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GESCHICHTE/031: Abschied vom Genie - Literaturgeschichtsschreibung revisited (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum 2/2010 - Universität Bayreuth

Abschied vom Genie

Literaturgeschichtsschreibung revisited


Die Geschichte der deutschen Literatur stellt für Prof. Dr. Martin Huber einen wichtigen Forschungsschwerpunkt dar. Statt jedoch eine Literaturgeschichte der großen Autoren und ihrer Werke zu schreiben, zielt eine Forschergruppe am Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft auf die Untersuchung der literarischen Kommunikation und ihrer medialen Bedingungen. Für das Genie, den allein aus sich heraus schaffenden Autor, ist dort kein Platz mehr.


Die Geschichte der Literatur gehört zum Kern des Faches Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Literaturgeschichtsschreibung kann und muss allerdings mehr leisten, als Schüler und Studierende über die wichtigsten Werke, Autoren und Epochen zu informieren. Das machte Prof. Huber in seiner gut besuchten Antrittsvorlesung deutlich. Allerdings hat es durchaus weitreichende Folgen, wenn Literaturgeschichtsschreibung literarische Kommunikation in ihrer medialen Ausprägung untersucht und darstellt. Zunächst erfordert es einen neuen Textbegriff, der davon ausgeht, dass die Texte selbst soziale Handlungen sind. So können sowohl die innertextuellen Entscheidungen, etwa für eine bestimmte Gattung, einen Stil und eine Thematik, als auch die Publikationsformen (also die Medialität des Textes), seine Verbreitung und Rezeption mit all ihren Implikationen zusammengedacht werden. Damit gehören auch Verleger, Agenten und Bibliothekare zu den aktiv Beteiligten an Literaturgeschichte, nicht nur Autoren und Leser. Die einzelnen Texte lassen sich in einer Geschichte der literarischen Kommunikation nicht nur hinsichtlich eines Stils oder über ihren Verfasser in eine Epoche eingliedern. Vielmehr werden Epochen wie die "Weimarer Klassik" selbst als Konstruktionen erkennbar, die sich über stilistische, personale und mediale Bezugsformen bezeichnen und voneinander abgrenzen lassen.


Das literarische Feld

Grundlegend für diese Forschungsperspektive am Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft sind die Studien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) zur literarischen und intellektuellen Produktion. Der Literaturwissenschaft hat Bourdieu mit der Begriffsbildung eines "literarischen Feldes" die Chance eröffnet, Literatur und ihre Geschichte explizit auf die sozialen Gruppen zu beziehen, die spezifische Formen der literarischen Kommunikation tragen. Dabei beschränken sich derartige Studien nicht auf die Höhenkammliteratur, sondern können Formen wie den Groschenroman, Hörbücher oder Blogs integrieren. Für das literarische Feld, den Bereich der Gesellschaft, der mit Literatur, ihrer Produktion, Distribution und Rezeption zu tun hat, macht Bourdieu eine verkehrte Ökonomie aus. Tatsächlich muss ein Autor nicht den großen Bestseller schreiben, um im Feld Anerkennung zu finden. Vielmehr wird der ästhetische Rang eines Textes von Experten, unmittelbaren Kollegen und Konkurrenten, Verlegern und Kritikern, verhandelt und nicht von einer breiten Öffentlichkeit, die nur über einen Markterfolg ins Spiel kommt. Die "Regeln der Kunst" (1999) allerdings sind nicht per se gegeben, sondern mussten etabliert werden. Erst wenn die Literatur diese Form der Autonomie erreicht hat, können Autoren als Intellektuelle agieren und werden auch auf anderen Feldern als sprachmächtig wahrgenommen. Dafür ist strategisches Agieren notwendig, das Bourdieu als eine Folge von Positionierungen fasst.


Goethe hat ein Problem

Für die deutsche Literatur ist Johann Wolfgang von Goethe maßgeblich beteiligt an der Autonomisierung des Feldes. Elisabeth Böhm, Mitarbeiterin am Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft, hat in ihrer Dissertation als case study für den Forschungsansatz einer Literaturgeschichte der literarischen Kommunikation herausgearbeitet, wie 1788 bis 1794, in der Zeit direkt nach Goethes Italienaufenthalt die Weichen für die Weimarer Klassik gestellt wurden. Nach der Rückkehr aus Italien stand Goethe vor dem Problem, sich als Autor neu positionieren zu müssen, da im Jahre 1788 die Differenz zwischen seiner künstlerischen Entwicklung und den immer noch am Erfolgsbuch "Werther" (1774) ausgerichteten Erwartungen des Publikums nicht mehr zu überbrücken war. Seine neuen Texte, die "Erotica Romana" oder "Römischen Elegien", die er unmittelbar nach der Rückkehr schreibt, sprechen eine komplett andere ästhetische Sprache: sie verknüpfen den Körper des Autors und sein Selbstverständnis als Schriftsteller auf damals unerhörte Weise miteinander. Doch diese Verschiebung, die aus dem Geheimen Rat den Schriftsteller Goethe macht, muss wahrgenommen werden. Im Bündnis mit Schiller findet Goethe den Partner, der ihm mit den "Horen" eine Publikationsmöglichkeit für seine Texte bietet. Diese literarische Zeitschrift, politisch interesselos, ästhetisch aber elitär, beanspruchte nicht nur die geschmacksprägende Rolle unter allen Magazinen der Zeit, sondern bot über die spezifische Aufmerksamkeit, die sie auf sich zog, das ideale Medium, um einen kleinen Skandal wegen der freizügigen Darstellung pikanter Details zu provozieren. Die Erotik in Goethes "Elegien" sicherte ihnen einen Platz im Weimarer Klatsch, der offen verschwiegene Autorname und der ästhetische Wert, der den Gedichten auch in der zeitgenössischen Kritik nicht abgesprochen wurde, bot einer bestimmten Leserschicht zugleich die Möglichkeit, Gattung und Form zu goutieren, sich über den Inhalt aber bedeutsam auszuschweigen. Dies ist eine Geburtsstunde des elitären Kunstpublikums in der Moderne, dessen Urteil wichtiger wurde als das breite Publikum und die Verkaufszahlen. Elisabeth Böhms Forschung zeigt, wie Goethe sein Problem durch eine Neupositionierung im literarischen Feld behebt und dabei zugleich starken Einfluss darauf nimmt, wie Literatur seither wahrgenommen wird.


Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer

Natalia Igl, ebenfalls Mitarbeiterin am Lehrstuhl, macht in ihrer Forschung im Rahmen der Promotion zu Elsa Bernstein deutlich, dass die neu aufgestellte Literaturgeschichtsschreibung nicht nur von der Literatur geprägte Wahrnehmungsmuster als solche aufdecken kann, sondern auch die theoretischmethodische Ausrichtung der Literaturwissenschaft selbst provozieren muss. Elsa Bernstein (1866-1949) war unter dem Pseudo nym Ernst Rosmer um die Jahrhundertwende vor allem als Dramenautorin bekannt und wurde erst in jüngerer Zeit wieder entdeckt. Dass weibliche Autoren unter männlichem Pseudonym veröffentlichten, war an sich keine Seltenheit. Die Entscheidung Bernsteins, unter männlichem Namen zu publizieren, suggeriert angesichts der im 19. Jahrhundert erstarkten Emanzipationsbewegung jedoch eine Distanzierung von deren Agitationen und eine Einreihung in eine "männliche" Autorentradition. Zum anderen ist das relativ bald aufgedeckte Inkognito der Autorin als dezidierte Referenz an den norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen ("Rosmers Holm") zu verstehen, wodurch sich Bernstein innerhalb der literarischen Strömung des "Naturalismus" verortet. Aufschlussreicher als der Blick auf spezifisch "weibliche" Schreibweisen oder emanzipierte Entwürfe von "Weiblichkeit" in Bernsteins Dramen sind für Igls Forschung die dort verhandelten Konzepte von Bildung und Perfektibilität sowie die Frage nach der Möglichkeit glückender Lebensläufe für Frauen wie Männer. Diese Perspektive lässt sich so nur schwer mit dem bisherigen literaturgeschichtlichen Konzept von "naturalistischen" Dramen in Einklang bringen. Literaturgeschichtsschreibung steht immer wieder vor der Herausforderung "vergessene" Autoren und Texte zu integrieren, wenn diese wieder neu entdeckt werden. Um das leisten zu können und auch Bernsteins zeitgenössisch viel gespielte und diskutierte Stücke in ein Konzept von "Naturalismus" integrieren zu können, muss Literaturgeschichtsschreibung als ein dynamisches Modell verstanden werden, das jeweils durch die literarische Praxis im Feld korrigiert wird.


Der Autor ohne Werk

Professor Huber untersucht in einem eben erschienenen Aufsatz das Phänomen des Autors ohne Werk. Nach drei Romanen, die in den 1950er Jahren erschienen, schrieb Wolfgang Koeppen keinen größeren, bedeutenden Text mehr, wurde aber zwischen 1961 und 1987 mit 13 renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet. Das symbolische Kapital Koeppens wuchs, ohne dass er den angekündigten großen Gegenwartsroman publiziert hätte. Sein Freund und Verleger Siegfried Unseld ist daran in nicht unerheblichem Maße beteiligt. Wie sich jeder Leser des nunmehr edierten Briefwechsels der Jahre 1959-1995 zwischen Unseld und Koeppen selbst überzeugen kann, ist dieses Bündnis zweier von der Literatur Besessener in der jüngeren Literaturgeschichte ohne Parallele. Aus den Einblicken in Koeppens Nachlass wissen wir, dass er all die Jahre nicht geschwiegen, sondern kontinuierlich geschrieben hat, aber ebenso kontinuierlich an seinem Romanprojekt gescheitert ist. Herkömmliche Literaturgeschichtsschreibung kann dies kaum abbilden, eine Geschichte der literarischen Kommunikation nimmt das Phänomen aber mühelos auf. Ist Wolfgang Koeppen doch der Anlass für andauernde Kommunikationen im literarischen Feld, in dem ihn sein Verleger Unseld präsent zu halten weiß. Ein Höhepunkt hierbei ist sicherlich, wie Unseld Koeppens vier Poetik-Vorlesungen im Wintersemester 1982 in Frankfurt vorbereitet. Nicht nur vermittelt der Verleger dem Autor diese Auftritte und zeigt ihm Textausschnitte, die er dort vorlesen soll, Unseld schreibt Koeppen darüber hinaus noch, welche Deutungen er an seine eigenen Formulierungen anschließen könne. Deutlich ist immer wieder eine starke Lust an der Deutungshoheit zu spüren, die Siegfried Unseld über Koeppen als Künstler und seine Texte zu haben scheint - so lange dieser nicht widerspricht. Unseld, der Verleger, ist in diesen Momenten direkt an der Entstehung von Literatur beteiligt - und genießt es, unerkannt auf Ebenen im literarischen Feld zu operieren, die ihm als Verleger sonst verschlossen sind.


Hemingways Whiskey

Künstler dürfen, manchmal scheint es sogar so, als müssten sie von den Erwartungen an 'normale' Menschen abweichen. E.T.A. Hoffmann hat uns glauben gemacht, seine besten Erzählungen nach dem Genuss von Punsch geschrieben zu haben, Hemingway bevorzugte Whiskey. Die Kreativität des Genies bedarf offenbar der Stimulation, sie muss gekitzelt werden, um das hervorzubringen, was nicht mit eigenen Erlebnissen erklärt werden kann. Eine Literaturgeschichtsschreibung der literarischen Kommunikation, die den Text als sozialen Akt begreift und sich den Blick auf die Akteure des Feldes nicht verstellt, muss darin eine Selbststilisierung und Strategie erkennen, die eine klare Funktion im Feld erfüllt. Indem der Künstler als Genie schafft, wird seine Kunst unangreifbar und entzieht sich fremden Kriterien. Sie zu erkennen und zu rezipieren, stellt dann auch einen sozialen Akt dar, der sich genauso deuten lässt. Die drei Forschungsarbeiten der Arbeitsgruppe am Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft zeigen jeweils auf eigenen Weise, wie sehr Autorinnen und Autoren in ihren Umfeldern verhaftet sind und es gerade die Auseinandersetzung damit ist, die ihre Texte jeweils reizvoll macht - weit über dieses hinaus und jenseits aller genialischen Unzugänglichkeit.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Der Medienwandel in der Literatur verlangt eine Literaturgeschichtsschreibung, die diesen angemessen darstellen kann.

Heinrich Christoph Kolbe: Goethe als Dichter und Künstler vor dem Vesuv. 1826; Kolbe malt den etablierten Dichter Goethe vor dem Vesuv, er folgt mit der Darstellung schon der Perspektive, die Goethe nach der Rückkehr aus Italien vorgegeben hat.

Goethe im Kreis seiner Weimarer Gesprächspartner: Schiller, Wilhelm und Alexander von Humboldt. Stich von Adolph Müller.

Die Autorin Elsa Bernstein um 1905. Aus: Fritz Abshoff: Bildende Geister. Unsere bedeutendsten Dichter und Schriftsteller der Gegenwart und Vergangenheit in charakteristischen Selbstbiographien sowie gesammelten Biographien und Bildern. Band 1. Berlin: Oestergaard 1905, S. 18. Urheber bzw. Nutzungsrechtinhaber unbekannt; Photographie ist (vor) 1905 aufgenommen.

Der "Autor ohne Werk" Wolfgang Koeppen - nach drei Romanen sollte ein weiterer großer Wurf folgen, blieb aber unpubliziert. Heute weiß man, dass es unzählige Ansätze, aber keinen kohärenten Text gibt. Foto: Stefan Moses.

Der Verleger Siegfried Unseld. Indem er Koeppen unterstützte, konnte er dem Autor das Wort in den Mund legen.

Comic von Böge und Mölck-Tassel, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 31.10.2010; Selbst der Comic weiß, dass Hemingway Whiskey braucht um zu arbeiten, also Texte verfassen zu können.

Die Forschergruppe zur Geschichte der literarischen Kommunikation und ihrer medialen Ausprägung, v.l.n.r.: Prof. Dr. Martin Huber, Dr. des. Elisabeth Böhm, Natalia Igl M.A.


Literatur

Elisabeth Böhm: Konstruktion und Konstitution der Weimarer Klassik anhand von Goethes Römischen Elegien und Venezianischen Epigrammen. (Diss. Bayreuth 2010, im Druck)

Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982.

Ders.: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.

Georg Franck: Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb. In: Markus Joch u.a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 11-21.

Martin Huber: Methoden sozialgeschichtlicher und gesellschaftstheoretischer Ansätze. In: Vera und Ansgar Nünning (Hg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Stuttgart: Metzler 2010, S. 201-223.

Ders.: Das "Unternehmen" Koeppen. Zur Freundschaft von Siegfried Unseld und Wolfgang Koeppen. In: Natalie Binczek / Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. (Beihefte zum Euphorion 55) Heidelberg: Winter 2010, S. 205-218.

Natalia Igl: Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer. Die Wiederentdeckung eines beachtenswerten Werks. (Rezension zu: Helga W. Kraft / Dagmar C. G. Lorenz [Hg.]: From Fin-de-Siècle to Theresienstadt. The Works and Life of the Writer Elsa Porges-Bernstein. New York u.a.: Peter Lang 2007.). In: IASLonline (11.02.2010)
URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2711 (15.11.2010).


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Quelle:
spektrum 2/2010, Seite 28-31
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"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2011