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BUCHTIP/1096: "Wie im echten Leben" - Journalismus (ai journal)


amnesty journal 01/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Herr Korrespondent - es brennt!
Der niederländische Journalist Joris Luyendijk legt in seinem Buch "Wie im echten Leben" offen, was den westlichen Nachrichtenjournalismus über den Nahen Osten bewegt.

Von Maik Söhler


Wie könnte ein Motto lauten, das die Arbeit der Nachrichtenredaktionen in den Tageszeitungen Europas charakterisiert? Vielleicht so: "If it bleeds it leads. Wir machen am liebsten mit Anschlägen, Entführungen, Massakern und Katastrophen auf, denn Blut fesselt das Publikum. Ansonsten muss man die Zahl der Toten durch die Entfernung zum Ort des Geschehens teilen. Tote Weiße sind eher eine Meldung wert als tote Schwarze oder Asiaten, tote Christen eher als tote Nicht-Christen."

Hier spricht Joris Luyendijk, Nahost-Reporter für niederländische Printmedien, Radio- und Fernsehsender, u.a. die Tageszeitungen "De Volkskrant" und "NRC Handelsblad". Oder in seinen Worten: "Ich war exklusiver Berichterstatter für Gipfeltreffen, Anschläge, Bombardierungen oder diplomatische Schachzüge."

Die Vergangenheitsform sagt es - er war Berichterstatter, und genau von dieser Zeit legt Luyendijk in seinem jüngst erschienenen Buch "Wie im echten Leben" Zeugnis ab. Es handelt sich dabei nicht einfach um Memoiren eines Auslandskorrespondenten, sondern um eine pointierte und thesenreiche Abrechnung mit dem Nachrichtenjournalismus, um eine Mischung aus Berufsreflexion, streitbarem Essay und Reportagen in eigener Sache.

Schon in seinem ersten Reporterjahr in Ägypten bemerkt der Autor einen Widerspruch, der ihn in der gesamten Zeit seiner Laufbahn begleiten wird: "Offenbar konnte ich als Korrespondent ganz verschiedene Geschichten über ein und dieselbe Situation erzählen. Doch die Medien konnten nur eine davon bringen, und oft genug war das genau diejenige Geschichte, die das bereits vorherrschende Bild bestätigte."

Luyendijk möchte jenseits der großen politischen Zusammenhänge auch vom Alltag erzählen, von Menschen und ihren Schicksalen, kleinen Siegen und Niederlagen, einfachen Freuden und Schrecken. Vor allem Witze haben es ihm angetan. Im Buch hat er Platz dafür, und man merkt schnell, warum er sie hier platziert. Wer Witze erzählt, hat Humor, möchte andere zum Lachen und Nachdenken bewegen, handelt zutiefst menschlich.

Doch seine Auftraggeber drucken solche Geschichten nur selten. Sie passen nicht zum Bild, das man sich in Europa von den arabischen Staaten und dem Nahen Osten macht. Die Standpunkte stehen vorher fest, sie werden in 1.000 Kilometer entfernten Redaktionen formuliert, und der Korrespondent hat nur noch die Fakten zu liefern, seinen Namen und, ganz wichtig, die jeweilige Ortsmarke - Kairo, Jerusalem, Bagdad - hinzuzufügen. So funktioniert Nachrichtenbusiness.

Der Autor spart nicht an Belegen für diese Behauptung. Die meisten Medien versuchen ausgewogen über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu berichten, in der Praxis jedoch kann die israelische PR-Maschinerie mit zahlreichen vorbereiteten Briefing-Dossiers und gut verfügbaren Ansprechpartnern zu fast jedem Thema stärker Einfluss nehmen als die palästinensische Seite. Diese kann im Medienkrieg zwar nicht gewinnen, aber auch sie hat ihre werbewirksamen Strategien gefunden. Die eindrücklichsten Passagen des Buches beschreiben die Arbeit westlicher Fernsehsender in den palästinensischen Gebieten und im Libanon. Bevor ein Kamerateam anreist, beauftragt es oft einen so genannten Fixer, alles Nötige vorzubereiten: Termine, Drehorte, Interview-Partner.

Die Fixer bekommen für ihre Arbeit viel Geld, obwohl sie oft regulär bei der palästinensischen Autonomiebehörde angestellt sind. Trifft das Kamerateam vor Ort ein, legt der Fixer los: "Ich habe einen Kollaborateur, der hingerichtet werden soll, die Mutter von einem erschossenen Steinewerfer, eine Frau, die an einem Checkpoint eine Fehlgeburt erlitten hat." Luyendijk versucht anfangs, alles selbst zu recherchieren, erreicht aber schnell seine Grenzen: "Je größer der Zeitdruck, umso einfacher die Manipulation."

9/11 und der "War on Terror" verschärfen die Situation. Nach den Anschlägen auf die Twin Towers gehen Bilder jubelnder Palästinenser über die Fernsehbildschirme der Welt. Der Zuschauer ist beeindruckt, so reagiert also der Palästinenser. Luyendijk hingegen berichtet resigniert davon, dass aus dem Verhalten von 30 Leuten auf die gesamte Bevölkerung geschlossen wird: "In solchen Momenten sah ich, wie die Kluft zwischen Orient und Westen tiefer wurde, nicht, weil wir so verschieden sind, sondern weil wir ein radikal anderes Bild der Wirklichkeit vorgesetzt bekommen."

Vom Einmarsch der alliierten Truppen in den Irak erwartet er nicht viel und wird doch überrascht. Die PR-Abteilung der US-Armee wartet mit neuen Medienstrategien auf. Journalisten, die berichten wollen, müssen in Armee-Einheiten eingebettet sein. Schon in anderen Kriegen waren Journalisten auf Militärangaben angewiesen - als eine Quelle von vielen. Hier aber monopolisiert die US-Army die Nachrichten, andere Informationsmöglichkeiten fallen aus Sicherheitsgründen weg. "Die Puppen hatten neue Namen, aber sie hingen an Fäden, die mir bekannt vorkamen", schließt Luyendijk.

Eine seiner großen Leistungen besteht darin, solche Funktionsweisen der Medien sichtbar zu machen. Er hinterfragt außerdem die journalistische Arbeit in Diktaturen. Wie berichtet man aus Diktaturen? Welcher Informant ist glaubwürdig, welcher ist ein Spitzel? Wie repräsentativ ist eine einzelne Stimme? Welche gesellschaftliche Bedeutung kommt den so genannten "Donor Darlings" zu - den vom Westen unterstützten Vertretern der Zivilgesellschaft?

Viele Antworten auf diese Fragen bietet Luyendijk nicht. Wie genau eine andere Berichterstattung über arabische Länder aussehen könnte, kann auch er nur in Ansätzen skizzieren. Seine gepriesene Alltagsberichterstattung birgt die Gefahr des Singulär-Banalen; man möchte nicht täglich Neues von einem umgefallenen Sack Reis erfahren. Guter Journalismus verbindet im Idealfall Sensation und Alltag, stellt Zusammenhänge her, ohne mit unzulässigen Verallgemeinerungen zu arbeiten.

Daneben hat sich in den letzten Jahren im Internet eine neue Form des Schreibens und Berichtens etabliert. Tausende Weblogs, betrieben von Autoren aus aller Welt, haben längst die subjektiv-alltägliche Lücke gefüllt, die die Medien offen gelassen haben. Arabische Blogs konnten der Zensur zum Trotz immer wieder erstaunliche Informationen und Geschichten liefern. Vielleicht wäre ein eigenes Weblog das richtige Medium für Joris Luyendijk und seinen Ansatz, mit den Konventionen des Nachrichtenjournalismus zu brechen. Dort könnte er alles fortschreiben, was in seinem hellsichtigen und wichtigen Buch noch fehlt.

Der Autor ist Magazin-Redakteur von Netzeitung.de.

JORIS LUYENDIJK
Wie im echten Leben. Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges.
Übersetzt von Anne F. Middelhoek. Tropen Verlag, Berlin 2007. 256 S., 19,80 Euro


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Quelle:
amnesty journal, Januar 2008, S. 32-33
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2008