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BERICHT/055: Anna Politkovskaja, die unerschrockene Chronistin (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2007

Anna Politkovskaja - die unerschrockene Chronistin

Von Hans-Martin Lohmann


Die im Oktober 2006 ermordete russische Journalistin Anna Politkovskaja hat in ihrem postum erschienenen 'Russischen Tagebuch' vom Dezember 2003 bis zum August 2005 die bestürzenden Exzesse im Russland Wladimir Putins festgehalten: die Zunahme der staatlichen Gewalt, die geheimdienstliche Durchdringung der Gesellschaft, Elend und Brutalität in der Armee, die Ohnmacht und Rechtlosigkeit der Opfer des Regimes, die Grausamkeitsorgien des Tschetschenienkrieges. Der Rezensent tritt dafür ein, der ermordeten Freiheitskämpferin den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu verleihen.


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Selbst die zynische Formel von der "gelenkten Demokratie", die Wladimir Putin einst für sein Land kreierte und hierzulande manchen dankbaren Apologeten fand, ist ein ruchloser Euphemismus. Und Gerhard Schröders berüchtigter Persilschein für den russischen Präsidenten, dieser sei ein "lupenreiner Demokrat", erfüllt den Tatbestand der Irreführung der Öffentlichkeit.

Für den Westen mag es schwerwiegende außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Gründe geben, die gedemütigte ehemalige Hegemonialmacht Russland diplomatisch zu hofieren und sie nicht in die Isolation zu treiben - aber es gibt keinen Grund, die innerrussischen Machtverhältnisse in irgendeiner Weise zu verharmlosen oder zu beschönigen.

Putins Russland - wie soll man es beschreiben und charakterisieren? Die politischen Beobachter tun sich schwer, die Mischung aus "Markt und Dogma" (Anna Politkovskaja), aus Raubtierkapitalismus und postsowjetischem Staatsfunktionärstum, aus Verschwendung und Armut, aus Konsumismus und Korruption auf den Begriff zu bringen.

Die einen sprechen von "Beschleunigungsdiktatur" und einer "Kriminalgeschichte des Kapitalismus" (Rüdiger Safranski), andere von einer "todkranken" Gesellschaft (Sonja Mikich). Wer nicht völlig seine Urteilsfähigkeit verloren hat, erkennt unschwer, dass Russland unter Putin fast alle Merkmale einer demokratischen Zivilgesellschaft - Geltung der Menschenrechte, unabhängige Justiz, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, freie Presse etc. - abgeschafft hat. Faktisch haben wir es mit einer Diktatur zu tun, die sich aus optischen Gründen hier und da mit ein paar demokratischen Girlanden umgibt.

Die im Oktober 2006 ermordete Journalistin Anna Politkovskaja - der Mörder und seine Hintermänner sind bis heute nicht ermittelt, geschweige vor ein ordentliches Gericht gebracht worden - hat mit seltener Hartnäckigkeit und mit bewundernswertem persönlichen Mut jahrelang gegen die politischen und sozialen Verhältnisse in ihrem Land angeschrieben, wohlwissend, dass sie damit ihr eigenes Todesurteil formulierte: Sie wurde das dritte Opfer aus dem Redaktionsteam der unabhängigen oppositionellen Wochenzeitung NOWAJA GASETA. Vor ihr starben Igor Domnikow "durch mehrere Hammerschläge auf den Kopf" und Juri Schtschekotschichin an einer "nicht identifizierbaren chemischen Substanz" und einer allergischen Schockreaktion - Mörder unbekannt. Aber jeder, der bei Trost ist, weiß, wer die Mörder und ihre Auftraggeber sind. Das gilt auch für den jüngst berichteten Fall (F.A.Z., 6.3.2007) des für die Zeitung KOMMERSANT arbeitenden Journalisten Iwan Safronow, der aus dem fünften Stock seines Wohnhauses stürzte. Angeblich Selbstmord. "Viele Menschen im meinem Land bezahlen mit dem Leben, weil sie laut sagen, was sie denken", schrieb Politkovskaja.

In ihrem postum erschienenen 'Russischen Tagebuch', das den Zeitraum zwischen Dezember 2003 und August 2005 umfasst, hat sie all das notiert und kommentiert, was man in Russland nicht mehr sagen, ja vielleicht nicht einmal mehr denken darf: die Zunahme der offiziellen und häufiger noch inoffiziellen staatlichen Gewalt, die geheimdienstliche Durchdringung der Gesellschaft, Elend und Brutalität in der Armee, die Ohnmacht und Rechtlosigkeit der Opfer des Regimes, das Weinen der Mütter und Frauen um ihre gefolterten, getöteten oder verschleppten Söhne und Männer, die Grausamkeitsorgien des Tschetschenienkrieges. Politkovskaja sieht nicht zuerst 'die Verhältnisse', so sehr sie diese auch beklagt, sondern vor allem die Menschen - was sie tun und was ihnen angetan wird. Über ein Video, das festgenommene tschetschenische Rebellen zeigt, die in einen Güterwaggon verladen werden, schreibt sie:

"Man glaubt, es mit einem Film über ein Konzentrationslager der Nationalsozialisten zu tun zu haben. Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag sind an einem Hügel postiert. Unten sieht man den Bahndamm mit dem Güterzug. Die Soldaten zielen auf die Rebellen, die aus den Lastwagen gestoßen werden oder selbst herunterspringen. Unter ihnen befinden sich auch zwei Frauen, die im Gegensatz zu den Männern vollständig bekleidet sind und keine Spuren von Misshandlungen aufweisen. Sie werden sofort zur Seite geführt. Die Männer und Jugendlichen (eine Einstellung zeigt das Gesicht eines etwa 15- bis 16-jährigen Jungen) sind in sehr schlechtem Gesundheitszustand, einige müssen von ihren Kameraden getragen werden. Fast alle weisen Verstümmelungen auf, haben Gliedmaßen verloren, bluten stark. Man sieht einen Mann mit einem halb abgetrennten Ohr, was die Offiziere deutlich hörbar mit der Bemerkung 'Bei dem haben sie's nicht richtig gemacht' kommentieren. Viele der Rebellen sind barfuß und vollkommen nackt. Kleidung und Schuhe werden ihnen aus den Lastwagen nachgeworfen. Die Männer wirken stark ausgezehrt... Die Begleitposten schlagen die Männer, aber nicht gezielt, sondern eher gleichgültig, gleichsam aus Gewohnheit... Die kräftigsten Rebellen müssen die während des Transports Gestorbenen aus den Lastwagen zerren und beiseite tragen. Am Schluss sieht man zwei Berge von Leichen neben den Gleisen. Mit den Stiefelspitzen drehen die Soldaten die Köpfe der Toten zu sich hin, um in die Gesichter zu sehen. Einfach aus Neugier, denn es wird nichts notiert oder registriert, keinerlei Dokumentation erstellt."

"Habe ich Angst?"

Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, hat keinen zu verlieren, schrieb einst Lessing. Fassungslos notiert Politkovskaja, dass nach der Veröffentlichung des Videos nichts passierte: keine Reaktion in der Öffentlichkeit, in den Massenmedien oder von Seiten der russischen Staatsanwaltschaft. Ausländische Journalisten zeigten sich an dem Videomaterial interessiert, in Polen wurde es unter der anspielungsreichen Überschrift "Das russische Abu Ghraib" publiziert. "In Russland hingegen absolutes Schweigen."

Beeindruckend sind die Standfestigkeit Politkovskajas, ihre unbeirrbare Zivilcourage und ihr Stolz im Angesicht von Fürstenthronen. Für den von Putin gegen die Separatisten aufgebauten tschetschenischen Führer Ramsan Kadyrow ("Jüngling mit dem geistlosen Gesicht eines Degenerierten") hat sie nichts als Verachtung übrig. Als Kadyrow das Interview mit dem Satz beginnt "Du bist eine Feindin. Schlimmer als Bassajew" - der fundamentalistische Untergrundkämpfer Bassajew war zu diesem Zeitpunkt der meistgesuchte Mann in Russland -, setzt Politkovskaja das Interview ungerührt mit der nächsten Frage fort.

Tatsächlich handelt es sich bei Politkovskajas Tagebuch um die Chronik eines angekündigten Mordes, wie der Titel des von Norbert Schreiber herausgegebenen Sammelbandes lautet. Je schärfer und furchtloser die Journalistin den Machtmissbrauch Putins und seines behördlichen und militärischen Apparats öffentlich anprangerte, je unverblümter sie jenen eine Stimme verlieh, die keine mehr hatten, je kompromissloser sie das Leiden der anderen mit ihrem eigenen identifizierte, desto weniger vermochte sie zu ignorieren, dass sie selber aufs höchste bedroht war. "Habe ich Angst?", fragt sie am Ende ihres Tagebuches. Wahrscheinlich hatte sie wie jeder normale Mensch auch Angst. Aber etwas in dieser schönen, klugen und mitfühlenden Frau war stärker als diese Angst. "2016 wird es mich möglicherweise nicht mehr geben", heißt es da ahnungsvoll, "und viele aus meiner Generation auch nicht, leben aber werden unsere Kinder und Enkel. Kann es uns denn gleichgültig sein, wie und wo sie leben werden? Und ob sie überhaupt noch am Leben sein werden?"

Anna Politkowskaja ist für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2007 vorgeschlagen worden. Wenn es einen Menschen gibt, der dieser Auszeichnung würdig ist, dann sie. Es wäre eine Ehre für Deutschland und die deutsche Öffentlichkeit, wenn sie den Namen dieser russischen Patriotin künftig in ihren Annalen führten.

Hans-Martin Lohmann (*1944) ist freier Publizist in Frankfurt am Main.


Anna Politkovskaja:
Russisches Tagebuch (Aus dem Russischen von
Hannelore Umbreit und Alfred Frank).
Dumont Verlag, Köln 2007, 458 S., Euro 24,90.

Norbert Schreiber (Hg.): Anna Politkovskaja.
Chronik eines angekündigten Mordes. Wieser Verlag,
Klagenfurt/Celovec 2007, 250 S., Euro 19,80.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2007, S. 62-64
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2007