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PROFIL/086: Epikerin weiblicher Erfahrung - Zum Tode von Doris Lessing (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2013

Epikerin weiblicher Erfahrung
Zum Tode von Doris Lessing

Von Hanjo Kesting



Die englische Schriftstellerin Doris Lessing, die 1919 in Persien als Tochter eines britischen Offiziers geboren wurde und in Rhodesien aufwuchs, siedelte nach 30 Lebensjahren und zwei gescheiterten Ehen mit einem Sohn nach England über. Hier erschien ein Jahr später ihr erster Roman - The Grass Is Singing (Afrikanische Tragödie) und wurde sogleich ein Bestseller. Seit Mitte der 70er Jahre nobelpreisverdächtig ist Doris Lessing, Verfasserin von mehr als 20 Büchern, Romanen, Erzählungen, Berichten, Theaterstücken und Gedichten, den deutschen Lesern erst spät ins Bewusstsein gedrungen, ein Vierteljahrhundert nachdem sie zu publizieren begann. Einige ihrer meisterhaften afrikanischen Geschichten wurden ebenso wie ihr Debütroman bereits in den 50er Jahren übersetzt, aber sie verkauften sich nicht, und die Autorin blieb eine literarisch renommierte Unbekannte, ein Geheimtipp. Als sie vor allem bei der weiblichen Leserschaft populär wurde, haben sich gleich mehrere Verlage ihres Werks angenommen, aber es ist einer Autorin auf Dauer niemals gut bekommen, wenn sich nicht ein bestimmter Verlag kontinuierlich um sie bemüht. So war Doris Lessing in Deutschland von Anfang an eine verspätete Autorin.

Ihr Werk ist facettenreich, ihr Lebensweg wenig geradlinig. Als sie sechs Jahre alt war, siedelte die Familie nach Südrhodesien über, wo Doris Taylor, wie sie damals noch hieß, eine Klosterschule besuchte. Als 14-Jährige flüchtete sie von dort zurück auf die elterliche Farm. Eine ordentliche Schulbildung hat sie kaum genossen, sie war Autodidaktin: "Ich las, und wenn mich irgendetwas interessierte, blieb ich daran. Aber ich habe noch immer diese schrecklichen Lücken; Dinge, die jedes Kind gelernt hat, muss ich im Lexikon nachschlagen. Trotzdem bin ich glücklich, dass ich keine Ausbildung in Literatur und Geschichte und Philosophie hatte, weil ich so von dem eingleisigen europäischen Denken verschont blieb."

1937 zog sie nach Salisbury, wo sie als Krankenpflegerin, Telefonistin und Bürohilfe arbeitete. Über die Einflüsse, die ihre Kindheit und Jugend in Afrika auf sie hatten, hat sie gesagt: "Jede Erziehung in jedem Land ist im Grunde eine Gehirnwäsche - um die jeweilig herrschende Kultur zu akzeptieren. Die europäische Erziehung zielt zum Beispiel darauf ab, Europa als den wichtigsten Teil der Welt darzustellen. Sobald Sie aber Europa verlassen und andere Kulturen betrachten, bemerken Sie, wie Europa zusammenschrumpft - zu einer eher kleinen, dominanten, selbstgefälligen Lokalität."

1939 heiratete Doris Taylor den Kolonialoffizier Frank Charles Wisdom, ließ sich aber bald wieder scheiden. Auch ihre zweite Ehe mit dem Emigranten Gottfried Lessing dauerte nur fünf Jahre: "Durch den Einfluss meines zweiten Mannes wurde ich eine gläubige Marxistin. Dann kam jedoch meine Wut über die Zustände in Südafrika, später meine Eindrücke von den Londoner Arbeitervierteln. Es war ein langer, mühsamer Prozess, mich davon zu lösen." 1949 zog sie mit einem ihrer Kinder nach London und veröffentlichte dort ein Jahr später ihren ersten Roman, der noch in Salisbury entstanden war: "Ich war Stenotypistin und Mädchen für alles in einer Anwaltskanzlei. Ich sagte meinem Chef, dass ich kündigen wolle, um einen Roman zu schreiben. Er sah mich wohlwollend an. Nun stand ich vor der Aufgabe, einen Roman zu schreiben. Was für einen? Wie sollte ich Schriftstellerin werden ohne das dringende Bedürfnis, ein bestimmtes Thema anzugehen? Alles, was ich sah und berührte, konnte Ausgangspunkt einer Geschichte sein."

Das Buch brachte Doris Lessing Anerkennung und Erfolg: die in Rhodesien spielende Geschichte einer unglücklichen Ehe, über Schwarz und Weiß, Herr und Knecht, vor allem über eine Frau, die unter pathologischer Angst vor der Sexualität leidet und am Ende das Opfer eines Mordes wird. Man rühmte an dem Buch vor allem die subtile Psychologie der Autorin. Es folgte 1952 der Roman Martha Quest, der erste Band eines fünfteiligen Zyklus mit dem Titel Kinder der Gewalt. Vier Jahre später, im Jahr der Ungarn Krise 1956, trat Doris Lessing aus der Kommunistischen Partei aus. Seither veröffentlichte sie in rascher Folge Romane und Erzählungen, darunter die African Stories, die 1964 erschienen: farbige, meisterhafte Prosawerke, die mit sparsamen und diskreten Mitteln ein Bild des zerfallenden Feudalsystems in den Kolonialländern des südlichen Afrika zeichnen. Die meisten Geschichten beschäftigen sich mit dem Leben der europäischen Siedler vor dem Hintergrund der Eingeborenenwelt. Es ist ein Vorzug von Doris Lessing, dass sie nicht in jene stereotype Haltung verfällt, die den Rassenkonflikt als das einzige Thema in Afrika ansieht und die Weißen grundsätzlich in der Rolle der Ausbeuter drängt. Aber immer wieder gelangt Doris Lessings erzählerische Analyse der Situation zu dem Ergebnis, dass gerade die eingebildete Überlegenheit der Weißen die Ursache ihrer unvermeidlich bevorstehenden Niederlage ist.

Als Doris Lessings Ruhm auch in Deutschland anwuchs und ihre Bücher nach und nach übersetzt wurden, erschienen sie in verwirrender chronologischer Folge, worunter vor allem die Erzählungen zu leiden hatten. Der Verlag Klett Cotta brachte sie seit 1979 in drei Bänden heraus, aber diese umfassten keineswegs die gesamte Kurzprosa der Autorin, zum Beispiel nicht die Afrikanischen Erzählungen, da andere Verlage die Rechte besaßen. Unter solchen Voraussetzungen war es schwer, sich ein Bild von der Entwicklung der Autorin zu machen. Ihr über drei Jahrzehnte hinweg entstandenes Werk wurde sprunghaft oder sogar rückläufig wahrgenommen. In Doris Lessings Entwicklung gibt es bestimmte Konstanten: So war in ihren Büchern von Anfang an das Stoffliche und Gedankliche von größerem Gewicht als das Sprachlich-Stilistische bzw. Ästhetische. Die englische Kritikerin Florence Howe sah darin einen Mangel: "Niemand wird Doris Lessing lesen, um die Technik eines guten Romans zu studieren oder ein gelungenes Kunstwerk zu bewundern." Andere Kritiker sahen darin eher einen Vorzug und hoben Doris Lessings "Leserfreundlichkeit" hervor.

Das Dilemma der Gewalt

Ein gutes Beispiel dafür ist der Roman Die Terroristin von 1985, der bereits zum Spätwerk gehört. Im englischen Original heißt das Buch The Good Terrorist. Schon die paradoxe Zuordnung des Adjektivs "gut" zu dem Schreckenswort "Terrorist" macht die erzählerische Strategie Doris Lessings erkennbar: Sie richtet sich gleichermaßen gegen die Gesellschaft, die abwehrend auf gerechte Proteste reagiert und sie dadurch eskalieren lässt, wie gegen die Heldin des Buches, eben die Terroristin, die die Realität gründlich missversteht. Sie heißt Alice Mellings und ist 36 Jahre alt. In ihrer politischen Gruppe sieht sie sich als selbstständig denkende und handelnde Frau, während sie gegenüber ihrem Freund Jasper wie auch gegenüber den anderen Männern ihrer Gruppe die herkömmliche Frauenrolle spielt. Die Gruppe ist eine Handvoll versprengter Linker jedweder Provenienz; sie nennt sich Kommunistische Zentrumsunion. Um von den militanten Gruppen ernstgenommen zu werden, entwickelt sie eine Reihe von mehr oder weniger revolutionären Aktivitäten: Demonstrationen organisieren, Slogans auf Hauswände sprühen, Veranstaltungen stören, Flugblätter verteilen usw. Im Moment wird gerade ein Haus besetzt, das im Auftrag der Stadtverwaltung unbewohnbar gemacht worden ist. Doris Lessing erzählt die Geschichte von Alices Kampf um dieses Haus, gegen die Behörden, natürlich auch vom Kampf um das Geld, das zur Rettung des Hauses benötigt wird. Die Autorin zeigt den bürgerlich gutmütigen Kern der jungen Frau, die verschiedenen Typen der Gruppe, beschreibt eine Konstellation, aus der fast zwangsläufig eine terroristische Aktion hervorgehen muss. Alle Züge und Schachzüge sind leicht überzeichnet in der Tradition feiner englischer Ironie, so dass die Alltäglichkeit der Begebenheiten stark kontrastiert mit der unvermittelt hereinbrechenden Gewalttätigkeit. Zeitbewegende Fragen spielen in die Intimsphäre hinein; persönliche und private Ängste lösen überpersönliche Abläufe aus. Und dies alles spielt sich sozusagen in der Küche ab, auf der Alltagsebene, in Gesprächen um die Zutaten für eine Suppe oder die Instandsetzung des Klos. Die Selbstgespräche der Titelheldin Alice zeigen uns die innere Not einer Generation, die mit ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht übereinstimmt, die Angst hat vor der Anpassung die eine Veränderung sucht, ohne einen gangbaren Weg zu wissen.

Das Eigenleben der Literatur

Doris Lessings bekanntestes Buch ist Das Goldene Notizbuch. Es erschien in Deutschland mit 16 Jahren Verspätung und traf auf eine für dieses Thema offene, vorwiegend weibliche Leserschaft, die in dem Buch eine Art Bibel des Feminismus sah. Wie sehr das ein Missverständnis ist, hat Doris Lessing selber in einem Vorwort erläutert, das der deutschen Ausgabe des Romans vorangestellt ist: "Die Frauenbewegung der sechziger Jahre hat eine große Chance vertan", heißt es darin. "In jedem Land, das ich besuche, begegne ich unweigerlich der Frauenbewegung, und das Interessante daran ist, dass es überall dasselbe Entwicklungsmuster gibt. Sie treffen sich, sie entwickeln sich gemeinsam und laufen dann auseinander ... Hauptsächlich kritisiere ich an den Frauenbewegungen in jedem Land, dass sie freiwillig das tun, wozu die Männer sie in der Vergangenheit immer gedrängt haben. Das ist ein echter Fehler. Die Männer hätten von Anfang an Teil der Bewegung sein müssen ... In Spanien traf ich eine sehr brillante nationale Frauenkämpferin, und ich fragte sie: 'Warum geben Sie sich dieses komische Image, warum diese Trennung von der Allgemeinheit, dieses Sich ins Abseits-Stellen?' Ihre Antwort war: 'Wir können nicht mit Männern zusammenarbeiten, weil sie uns ständig erniedrigen.' Im Klartext heißt das: Ihnen ist ein bequemes Arrangement innerhalb ihrer Frauengruppen lieber, wo alle miteinander einverstanden sind. Es endet in einem großen Fest der Gefühle. Und sie tun nichts, bringen nichts fertig. Ich will nicht behaupten, solche Gruppen erfüllten keinen Zweck; Frauen, die allein sind und isoliert, erfahren dort viel Unter-Stützung und Ermutigung. Doch sie verändern nichts, und das kritisiere ich."

Goldenes Notizbuch

Das Goldene Notizbuch ist der ehrgeizige Versuch, einen Roman über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, über seine Probleme, Widersprüche, ungelösten Konflikte zu schreiben. Geschildert werden sie aus der Perspektive einer Frau, die Anna Wulf heißt, Schriftstellerin ist und zugleich die Protagonistin der Rahmenhandlung des Buches. Anna sitzt auf einem hochgeschraubten Klavierhocker vor einem Zeichentisch und schreibt; vor ihr liegen vier Notizbücher aufgeschlagen, in die sie abwechselnd Eintragungen macht: ein schwarzes Notizbuch, das von Anna Wulf, der Schriftstellerin, handelt; ein rotes Notizbuch, das Politik betrifft; ein gelbes Notizbuch, in dem Anna aus dem, was sie erlebt hat, Geschichten macht; ein blaues Notizbuch, das den Versuch eines Tagebuchs darstellt. Die Notizen erzählen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Graden der Fiktion. Im schwarzen wie im blauen Notizbuch tritt Anna unverhüllt als Ich-Erzählerin auf. Einmal steht im Mittelpunkt die afrikanische Vergangenheit, die zugleich Aktivität in der kommunistischen Partei bedeutet; auf der anderen Seite steht die subjektive Erfahrung, die eine der fehlgerichteten Gefühle und der sexuellen Verlorenheit ist. Die für Anna entscheidende Begegnung mit dem amerikanischen Schriftsteller und früheren Kommunisten Saul Green ist dem blauen Notizbuch anvertraut. Anna Wulf hat sich also in mehrere Annas aufgeteilt - und findet nun eines Tages in einem Papierladen in London, wo sie lebt, jenes goldene Notizbuch, dem der Roman seinen T1tel verdankt. In dieses Notizbuch mündet am Ende das blaue Tagebuch/Notizbuch über die Affäre mit Saul. Dies ist die Quintessenz des Buches, sein konzentrierter, man könnte auch sagen: sein explodierender Teil. Auf diese fragmentarischen Seiten des goldenen Notizbuches ist der ganze Roman ausgerichtet. Die politischen Erfahrungen werden hier mit den persönlichen und privaten verklammert. Doris Lessing selber drückt es so aus, dass Anna und Saul hier "ineinander zusammenbrechen". Dieses Ineinander-Zusammenbrechen erscheint zugleich als äußerste Verzweiflung und als Erfüllung, die nicht überboten werden kann. Helmut Heißenbüttel schrieb: "Vor der Radikalität dieser erfüllt-unerfüllbaren Liebe wirken die Erzählungen von D. H. Lawrence oder Mary McCarthy wie altmodische Kinderbücher. Doris Lessing blickt dem Verhängnis, von dem sie erzählt, unverwandt ins Auge. Sie verschweigt nichts, sie klagt nicht an, sie stellt fest, sie erzählt ... Ich halte diesen Roman für ein Schlüsselbuch der Literatur nach 1940."

Die Autorin selber hat erklärt, dies Buch bleibe für sie auch lange nach der Niederschrift eine nützliche und lehrreiche Erfahrung. Aus den Reaktionen habe sie vor allem gelernt, dass ein Roman im Kopf der Leser ein Eigenleben führt, dass er anders wahrgenommen wird als vom Autor intendiert, ja dass es kindisch ist von einem Autor, zu wollen, dass die Leser sehen, was er sieht. Wenn er dies will, hat er etwas Wesentliches nicht verstanden - Doris Lessing drückt es mit den Worten aus: "Dass nämlich ein Buch nur dann lebendig und kraftvoll und befruchtend ist, fähig, Gedanken und Diskussion zu fördern, wenn sein Entwurf, seine Form und seine Intention nicht verstanden werden, denn der Moment, in dem Form und Entwurf und Intention verstanden sind, ist auch der Moment, in dem nichts weiter herauszuholen ist. Wenn das Muster eines Buches und die Form seines inneren Lebens für den Leser so offenkundig ist wie für den Autor - dann ist es vielleicht Zeit, das Buch wegzuwerfen, als eines, dessen Tage vorbei sind, und mit etwas Neuem zu beginnen."

Im Oktober 2007 gab die Schwedische Akademie ihren Beschluss bekannt, "der Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen" habe, den Nobelpreis für Literatur zuzuerkennen - Doris Lessing. Sie musste 88 Jahre alt werden, um endlich die Auszeichnung zu erhalten, für die sie seit vier Jahrzehnten eine ernsthafte Kandidatin gewesen war. Nun ist sie, 94 Jahre alt, in London gestorben.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2013, S. 65 - 68
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2014