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PROFIL/076: Vor 150 Jahren wurde Anton Tschechow geboren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2010

Quintessenz und Neuanfang
Vor 150 Jahren wurde Anton Tschechow geboren

Von Hanjo Kesting


"Ich bewundere Tschechow maßlos, wie wohl jeder, der Geschichten schreibt. Er ist unnachahmlich", hat Frank O'Connor, der irische Geschichtenerzähler, gesagt. Und Maxim Gorki, in gewissem Sinn Tschechows russischer Nachfolger, schrieb: "Als Stilist ist Tschechow unerreicht, und der künftige Literaturhistoriker wird, wenn er über das Wachstum der russischen Sprache nachdenkt, sagen, diese Sprache ist von Puschkin, Turgenjew und Tschechow geschaffen worden."


Tschechow, geboren 1860 in Taganrog am Asowschen Meer, war, um einige Vergleichszahlen zu geben, zehn Jahre Jünger als Maupassant und Stevenson, zehn Jahre älter als Gorki und Marcel Proust. Er war der Enkel eines Leibeigenen, der sich freigekauft, und der Sohn eines kleinen Kaufmanns, der Bankrott gemacht hatte und mit seiner Familie in Moskau in ärmlichsten Verhältnissen lebte. Dank einem Stipendium studierte er Medizin und begann, einstweilen pseudonym, Geschichten für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Seine Geschichten besaßen einen eigenen Ton und eine Komik, die bitter schmeckte. Seit 1884 war er praktizierender Arzt, schrieb aber weiter, mit wachsendem Selbstbewusstsein und zunehmendem Erfolg. Schließlich hatte ein damals berühmter Schriftstellerkollege, Dmitri Grigorowitsch, ihm geschrieben: "Sie besitzen, mein Herr, ein ganz außerordentliches Talent, das meiner Überzeugung nach auch vor den höchsten Aufgaben nicht zurückzuschrecken braucht. Es wäre ein Jammer, wenn Sie fortführen, Ihre Kräfte in literarischen Quisquilien zu verzetteln. Es drängt mich, Sie zu beschwören, das nicht zu tun, sondern sich zu wahrhaft künstlerischen Unternehmungen zu sammeln."

Der Brief hinterließ bei Tschechow nachhaltige Wirkung, und er versuchte, ein "ernsthafter" Künstler zu werden. 1887 erschien sein Erzählband In der Dämmerung, für den ihm der Puschkinpreis zugesprochen wurde. Noch im selben Jahr wurde sein erstes abendfüllendes Theaterstück Iwanow uraufgeführt. Schnell verbreitete sich der Ruhm seiner Theaterstücke, vor allem seit der Aufführung des Dramas Die Möwe am Moskauer Künstlertheater durch Stanislawski. Dort wurden in den nächsten Jahren auch die Stücke Onkel Wanja, Drei Schwestern und Der Kirschgarten uraufgeführt. Mit ihnen wurde Tschechow zum wichtigsten Dramatiker in der Epoche, nach Ibsen. Er starb 1904, nur 44 Jahre alt, in Badenweiler im Schwarzwald.

In der Erzählprosa blieb die kurze Form seine Domäne. Es gibt von Tschechow zwar einige längere Erzählungen, doch keinen Roman. Sein längstes Prosastück umfasst rund 130 Seiten, abgesehen von dem erschütternden Bericht über die zaristischen Straflager der Insel Sachalin, dem Bindeglied zwischen Dostojewskis Totenhaus und Solschenizyns Archipel Gulag. Vladimir Nabokov schrieb: "Tschechow konnte nie einen guten langen Roman schreiben, er war ein Sprinter, kein Langstreckenläufer. Es scheint, als habe, er sich auf das Lebensmuster, das sein Genie hier und da wahrnahm, nicht lange genug konzentrieren können. Er konnte es in seiner zusammengestückelten Lebendigkeit gerade lange genug festhalten, um eine Kurzgeschichte daraus zu machen, doch blieb es nicht lange genug hell und in Einzelheiten erkennbar, wie das nötig gewesen wäre, damit er einen langen und durchgehaltenen Roman hätte daraus machen können."

Tschechows Geschichten kommen ohne novellistische Fabel aus, ohne "Handlung" und "Probleme", ohne äußere Kunstgriffe und dramatische Höhepunkte, sogar ohne Pointe: "Geschichten über Fast-Nichts", wie gesagt worden ist. Seine drastischste Forderung war, Anfang und Ende einer Geschichte einfach wegzulassen. "Er selbst hat es getan", bemerkte Somerset Maugham, "und zwar so rigoros, daß seine Freunde sagten, man solle ihm die Manuskripte wegschnappen, bevor er die Möglichkeit habe, sie zu verstümmeln. 'Sonst steht schließlich in den Erzählungen nur noch, daß sie jung waren, sich ineinander verliebten, heirateten und unglücklich wurden.' Als man Tschechow das erzählte, antwortete er: 'Aber so ist es tatsächlich...'"

Die Erzählung Die Dame mit dem Hündchen, eine seiner berühmtesten, entstand 1899 - sie gehört bereits zum Spätwerk des Autors. Sie spielt in ihrem ersten Teil in Jalta auf der Halbinsel Krim am Schwarzen Meer, dem mondänen Badeort des zaristischen Russland. Dort lernt Dmitrij Gurow, ein gelangweilter, der Ehe überdrüssiger und an flüchtige amouröse Abenteuer gewöhnter Beamter, während eines Urlaubs eine junge hübsche Dame kennen, die mit einem Hündchen auf der Strandpromenade flaniert. Anna Sergejewna ist eine noch kindlich-unberührt wirkende Frau, ernst und, bei allem Charme, ein wenig unbeholfen. Gurow fühlt sich auf andere Weise als sonst zu dieser Frau hingezogen. Sie gehen zusammen spazieren und verträumen lange Stunden am Meer. Und auch als er sie schließlich auf ihr Hotelzimmer begleitet und sie "wie eine Sünderin auf einem alten Gemälde" erblickt, verfliegt nicht der Reiz dieser Ferienbekanntschaft. Ja, Gurow erkennt nach der durch äußere Umstände erzwungenen Trennung, dass die junge Frau für ihn das Wichtigste auf der Welt geworden ist. Man trifft sich wieder, will "ein neues, wunderschönes Leben" beginnen, aber in dem Bewusstsein, dass die größten Schwierigkeiten und Komplikationen noch vor ihnen liegen.

Damit bricht die Erzählung ab, ohne Happy End, aber mit der Andeutung, dass die Liebe vielleicht einmal den Sieg davontragen kann über das "armselige Leben". Dieser Sieg kann nur im Stillen und Verborgenen errungen werden, ohne die Lüge der Konvention und gesellschaftlichen Maskerade. Tschechows Erzählung kommt ohne Botschaft, ohne Lehre aus, sie verzichtet auf Reflexionen über Ehe und Liebe, entwickelt vielmehr die Charaktere und Situationen aus der genauen Beschreibung konkreter Einzelheiten. Stimmungen und Gefühle der Personen sind stets mit Gegenständlichem verknüpft. Tschechow versucht sie nicht zu erklären, sondern lässt sie in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit auf uns wirken. Die Dame mit dem Hündchen ist ein Höhepunkt solcher Kunst. "Die Geschichte wird in möglichst natürlicher Weise erzählt", schrieb Nabokov, "so, wie ein Mensch einem anderen die wichtigsten Dinge aus seinem Leben mitteilt - bedächtig, und doch ohne Unterbrechung, mit leicht gedämpfter Stimme". Und weiter: "Die Erzählung hat kein wirkliches Ende, denn solange die Menschen leben, kann es keine endgültige Lösung für ihre Schwierigkeiten oder Hoffnungen oder Träume geben."

Tschechows Stellung in der russischen Literatur ist nicht leicht zu bestimmen. Er war ein Ende und ein Anfang zugleich: das Ende der großen Prosatradition des 19. Jahrhunderts, die mit Puschkin und Gogol begonnen und über Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi eben bis zu Tschechow geführt hatte. Und er war der Anfang der Moderne in der russischen Literatur - und über sie hinaus. Der Fürst Pjotr Kropotkin schrieb in seinen Betrachtungen zur russischen Literatur: "Wenn es in der Entwicklung der Gesellschaft irgendeine Logik gibt, mußte ein solcher Schriftsteller wie Tschechow erscheinen, bevor die Literatur eine neue Richtung einschlagen und die neuen Typen schaffen konnte, die bereits im Leben sich zu zeigen beginnen. Für alle Fälle mußte ein eindrucksvolles Abschiedswort gesagt werden, und das hat Tschechow getan."

Hier wird die spätzeitliche Rolle Tschechows betont. Anders verstand ihn der große Literaturwissenschaftler Viktor Schklowski: "Tschechow", schrieb er, "sah die Dinge neu, und er entdeckte in ihnen neue, eben diesen Dingen innewohnende Widersprüche. Von seinen Augen Gebrauch machend, lehrte er den Leser, ebenso zu verfahren. Für Literatur, die nur auf Literatur basierte, hatte er nur Verachtung übrig; er strich sie durch. Tschechow: das ist eine neue Sehweise, ist der Anfang einer neuen Literatur".


Hanjo Kesting (* 1943) Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2010, S. 85-87
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2010