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BERICHT/066: Projekt zur Identitätskonstruktion in der englischen Romantik (idw)


Ludwig-Maximilians-Universität München - 03.11.2008

Selbst-Begründungen:
DFG-Projekt zur Identitätskonstruktion in der englischen Romantik


Subjektivität und Empfindung, Irrationales und Übersinnliches: Die englische Romantik zeichnet sich aus durch eine radikale Hinwendung zum Individuum. Sie feiert aber genauso einen Kult des Primitiven, des Exotischen und der kindlichen Unschuld. Als Vorreiterin aller anderen europäischen Romantiken versucht sie, den Zusammenhang von Sprache und Denken radikal neu zu bestimmen und damit Bewusstsein, Imagination und Identität neu zu begreifen.

Die englische Romantik neu und besser zu verstehen, das Ziel hat sich Professor Christoph Bode von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München gesetzt. Ihn interessiert, wie die subjektive Identitätsstiftung in der englischen Romantik diskursiv organisiert ist. Er versucht also zu verstehen, wie sich das Selbst aus sich selbst heraus begründen lässt. Die Ergebnisse seines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts "Diskursive Konstruktion von subjektiver und nationaler Identität in der englischen Romantik" stellt der Lehrstuhlinhaber für Englische Literatur der Moderne jetzt auf einer Vortragsreise durch die USA vor. Er folgt damit der Einladung sieben amerikanischer Spitzenuniversitäten wie Yale, Seattle, UCLA und Berkeley.

Christoph Bodes Projekt macht deutlich, wie in der Literatur der Romantik (etwa 1770 bis 1840) bereits viele Problematiken und Lösungswege thematisiert werden, die dann erst wieder durch poststrukturalistische Theorien der letzten Jahrzehnte stärker in den Vordergrund rücken. In der Romantik wird eine Literatur möglich, in der Texte nicht mehr mit dem Anspruch geschrieben werden, Wirklichkeit abschließend erklären und sinnvoll abbilden zu wollen. Die Grenzen der 'Realität' werden instabil im selben Maße, wie Prozesse und Werden an die Stelle von idealer Stasis und rein diskursive Begründungen an die Stelle von transzendenten treten. Befreit von dem Anspruch, etwas Bestimmtes vermitteln zu müssen, ergründet die Literatur der Romantik den Raum der Selbst-Konstruktion des Ich. Einfache, ehedem als konstitutiv gedachte Oppositionsbeziehungen wie Subjekt / Objekt, das Eigene / das Fremde oder Ich / Natur werden nun als dynamisch, vorläufig und variabel entworfen.

Die Romantiker beschreiben subjektive Identität als etwas, das ständig in Bewegung ist und sich prozesshaft immer aufs Neue konstituiert. Christoph Bode, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für englische Romantik und Christensen Fellow von St Catherine's, Oxford, verdeutlicht dies an dem epischen Gedicht The Giaour von Lord Byron, in dem es unter anderem um die Themen Okzident und Orient, Christentum und Islam geht. An einer zentralen, emblematischen Stelle dieses Epos kämpfen die Hauptfiguren miteinander. "Die Beschreibung dieses Kampfes ist so, dass man selbst bei penibler Analyse der Satzfügungen die Kontrahenten nicht mehr unterscheiden kann. Das Eigene löst sich in der Auseinandersetzung mit dem Anderen auf."

Wo versucht wird, das Subjekt aus sich selbst zu begründen, treten unweigerlich Widersprüche und Paradoxien auf. Der Vorteil romantischer Literatur: Sie kann sich diesen Widersprüchen und Paradoxien stellen und mit ihnen auf höchst verschiedene Weise spielen. Auch darin ist sie modern: So ist etwa im autobiografischen Epos The Prelude von William Wordsworth (1770-1850) schon vieles angelegt, womit sich die aktuelle Autobiografieforschung beschäftigt. Ursprünglich wollte Wordsworth ein Epos zum Thema Man, Nature and Society schreiben, erläutert Bode. Nach etwa 1.300 Zeilen erfasste ihn jedoch eine Schreibblockade. "Er zieht dann den Schluss, sich selbst erst einmal darüber zu verständigen, wer er eigentlich ist und wie er zu dem wurde, der er ist, welche Voraussetzung er für das Riesenprojekt mitbringt." Wordsworth beginnt, über die ersten 28 Jahre seines Lebens zu schreiben - und er wird bis zum Ende seines Lebens dabei bleiben, immer wieder an The Prelude zu schreiben und den Text immer wieder umzuarbeiten. Nicht weil Lebenszeit hinzukam, die beschrieben werden müsste, sondern weil sich die Sicht auf den gewählten Zeitraum der ersten 28 Lebensjahre ständig verändert und perspektivisch verschiebt.

Was ist die Wahrheit meiner Identität? Ist es die des damaligen Augenblicks oder ist es diejenige des begreifenden Rückblicks? All das thematisiert Wordsworth. Und diese Probleme beschäftigen die Wissenschaft noch heute: Wo findet sich die Identität dessen, der hier versucht, sich dichtend über sich selbst klar zu werden? Eben im Prozess des Schreibens selbst, und allein dort, ist Christoph Bodes Antwort. "Es gibt keinen Augenblick der Biographie, an dem das Ich, das sich selbst schreibend hervorgebracht hat, sagen kann: Jetzt habe ich mich begriffen. Diese Art der radikalen und ehrlichen Nachzeichnung der Frage, wie ich wurde der ich bin, hat nur einen logischen Schluss - und das ist der Tod des Autors." Letztlich, sagt Bode, gelingt es Wordsworth gerade durch diese Art des Schreibens das umzusetzen, was er ursprünglich wollte: das große moderne Epos über Man, Nature and Society zu schreiben. "Und zwar in der einzigen Form, die historisch avanciert möglich war, weil allein sie dem Materialstand entsprach, nämlich als radikal subjektiviertes Epos. Ein Epos, das gerade dadurch höchst modern ist, indem es konsequent aus der sich verschiebenden Ich-Perspektive geschrieben wurde."

Einen sehr pointierten sprach-philosophischen Ansatz, über Selbstbegründungen nachzudenken, wählt dagegen Percy Bysshe Shelley (1792-1822). Auch er ist ein wichtiger Vordenker, dessen Ideen erst im späten 19. Jahrhundert etwa durch den Linguisten Ferdinand de Saussure auf eine wissenschaftliche Basis und im späten 20. Jahrhundert durch Jacques Derrida und andere auf eine philosophische Grundlage gestellt wurden. Für Shelley sind Personalpronomina wie I, you, he, she oder they nichts anderes als grammatische Konventionen, denen keine besondere Realität zukommt. Sie markieren ein großes linguistisch-geistiges Feld, verweisen aber darüber hinaus auf keine Realität: Sprachzeichen beziehen sich allein auf Gedankeninhalte und Denkprozesse. Für Shelley ist das Ich ein Effekt, der von der Grammatik ausgelöst wird, eine grammatische Illusion. "Es ist interessant zu beobachten, wie Shelley radikal subjektiv schreiben möchte, aber dann nicht mehr in der Lage ist zu sagen, wo eigentlich der Ort des Subjektes ist", kommentiert der LMU-Forscher die Folgen dieser Konstruktion. "Er kann nur die Spur des Subjektes nachzeichnen, das sich permanent entzieht."

Die Ergebnisse seiner Arbeit zur diskursiven Konstruktion subjektiver Identität legt Bode in einem im Herbst erscheinenden Buch vor. Der zweite Teil, der im Sommer 2009 erscheinen soll, handelt von der diskursiven Konstruktion nationaler Identität am Beispiel von Reiseliteratur der Epoche, in der nachgezeichnet wird, wie sich der reisende Engländer - ein Stereotyp schon zu seiner Zeit - in der Erfahrung der Fremde erfährt und verändert. An den Texten interessiert den LMU-Forscher einerseits, wie das radikal Andere, etwa der Orient, als Folie benutzt wird, um die eigenen Probleme des Okzidents zu verhandeln. Zum anderen zeigt er in seiner Analyse auf, wie die Reisenden die Fremde funktionalisieren und instrumentalisieren, so dass das Andere hinter den Vorstellungen davon verschwindet. Bode arbeitet dabei sehr nahe an den Texten selbst. "Ich lasse den historischen Kontext nicht aus dem Blick", erläutert er, "das Historische findet sich gerade in der spezifischen Art und Weise, in der in dieser besonderen Phase der Modernisierung die noch recht neuen Probleme der Selbst-Begründung ausgelotet und verschiedenste Lösungen erprobt werden. Das Gesellschaftlich-Historische brauchen Sie nicht an die Texte heranzutragen, wenn Sie nur genau genug lesen - es begegnet Ihnen als Fremdheit. Zugleich ist eine Kontinuität unübersehbar: In gewisser Weise arbeiten wir uns immer noch an denselben Problemen der Selbst-Begründung ab, mit denen sich die Romantiker konfrontiert sahen." So wiederholt sich auch in dieser Begegnung eine Dialektik der Selbst-Erfahrung in der Fremd-Erfahrung.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution114


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Ludwig-Maximilians-Universität München, Luise Dirscherl, 03.11.2008
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2008