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PROFIL/084: Zum 100. Geburtstag von Jean Amery (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2012

Aufklärer ohne Hoffnung
Zum 100. Geburtstag von Jean Amery

Von Hanjo Kesting



Nach 642 Tagen in deutschen und französischen KZs war der vormalige Auschwitzhäftling Nr. 172364 am 15. April 1945 zusammen mit etwa 40.000 anderen Häftlingen in Bergen-Belsen befreit worden. "Mit 45 Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug" stand er nun wieder in der Welt. Selten ist die Legende von der angeblichen "Stunde Null" 1945 eindrücklicher widerlegt worden als vom Leben und Werk Jean Amérys. Im Oktober jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal.


Eine Erinnerung vorab. Im Mai 1977 erhielt Jean Améry den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg. Der 13 Jahre ältere Axel Eggebrecht sprach die Laudatio; er sagte: "Wie sehr bedürfen wir glaubhafter, redlicher, durch ihr ganzes Leben autorisierter Mahner. Solcher, die uns warnen, ohne uns zu entmutigen. Sie sind selten. Heute wird einer von ihnen geehrt, das ist noch seltener. Möge es dazu helfen, dass Jean Amérys Stimme gehört wird."

Ist Axel Eggebrechts Wunsch in Erfüllung gegangen? Wird die Stimme Amérys heute noch gehört? Werden seine Bücher - die teils in Neuauflagen, gesammelt in einer neunbändigen Werkausgabe vorliegen - noch gelesen? Man möchte die Fragen am Vorabend von Amérys 100. Geburtstag gern bejahen. Doch ist Skepsis angebracht, zumal wir die lebendige intellektuelle Gegenwart dieses Mannes schon so lange entbehren müssen. Siebzehn Monate, nachdem er den Lessing-Preis erhalten hatte, am 17. Oktober 1978, nahm er sich in einem Hotelzimmer in Salzburg mit Schlaftabletten das Leben. Es war der Tag der Frankfurter Buchmesse, zu der man ihn erwartete. Der Betrieb, die Geschäftigkeit, das Geschäft, die realen Manifestationen dessen, was Améry "Glanz-Verfall" genannt hat, ließen ein Innehalten kaum zu. Doch erinnere ich mich der Erschütterung und Verstörtheit, mit der die Nachricht von seinem Tod aufgenommen wurde, nicht nur von denen, die ihn gekannt hatten.


"Was habe ich zu schaffen mit diesem Lande?"

Nur drei Wochen vor seinem Tod erlebte ich Améry bei einer Podiumsdiskussion in Hannover. Das Thema hieß "Unsere historische Schuldigkeit". Während im Saal das Gespenst des in der Bundesrepublik angeblich virulenten Faschismus beschworen wurde, versuchte Améry, behutsam und einleuchtend, eine Differenzierung: nicht nur zwischen den 30er und 70er Jahren, sondern auch zwischen (italienischem) Faschismus und (deutschem) Nationalsozialismus - eine Unterscheidung, die im lautstarken Unmut eines ungeduldigen Publikums unterging.

Auf dem Podium saß damals auch Martin Walser, der gerade, in seiner Bergen-Enkheimer Rede, die "Wunde", seine Wunde "Deutschland", entdeckt hatte: "Wir alle haben auf dem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, dass wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen." Noch sehe ich Amérys verstörtes, schwermütig resigniertes Gesicht. Am nächsten Tag kam eine Postkarte aus dem Hotelzimmer: "Was habe ich zu schaffen mit diesem Lande?"

Martin Walsers Vaterland war ja nicht das Vaterland Jean Amérys, des gebürtigen Österreichers und deutsch schreibenden Juden mit belgischem Pass, der die letzten dreieinhalb Jahrzehnte seines Lebens in Brüssel verbracht hatte. Geboren 1912 in Wien, mit eigentlichem Namen Hans Mayer, Sohn einer Kriegerwitwe aus dem Ersten Weltkrieg, die in Bad Ischl eine Gaststätte betrieb, aufgewachsen in der niederösterreichischen Provinz und dort auf manchen Feld- und Holzweg von Naturschwärmerei und Innerlichkeit sich verirrend, später Student in Wien, im Banne des Wiener Kreises, der Philosophenschule von Carnap, Wittgenstein und Moritz Schlick, eines "logischen Positivismus", führte Améry - wenn wir seinen Unmeisterlichen Wanderjahren glauben dürfen - zunächst eine mehr oder weniger unpolitische Existenz, nahm nicht recht wahr, dass das halbwegs gemütliche Heimatland im Begriff war, sich in ein gefährliches Feindesland zu verwandeln. 1938 kam der sogenannte "Anschluss" Österreichs. Hans Mayer, 25 Jahre alt, flüchtete nach Belgien, ein Asylsuchender ohne Geld und Papiere, lebte dort knapp zwei Jahre, wurde nach Beginn des Krieges als "feindlicher Ausländer" in einem südfranzösischen Lager interniert, kehrte illegal nach Belgien zurück, nahm teil am Widerstand, wurde verhaftet, im flämischen Fort Breendonk der Folter unterzogen, nach Buchenwald und Auschwitz deportiert und nach 647 Tagen in Konzentrationslagern von den Engländern 1945 in Bergen-Belsen befreit.


Der integrale Humanismus

Er ging zurück nach Belgien. Und erst jetzt, nach Ende des Krieges, jenseits von Deutschland und Österreich, wurde aus Hans Mayer, durch Umstellung der Buchstaben, der uns bekannte Jean Améry, wurde aus ihm der Journalist, Publizist und Schriftsteller, den wir hierzulande aber de facto erst entdeckten, als er sich, mit 20 Jahren Verspätung, schreibend an die Erfahrung heranarbeitete, die für Biografie und Werk konstitutiv wurde, die Erfahrung der Tortur und des Lagers.

Das geschah in dem Buch Jenseits von Schuld und Sühne, 1965. Mit diesem Buch war Améry in Westdeutschland schlagartig präsent: als Denker und Dichter, Publizist und Essayist, Vortragsredner und Diskussionsteilnehmer, als Autor eines weitgespannten Werkes, bestehend aus zahllosen Artikeln, Zeitanalysen, Polemiken, Traktaten, ein homme de lettres, wie man es in Deutschland nur mit diesem französischen Ausdruck sagen kann, als Verfasser schließlich von 17 Büchern, von denen fünf erst nach seinem Tod erschienen, darunter die Essaysammlung Der integrale Humanismus.

Die Titelformel stammte vom Herausgeber Helmut Heißenbüttel. Im Verständnis des Autors Améry war sie gleichbedeutend mit einer anderen, weniger zeitgemäßen Formel: "Aufklärung heute". Améry war ein Aufklärer, ein Wahrheitssucher, ja ein Rationalist, der das Odium dieses Wortes nicht scheute, ein Vernunftmensch und Moralist, von dem Axel Eggebrecht sagte, er halte an einem schwachen Glauben fest, "dass Vernunft und Moral wenigstens teilweise zusammenfallen - allen gegenteiligen Erfahrungen zum Trotz". Améry hat das in seiner Hamburger Lessing-Rede bekräftigt, und zwar mit jenem Pathos, das auch zur geistigen Statur dieses so klaren, lichtvollen und anmutigen Verfassers gehört: "Das Licht der klassischen Aufklärung war keine optische Täuschung, keine Halluzination. Wo es zu verschwinden droht, ist das humane Bewusstsein eingetrübt. Wer die Aufklärung verleugnet, verzichtet auf die Erziehung des Menschengeschlechts."

Hochgemute Sätze, die heute keiner zu schreiben wagte, aus Angst, belächelt zu werden. Man muss sie ja auch als inständige Beschwörungsformel hören, als Appell an die Intellektuellen, sich nicht ihres einzigen Eigentums zu begeben: des Vernunftgebrauchs und der Gedankenfreiheit, der Souveränität des auf sich gestellten Individuums. Das Individuum bildet das Zentrum des integralen Humanismus. Es war diese Einsicht, die Améry schließlich auch von seinem geistigen Ziehvater trennte, von Sartre, den er zuletzt sich einem blinden Aktionismus ergeben sah. Sartres berühmtem Satz aus Die Wörter, "Lange hielt ich meine Feder für ein Schwert, jetzt kenne ich unsere Ohnmacht", hielt Améry die Einsicht entgegen, dass "die Intellektuellen in der Erkenntnis ihrer Ohnmacht auch die Spuren ihres unleugbaren Einflusses wiederfinden." Und weiter: "Keiner könnte Robespierre oder Trotzki sein. Der Zola des 'J'accuse' zu werden, hat noch jeder seine Chance." Für den Intellektuellen muss das Geistige das Primäre sein: "Geist gleich Tat", wie es in Amérys großem Essay über Heinrich Mann heißt, den er einen der verkannten, ja verleugneten Lehrer der Deutschen nannte.


Projekt einer neuen Linken

Jean Améry nahm sich 1978 das Leben. Der Freitod könnte als Zurücknahme des großen "J'accuse" verstanden werden, als Widerruf des Intellektuellen, dessen letzte Tat in die Negation führte: ein Eingeständnis des Scheiterns. Aber darüber zu urteilen steht uns nicht zu. Ablesbar an dieser Handlung ist vor allem Eines: Dass Amérys Humanismus sich der Abgründe des Menschlichen bewusst war; dass Aufklärung für ihn nicht Besitz und Gewissheit, sondern ein immer neu zu gewinnendes Lebens- und Rettungsmittel war; dass sein Pathos brüchig war, durchlässig, im Wortsinne, für das Leiden der Kreatur und für die Widersprüche der Existenz. Hier lag sein tiefer und unauflöslicher Lebenszwiespalt: auf der einen Seite der Glaube an die Vernunft als das einzige Instrument menschlicher Selbstbefreiung und humanen Fortschritts, auf der anderen Seite der Zweifel an der Wirksamkeit dieser Vernunft - ein Zweifel, der durch geschichtliche Erfahrungen immer aufs Neue genährt wurde. Dieser Zweifel, manchmal zur Verzweiflung anwachsend, begleitete als dunkler Unterstrom alle Bemühungen Amérys um die rationale Erhellung der Wirklichkeit. Er war ein Aufklärer, aber, wie er selbst von Schopenhauer gesagt hat, ein "Aufklärer ohne Hoffnung". Den letzten Aufsatz, den er noch zu Lebzeiten abschließen konnte, überschrieb er mit den Worten "In den Wind gesprochen"; sich selbst beschrieb er darin im Bild des Don Quijote, welcher gegen Windmühlen reitet.

In seinen letzten Jahren beschäftigte Améry ein Projekt, das er als ebenso dringlich wie unzeitgemäß empfand: die Suche nach den Fundamenten einer neuen Linken, besser: einer neuesten Linken, um sie von der Neuen Linken der spät-6Oer Jahre zu unterscheiden. Dass diese Neue Linke gescheitert war, gehörte ebenso zu den Prämissen von Amérys Suche wie das seit langem registrierte Debakel der alten Linken in den Ländern des realen Sozialismus. Aber anders als viele enttäuschte Linksintellektuelle von damals - wie viel mehr der Nachwendezeit und von heute - wollte Améry sich mit dem definitiven Scheitern der Linken nicht abfinden; es wäre für ihn gleichbedeutend gewesen mit der Preisgabe der europäischen Vernunfttradition. Zu ihr zählte er gleichermaßen Lessing und Diderot, Schopenhauer und Marx, Freud und Sartre, die klassische Aufklärung und den bürgerlichen Humanismus, die exakten Wissenschaften und die Sphären der Kunst. Dies alles wollte er aufs Neue ins Verhältnis setzten, ohne Systemzwang und Dogmatik, mit Offenheit und Sinn für die Nuancen, Zwischentöne und Widersprüche der geschichtlichen Überlieferung.

Das Projekt blieb unausgeführt. Aber Amérys Werk, wie es vorliegt und in der 2008 abgeschlossenen Werkausgabe erneut wirksam werden kann, ist eine große Skizze dazu: mit seiner kritischen Schärfe, besonnenen Vernunft und niemals rechthaberischen Offenheit. Amérys Humanismus wird ja gerade dadurch glaubwürdig, dass er als geistige Haltung und emotionale Mitempfindung aus seinem Werk heraus strahlt, als wirksames Gegengift gegen die Versuchungen des Geistes, sei es die dialektische Begriffsscholastik, sei es der ästhetisch drapierte Irrationalismus. Es bleibt die Chance, seine Bücher zu lesen, Jenseits von Schuld und Sühne voran, den Améryschen Schlüsseltext, die großen Essays über das Altern und den Freitod, die autobiografischen Bücher Örtlichkeiten und Unmeisterliche Wanderjahre, die zahlreichen Essays zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte und auch die beiden persönlichsten, intimsten, leider auch unterschätzten Bücher, die Roman-Essays Lefeu und Charles Bovary. Landarzt. Wir haben darin das Vermächtnis des unersetzlichen Mannes, welcher vor 100 Jahren geboren wurde und uns allzu früh verließ.


Hanjo Kesting (*1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen.

  • Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, Klett Cotta, Stuttgart 2012, 173 S., 16,95 Euro.
  • Jean Améry: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Klett Cotta, Stuttgart 2012, 173 S., 16,95 Euro.
  • Sylvia Weiler: Jean Amérys Ethik der Erinnerung. Der Körper als Medium in die Welt nach Auschwitz, Wallstein, Göttingen 2012, 480 S., 49,90 Euro.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2012, S. 62-65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2012