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AKZENTE/140: Die Verschmelzung von Mensch und Maschine - Der Erste Weltkrieg aus literarischer Sicht (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin
Ruhr-Universität Bochum

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine

Der Erste Weltkrieg aus literarischer Sicht

von Raffaela Römer
25. September 2015


Der Erste Weltkrieg gilt als Initialzündung für technische Innovationen. Das Verhältnis Mensch - Maschine veränderte sich drastisch. Wie sich das in der Literatur widerspiegelte, haben zwei Doktoranden der Mercator Forschergruppe "Räume anthropologischen Wissens" untersucht.


Halbporträts - Foto: © RUBIN, Gorczany

Kevin Liggieri (links) und Felix Hüttemann (rechts) erforschen die Literatur des Ersten Weltkriegs.
Foto: © RUBIN, Gorczany


Kevin Liggieri und Felix Hüttemann teilen sich nicht nur ein Büro, sondern auch ihre Leidenschaft für Literatur. Dass sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges kürzlich zum hundertsten Mal jährte, nahmen die beiden Doktoranden der Mercator Forschergruppe "Räume anthropologischen Wissens" zum Anlass, sich mit dem Komplex Mensch - Maschine auseinanderzusetzen. Beide wollen herausfinden, wie sich dieses Verhältnis im Ersten Weltkrieg änderte und ob heutige Ansichten über Maschinen damals ihren Ursprung hatten. Während sich Medienwissenschaftler Felix Hüttemann dabei vor allem auf Schriften des Offiziers und Literaten Ernst Jünger konzentriert, machte sich Philosoph Kevin Liggieri daran, die Darstellung der Kriegsfliegerei näher zu betrachten. Beide Ansätze ergänzen und überschneiden sich allerdings, lässt sich Ernst Jünger in seinen Texten doch auch über die Fliegerei aus.

Ernst Jünger zählt zu den Klassikern der Nachkriegsliteratur. Er wurde 1895 als Sohn eines Apothekers in Heidelberg geboren und meldete sich 1914 freiwillig als Soldat. Nach dem Krieg, in dem er sich als Stoßtruppführer einen Namen machte, studierte er Naturwissenschaften und Philosophie. Jünger vertrat Ideen der "Konservativen Revolution", sympathisierte aber nicht mit den Nazis. Kritisiert wurde an seinen Schriften schon früh die Verherrlichung von Gewalt. Dennoch attestierten ihm Schriftstellerkollegen von Rang und Namen eine große Bedeutung für die deutsche Literatur.

Sein 1920 erschienenes Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" gilt als eine der bekanntesten Darstellungen der Materialschlachten im Ersten Weltkrieg. Materialschlacht deshalb, weil zum ersten Mal massenweise Material wie Bomben, Panzer und Versorgungsmaterialien eingesetzt wurden.

"Zum 'Verbrauchsmaterial' zählten aber auch die Soldaten", so Felix Hüttemann. "Der Erste Weltkrieg war in dieser Hinsicht anders als alle zuvor geführten Kriege. 65 Millionen Soldaten wurden eingesetzt, 20 Millionen starben, 21 Millionen kamen als Verwundete zurück. Der einzelne Mensch wurde dabei kaum sichtbar. Trugen die Soldaten in vorherigen Kriegen zum Beispiel unterschiedlich bunte Uniformen, waren sie im Ersten Weltkrieg zum ersten Mal alle einheitlich in Tarnfarben gekleidet, die Gesichter waren zum Teil von Gasmasken verdeckt."

Durch den Ersten Weltkrieg veränderte sich das Verhältnis der Menschen zu Technik und Maschinen. Statt Pferd und Bajonett spielten nun Panzer und Schnellschussgewehre die Hauptrolle. "Es kam zu einer Verschiebung in der Perspektive vom bloßen Instrument hin zum entscheidenden Faktor, geradezu zum eigenständigen Handlungspartner im Schlachtgeschehen", sagt Hüttemann. So formuliert Ernst Jünger in seinem Aufsatz "Die Maschine": "Wir dachten sie als eiserne Krieger für uns arbeiten zu lassen und sind stattdessen in ihr Getriebe geraten." Später griffen andere wie der deutsche Philosoph und Logiker Gotthard Günther diesen Gedanken auf: "Eine Maschine ist nichts anderes als ein - innerhalb gewisser Grenzen - autonom gewordenes Werkzeug", schreibt er 1963. Mit seinen technisch-philosophischen Gedanken sei Ernst Jünger in der Tat ein Vorreiter seiner Zeit gewesen, resümiert Felix Hüttemann nach seiner Recherche der Nachkriegsliteratur. "In den Schriften von Jünger sind Ansätze enthalten, die wir heute mit aktuellen Ideen wie der Akteur-Netzwerktheorie verbinden. Dabei geht es darum, sogenannte Symmetrisierungen zwischen Mensch und Maschine zu sehen. Nach dieser Theorie sind alle Handelnde, es gibt keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, keine Hierarchie zwischen Mensch und Maschine."

Die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwamm im Ersten Weltkrieg auch teilweise in der Kriegsfliegerei, mit deren Darstellung in der Literatur sich Kevin Liggieri intensiv auseinandergesetzt hat. Neben Büchern über die damalige Zeit nutzte er historische Dokumente wie Aufzeichnungen von Piloten, Feldberichte und Tagebucheinträge zur Recherche. "Meine Ausgangsfrage war, ob die Symmetrie Mensch - Maschine wirklich da gewesen ist oder nur literarisch dargestellt wurde", so Liggieri. Seine These: "Ich denke, Literatur hat eine ordnende Funktion. Sie will mit neuen Dingen umgehen, die wir noch nicht ganz verstehen. Dafür zeigt sie Analogien, Bilder auf, die uns das Verstehen erleichtern sollen. Sie behält stilistisch traditionelle Mittel bei, um mit der neuen Situation umgehen zu können." Auf die Darstellung der Kriegsfliegerei bezogen bedeute dies, so Liggieri, dass die Fliegerromane oftmals ähnlich wie Abenteuerromane aufgebaut waren. Mit dem Piloten als Helden, der die "wilde" Maschine - ähnlich einem wilden Pferd - bändigt und schließlich als Einheit mit ihr verschmilzt, um den Feind zu besiegen.

Im Ersten Weltkrieg spielte das Flugzeug eine wichtige Rolle. Obwohl man zu Beginn des Krieges Flugzeuge nur zu Aufklärungszwecken einsetzte, wurde recht schnell das Potenzial dieser neuen Waffentechnik erkannt. Es entstand eine eigene Kriegsindustrie, die eine Vielzahl von Ingenieuren und Wissenschaftlern um sich versammelte. Die neue Technik löste in der Bevölkerung bald eine wahre Flugbegeisterung aus. Dies sei zum Teil auch der literarischen Darstellung der Fliegerei geschuldet, meint Kevin Liggieri: "Der Krieg aus der Luft wurde in den damaligen Medien ähnlich beschrieben wie der Krieg zu Pferde. Die Piloten waren die Ritter unter den Soldaten. Viele von ihnen waren Adelige." So auch der wohl bekannteste Kriegspilot des Ersten Weltkriegs, Manfred von Richthofen, auch bekannt als "Der rote Baron". Als Jagdflieger erzielte er mit seiner Maschine, einem rot lackierten Fokker-Dr.I-Dreidecker, die höchste Anzahl von Luftsiegen. Das Besondere an diesem Typ Flugzeug waren seine Wendigkeit und Schnelligkeit, die dem Piloten ein völlig neues Flug- und Kampfgefühl ermöglichten.

Problematisch wurde es, wenn die Interaktion Pilot - Flugzeug nicht reibungslos funktionierte. Wenn sich die Maschine, zum Beispiel bei Motorproblemen, gewissermaßen "zornig empörte", wie Schriftsteller Antoine Saint-Exupéry schreibt. "Zusammenfassend werden zwei Tendenzen in der technischen Entwicklung im Ersten Weltkrieg sichtbar", so Kevin Liggieri. "Zum einen bekommt die Maschine Eigenmacht als Handlungsträger, weil sie zum Beispiel Luftkämpfe entscheidet und Helden wie Richthofen entstehen lässt. Auf der anderen Seite hat man mit dem Pilot-Flugzeug-Netzwerk aber auch nicht einfach einen reibungslos funktionierenden Hybriden vor sich." Im Kern kreise die Problematik also um "Vertrauen/Verbinden" auf der einen und "Misstrauen/Unheimlichkeit" auf der anderen Seite. Die in der Literatur angewandte traditionelle Tier- beziehungsweise Mensch-Maschine-Analogie ist eine Möglichkeit, mit der Technik als neuer Form umzugehen. So wie die Maschine durch ihre Bewegung zum Organismus wird, so wird der Mensch mit seinen "Nerven aus Stahl" mechanisiert. "Die Akzeptanz der unheimlichen Technik verläuft hier über Annektierung", so Liggieri. "Die Literatur versucht als Ordnungssystem Mensch und Maschine einander vermittelnd anzunähern."


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2015

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