Schattenblick → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → LITERATUR


PROFIL/096: Carson McCullers - Poesie und Einsamkeit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2017

Poesie und Einsamkeit
Carson McCullers - ein Gedenkblatt zum 100. Geburtstag

Von Hanjo Kesting


Graham Greene hat ihr unter den amerikanischen Autorinnen und Autoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die stärkste und originellste Ausdruckskraft zugeschrieben, Tennessee Williams nannte sie die bedeutendste Schriftstellerin Amerikas in der ersten Jahrhunderthälfte: "Ich habe in ihrem Werk eine solche Dichte, eine so edle Geisteshaltung gefunden, wie es sie seit Herman Melville in unserer Prosa nicht gegeben hat."

Carson McCullers wurde am 19. Februar 1917 in Columbus im US-Bundesstaat Georgia geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend im Süden der USA und begann mit 18 Jahren ein Literatur- und Musikstudium in New York. Zwischen 1940 und 1945 lebte sie in einer Künstlerkolonie in Manhattan, zusammen mit anderen Autoren, darunter der Engländer Wystan Hugh Auden. 1940 erschien ihr Roman Das Herz ist ein einsamer Jäger, der sie berühmt machte und bis heute ihr bekanntestes Buch ist. Das Meisterwerk einer 22-jährigen Autorin, welches in Georgia, einer hässlichen kleinen Industriestadt, spielt, die sich als ihre Geburtsstadt Columbus identifizieren lässt. Die Autorin entwirft darin das Bild einer rassistischen Gesellschaft und zeigt die Einsamkeit und Isolation der Menschen. Die fünf Hauptpersonen sind "einsame Jäger" auf der Suche nach Liebe und Verbundenheit, die alle bei ihrer Suche scheitern. Heinrich Böll schrieb bei Erscheinen der deutschen Ausgabe: "Über die überraschende Sicherheit des Stils, des Aufbaus, der Komposition ließe sich vieles sagen - über die meisterhafte Sicherheit, mit der die Zweiundzwanzigjährige ihren ersten Roman schrieb. Sie ist weder so eindeutig romantisch wie Truman Capote noch so eindeutig naturalistisch wie Norman Mailer, und nicht einmal das Adjektiv realistisch würde ihre Eigenart kennzeichnen: es herrscht ein merkwürdig stiller und doch harter Zauber in diesem Werk, jene winzige und doch so wesentliche Distanz, ein grauer, dünner Schleier, der mich zögernd nur das Wort Wirklichkeit anwenden lässt; die Nebelschicht vor einem melancholischen Auge."

1946 folgte Frankie, die Geschichte eines heranwachsenden Mädchens, durchaus ein Pendant zu J.D. Salingers berühmtem Fänger im Roggen, wieder ein Publikumserfolg. Tennessee Williams gab der Autorin den Rat, eine Dramenversion zu schreiben, und so eroberte sie den Broadway mit 500 Aufführungen ihres Stücks. Zwei weitere Romane waren danach Die Ballade vom traurigen Café und Uhr ohne Zeiger.

Von heute aus gesehen ist wahrscheinlich der kleine Roman Spiegelbild im goldnen Auge von 1941 ihr interessantestes und vielschichtigstes Werk. Er enthält die knappe, nüchterne, psychologisch eindringliche Schilderung des Lebens in einer Garnison im amerikanischen Süden. "Eine Garnison in Friedenszeiten ist ein langweiliger Ort", heißt es zu Anfang. "Es geschieht wohl hin und wieder etwas, aber fast immer das gleiche." In dieser Garnison ist vor einigen Jahren ein Mord geschehen, inmitten eines scheinbar alltäglichen Lebens voll abgründiger Geheimnisse, einer lautlosen Normalität voller Schrecken. Sechs Personen bevölkern das Buch, voran Major Weldon Penderton, ein verklemmter Sadist, der sich in seine Arbeit flüchtet und es stillschweigend duldet, dass seine Frau ein Verhältnis mit seinem Vorgesetzten, Lieutenant Colonel Morris Langdon, unterhält, zum Leidwesen von Mrs. Langdon, einer noch jungen, aber kränkelnden Frau. Dieser Mrs. Langdon gilt die leidenschaftliche Verehrung ihres Dieners Anacleto. Immer wieder wird Penderton von seiner Frau gedemütigt, und er ist überdies so unglücklich darüber, sich in die Liebhaber seiner Frau zu verlieben. Daran mag es liegen, dass er den Soldaten L.G. Williams mit geheimem Hass verfolgt, einen einfachen und linkischen jungen Mann, der das Unglück hat, eines Nachts die schöne Mrs. Penderton nackt durch die Glasfront ihres Hauses zu erblicken. Seither streift er nachts um das Haus, als habe er den Verstand verloren. Carson McCullers führt diese Menschen in einem abgründigen Kammerspiel zusammen, das in eine Katastrophe mündet.

Das starke Kolorit des Lebens

Nach einer unglücklichen Ehe führte Carson McCullers, früh von Krankheit gezeichnet, nachdem sie bereits mit 29 Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte, in Brooklyn ein Bohème-Leben. Ihr Haus war ein Treffpunkt von Künstlern aus aller Welt, darunter Schriftsteller wie John Steinbeck und Klaus Mann, mit dem sie befreundet war, und Musiker wie Benjamin Britten und Leonard Bernstein. Sie starb, erst 50 Jahre alt, 1967 in New York, wo sie die letzten Jahre, teilweise gelähmt, in großer Zurückgezogenheit verbrachte. Die faszinierende Verfilmung ihres Romans Spiegelbild im goldnen Auge durch John Husten, mit Marlon Brando und Elizabeth Taylor in den Hauptrollen, hat sie nicht mehr erlebt.

Ihr Grundthema war die seelische Vereinsamung und Isoliertheit des Menschen inmitten der Gesellschaft. "Seelische Isolierung", schrieb sie, "ist die Basis der meisten meiner Themen. Mein erstes Buch handelte fast ausschließlich davon, und seither mehr oder weniger auch all meine anderen Bücher." Carson McCullers hat ausdrücklich auf die Wichtigkeit der Intuition und Imagination bestanden: "Die Imagination vereint Erinnerung mit Einsicht, vereint Wirklichkeit mit Traum." Und weiter: "Gute Prosa sollte vom Glanz der Poesie durchtränkt sein; Prosa sollte wie Poesie sein, und Poesie sollte so klar verständlich wie Prosa sein."

Richard Wright, der Autor des schwarzen Amerika in den 50er Jahren, schrieb über Carson McCullers: "Ihr Gefühl für Verzweiflung ist einzigartig und individuell; es kommt mir natürlicher und echter vor als das Faulkners. Ihre im Dunkeln tappenden Charaktere leben in einer noch endgültiger verlorenen Welt, als je ein Sherwood Anderson sich hätte träumen lassen. Und sie erzählt von Todesfällen und Fällen von Stoizismus in Sätzen, deren Kühle Hemingways kurz angebundene Prosa im Vergleich dazu warm und mitfühlend erscheinen lässt. Über ihrer Schilderung der Einsamkeit in einer Kleinstadt schweben satirisch primitive Religiosität, jugendliche Hoffnung und die Lautlosigkeit Taubstummer - und alles zusammen gibt dem starken Kolorit des Lebens, das sie beschreibt, den Schimmer überirdischer Zartheit."


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2017, S. 82 - 84
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht (†), Jürgen Kocka,
Thomas Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang