte einer versunkenen Gesellschaft, die sich vor 200 Jahren abspielte. Nun, die Begründung ist einfach: Aus Freude. Aus der Freude am Lesen und am Lernen. "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", sagt Aristoteles in der "Metaphysik". Wer das möchte, kommt hier auf seine Kosten. Aber nicht nur das, einmal angefangen, kann man das Buch kaum aus der Hand legen.

Tolstoi ist ein begnadeter Beobachter des realen Lebens. Es treten zahlreiche, höchst unterschiedliche, aber immer echte Menschen auf. Mit alltäglichen Sorgen und Emotionen, mit ihrem Ehrgeiz, ihrer Bescheidenheit, ihrem Versagen, ihren Erfolgen. Diese rund 250 in "Krieg und Frieden" vorgestellten Charaktere, teils historische Personen teils gesellschaftliche Archetypen, repräsentieren einen breiten, wenn auch an der aristokratischen Elite orientierten Querschnitt der russischen Gesellschaft. Im Zentrum fünf Adelsfamilien, befangen in ihren ideologischen wie lebenspraktischen Klassengrenzen und festgelegt auf den standesgemäßen Gestus und Habitus. In ihrem individuellen Streben werden sie Teil des historischen Prozesses von 1805 bis zum Ende der Napoleonischen Kriege. Und geradezu kathartisch wirkt die Wucht der Kriegsereignisse auf ihre Gedanken, ihr Wollen und Fühlen, auf die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit zurück.


Die Pflicht zu leben und glücklich zu sein

Andrej, nur knapp dem Tode entronnen, erkennt unter dem Eindruck des brutalen Mordens im Krieg immer deutlicher die Sinnlosigkeit allen Strebens. Sein Nihilismus verstärkt sich, als Lisa bei der Geburt seines Sohnes stirbt. Skeptisch gegen alle Heils- und Tugendlehren, wird er zurückgeworfen auf eine stoisch-asketische Selbstgenügsamkeit. In dieser Weltabgewandtheit lebt er hinlänglich zufrieden - bis er die blutjunge Natascha Rostowa sieht. "Grau, teurer Freund, ist aller Theorie / Und grün des Lebens goldner Baum," lässt Goethe 60 Jahre zuvor seinen Mephistopheles bekennen.

Auch Pierre sucht weiter seinen Weg. Sein Reichtum hat ihn zwar unabhängig, aber nicht glücklich gemacht. Seine geltungssüchtige wie untreue Ehefrau und sein allzu treusorgender Schwiegervater gängeln den Gutmütigen in ihrem durchsichtigen Interesse. Nachdem er in einem Duell beinahe den Geliebten seiner Frau erschossen hatte, hofft er fast verzweifelt bei den Freimaurern Antworten auf seine Lebensfragen und einen Kreis Gleichgesinnter zu finden. Vergeblich, wie ihm schmerzhaft bewusst wird.

Um die Verbesserung der Lage "seiner" Bauern bemüht, versucht Pierre Arbeitserleichterungen zu schaffen, lässt Schulen bauen. Mit eher fragwürdigem Erfolg. Andrej entgegnet ihm, auf einen Bauern zeigend: "Ich beneide ihn, und du willst ihn mir gleich machen, ohne ihm meine Mittel zu geben." Erst 1861 erfolgt die Aufhebung der Leibeigenschaft. Und dem Realisten Tolstoi ist klar, dass eine wirkliche Bauernbefreiung von mehr abhängt als der Gewährung individueller Bewegungsfreiheit. Er schafft mit der Figur des naiv-schlitzohrigen Karatajew eine Art bäuerlich-lebensfrohen Gegenentwurf zur verkommen-egoistischen Adelsclique. Für Pierre, der ihm in der französischen Gefangenschaft begegnet, wird er nicht nur zu der entscheidenden mentalen Stütze die ihm hilft trotz aller Widrigkeiten zu überleben, sondern er wird prägend für sein weiteres Denken und Fühlen.

Im vielfachen Scheitern seiner großen Sinnsucher, dem Fürsten Andrej Bolkonskij und dem Grafen Pierre Besuchow, diskutiert Tolstoi die großen Ideen seiner Zeit. Er hatte auf einer Europareise Victor Hugo, Pierre-Joseph Proudhon und andere getroffen, hatte Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung" gelesen. Seine Skepsis gegenüber seiner Klasse, ihren verknöcherten Institutionen und korrumpierten Überzeugungen entwickelt sich organisch aus dem Leben seiner Figuren. Alles ist von einem tiefen humanen Bekenntnis zum Leben durchdrungen. (Und einer untergründigen Angst vor dem "Mysterium des Todes") Wenngleich seine gewissermaßen pantheistischen, Bergpredigt-inspirierten Lösungsansätze zuweilen etwas pädagogisch-moralisierend daher kommen.


Die Invasion

Die Invasion Napoleons stellt die selbstzufriedene Russische Adelsgesellschaft vor eine existentielle Herausforderung: Kämpfen oder untergehen. Nicht alle werden kämpfen. Viele versuchen auch mit dem Krieg, mit den Invasoren, ihre Geschäfte zu machen. Die Hauptlast hat wie immer die einfache Bevölkerung, haben die Bauern zu tragen. Die schicksalhafte Bewährungsprobe, in der es sich erweist, ob eine Gesellschaft die notwendigen materiellen, ideologischen und mentalen Ressourcen, die notwendige Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Ausdauer zu mobilisieren in der Lage ist, produziert elementare Entscheidungssituationen en masse. Das literarische Interesse liegt auf der Hand. Autobiographisches, Ethisches, Politisches und Militärstrategisches kann verhandelt werden. Tolstoi, selbst Veteran des Krimkrieges, nutzt gerade die Kriegspassagen, die Niederlage bei Austerlitz, die Entscheidungsschlacht von Borodino, die Plünderung und den Brand Moskaus für weitreichende geschichtsphilosophische und historiographiekritische Betrachtungen. Die Geschichte der Großen Männer, beispielhaft ausgeführt in der Apotheose des genialen Feldherrn Napoleon, ist ihm geradezu ein Dorn im Auge. Das Anti-Humane des großen Mordens, die Lobpreisungen seines Anführers lassen ihn in langen, argumentativ geführten Passagen aus seiner Geschichte fallen. Selbst Kutusow, der Führer dieses gerechten Volks- und Befreiungskrieges, ist vor allem in der Zurückhaltung bedeutend. Indem er dem, was sich ohnehin ereignet, eben nicht arrogant seinen Willen aufzwingt.

Die breit dargestellten Grausamkeiten des Schlachtfeldes spiegeln sich in der Zerstörung der großen Liebe des Romans. Einer Zerstörung, die umso schmerzlicher gerät, da sie mit ihrem neuen Erblühen zusammenfällt. Natascha Rostowa, eine der hinreißendsten Frauengestalten Tolstois, bleibt nicht mehr, als ihren sterbenden Geliebten zu beweinen. Das Schicksal Unzähliger.


Das Nationalbewusstsein

In der Niederlage Napoleons, dem elenden Untergang der Grande Armee auf ihrem Rückzug, formt sich ein nationaler Mythos der Unbesiegbarkeit, dem Tolstoi eine literarische Form gibt. Zumal, nachdem zuvor nahezu alle Herrscher Europas vor dem Korsen ihr Haupt geneigt hatten. Es ist die große Erzählung der nationalen Einheit, der Verteidigung der russischen Erde, der überlegenen mentalen und moralischen Stärke und zugleich der Dekadenz seiner herrschenden Klasse, die Tolstoi zum "populärsten russischen Autor" (Turgenjew) werden ließen. Tolstoi schreibt 1863-1868, in der Reformphase Alexander II. (1855-1881). Alexander betreibt neben der Bauernbefreiung und Gewerbeerleichterungen insbesondere eine Modernisierung der Armeeorganisation und die Beendigung des Krimkrieges. Die Parallelen zu den Napoleonischen Kriegen liegen im Vorfeld des II. Weltkrieges natürlich auf der Hand. Die junge Sowjetunion ermöglicht schon bald eine Gesamtausgabe des Dichters und eine Hundertjahrfeier (1928) mit internationalen Gästen auf Jasnaja Poljana (Tolstois Landgut). "Vorläufig sitzen die Imperialisten da und warten auf einen günstigen Augenblick, um die Bolschewiki zu vernichten", hatte Lenin geschrieben. Dass dieser Augenblick bald kommen würde, war 1933, nach der Machtübertragung in Deutschland endgültig klar. Neben der Schaffung einer militärisch-industriellen Basis wurde die Stärkung der ideologisch-moralischen Einheit überlebenswichtig. Viele waren bereit für die Verteidigung des Sozialismus zu sterben, aber für die Verteidigung der russischen Erde wohl deutlich mehr.


Verfilmungen

Nach der ziemlich albernen US-Fassung von 1956, die wie eine amerikanische Familienschmonzette in zaristischen Uniformen wirkt, (das einzige was stimmt, ist Anita Ekberg als Hélèna Kurágina), stemmte Sergej Bondartschuk 1967 das Epos mit einer kongenialen wie monumentalen 7-Stunden-Fassung. Bondartschuk überzeugt mit einem werknahen Skript, einer stimmigen Besetzung, wie einer bildmächtigen Ausdruckskraft, die an die frühen Jahre des sowjetischen Films anzuknüpfen wusste. Allerdings ist er offenbar an dem russischen Publikum orientiert: Man sollte also vorher das Buch gelesen haben (Für den US-Film dagegen sollte man es besser nicht gelesen haben). Zu Drehbeginn Bondartschuks, 1965, hatte die Welt gerade die Kuba-Krise überlebt. Der nukleare Overkill war - von US-amerikanischer Seite - erreicht. Die dementsprechende US-Militärdoktrin, Massive Retaliation (massive Vergeltung), nahm, bei gegebenem Anlass, den Tod von mehr als einer Viertel Milliarde Russen und Chinesen billigend in Kauf. Dagegen blieben der Humanismus und die Ächtung des Krieges bei Tolstoi ein unverzichtbares Momentum. Ein Prinzip, von dem, kaum 20 Jahre nach ihrem "vorläufigen Endsieg", die siegreiche Gesellschaftsformation weiter entfernt zu sein scheint denn je. Der Krieg ist zu einer permanenten Veranstaltung erklärt, bei der alle, ob Bürger oder Staat, überwacht werden und jeder aus irgendeinem Grund auffällige drastische Maßnahmen gegen sich, von der Verhaftung, der Entführung bis zur Killerdrohne oder letztlich dem Angriffskrieg zu gewärtigen hat.


Der Aufstand

Im Epilog diskutiert Pierre mit Nikolai Rostow über die Notwendigkeit von Veränderung und den "Zusammenschluss aller wirklich konservativen Elemente". Tolstoi kommt damit auf sein Ausgangsthema, den Dekabristen-Aufstand zurück. Am 26. Dezember 1825 hatten "adlige Offiziere, die, durch Berührung mit den demokratischen Ideen Europas während der Napoleonischen Kriege infiziert, die politische Bewegung leiteten" (Lenin) den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I. verweigert. Es ging um die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Durchsetzung bürgerlicher Freiheiten. Der Aufstand blieb isoliert und brach schnell zusammen. Die Führer wurden gehängt, Hunderte nach Sibirien verbannt. "Die Masse der Soldaten, die damals noch aus leibeignen Bauern bestand, verhielt sich passiv" (ebd.). Bis zur großen Umwälzung sollte es noch 92 Jahre dauern.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 29/30 vom 19. Juli 2013, Seite 12
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2013