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BUCHTIP/1125: Israel - Einen Staat lesen (ai journal)


amnesty journal 05/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Einen Staat lesen
Am 14. Mai jährt sich die Gründung Israels zum 60. Mal. Mehrere Neuerscheinungen israelischer Autoren befassen sich mit den Menschen und ihrem komplizierten Leben in dem Land.

Von Stefan Wirner


"Sagen Sie, finden Sie den nicht verdächtig?" Die ältere Dame hat als erste Bedenken in dem kleinen Minibus Linie 9 in Tel Aviv und zeigt auf einen jungen Mann mit Wollmütze und Kleidersack. Doch Eitan Einoch, die Hauptfigur des Romans "Ein schönes Attentat", wimmelt sie ab: "Jetzt übertreiben Sie mal nicht. Er schaut ganz normal aus."

Eitan irrt sich. Als er wenig später in seinem Büro sitzt, erfährt er, dass sich der Mann im Bus in die Luft gesprengt und zehn Menschen mit in den Tod gerissen hat. Schnell findet sich der Leser in der israelischen Wirklichkeit wieder, konfrontiert mit einem Phänomen, das in der Berichterstattung über das Land bisweilen unterbelichtet ist: der permanenten Bedrohung israelischer Zivilisten durch Selbstmordattentate. Der in Israel populäre Schriftsteller Assaf Gavron nimmt sich des Themas literarisch an, und zwar auf eine sehr eigenwillige Weise. Trotz des bedrückenden Themas ist das Buch zuweilen ein humorvolles - wenn es sich auch meist um tiefschwarzen Humor handelt. Es ist politisch unkorrekt, etwa wenn Eitan über die skeptische alte Dame sagt, sie sei wohl noch "paranoid vom Holocaust". Der Hauptdarsteller selbst überlebt zwei weitere Attentate, wird dadurch zum Fernsehstar, doch sein Leben gerät ihm völlig aus der Kontrolle. Der Attentäter liegt unterdessen im Krankenhaus und kann es nicht fassen, dass dieser Israeli sämtliche seiner Anschläge überlebt. Diese Tragikomödie ist jedem zu empfehlen, der Interesse hat am speziellen israelischen Blick auf die Zustände.

Auch Yiftach Ashkenazy gibt mit den Erzählungen in "Mein erster Krieg" unbekannte Einblicke. Er erzählt etwa vom "Bett Nummer sechs" auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Haifa und von den Menschen, die darin sterben: von einem an Leukämie erkrankten Jungen, von verletzten Soldaten, Menschen, die bei einem Anschlag verwundet wurden, oder Opfern eines Unfalls. Die titelgebende Erzählung "Mein erster Krieg" besteht aus derben Briefen, die ein auf den Golanhöhen stationierter Soldat an die Frau schreibt, die ihn verlassen hat. Beschimpfungen der ehemaligen Geliebten gehen einher mit Beschreibungen des Soldatenalltags. Wie denkt ein israelischer Soldat auf den Golanhöhen? "Gestern, als ich auf dem Posten stand, kamen zwei Wildschweine und blieben einen Meter weit weg von mir stehen. Am Anfang dachte ich, es seien Syrer, und ich bin furchtbar erschrocken." Auch diesem Band fehlt das sprichwörtliche "Blatt vor dem Mund": Alles wird angesprochen, schonungslos, in einer bisweilen kräftigen Sprache. Und deshalb ist er sehr zu empfehlen.

Wer sich mit der politischen Realität dieses in der Welt so umstrittenen Staates befassen will, dem sei Igal Avidans "Israel. Ein Staat sucht sich selbst" angeraten. Der Korrespondent des "Jerusalem Report", der auch für die "Süddeutsche Zeitung" und "Cicero" arbeitet, lässt die Geschichte Israels Revue passieren und spürt den aktuellen Fragen zum Selbstverständnis des Staates nach: "Wird Israel noch weitere 60 Jahre existieren? Und wenn Ja, wird es zu einer Art Massada, einer Burgfestung, deren Bewohner ein Leben im Dauerkampf um ihre Existenz führen?" Zionismus, arabische Israelis, die Bedrohung von außen, die Siedlungen - alle brisanten Themen werden in einem anekdotenreichen Stil erörtert. Wer sich darauf einlässt, dürfte seinen Horizont erweitern.

Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.

ASSAF GAVRON: Ein schönes Attentat. Luchterhand, München 2005, 352 S., 19,85 Euro;
YIFTACH ASHKENAZY: Mein erster Krieg. Luchterhand, München 2008, 100 S., 7 Euro;
IGAL AVIDAN: Israel. Ein Staat sucht sich selbst. Diederichs, München 2008, 214 S., 19,95 Euro.


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Quelle:
amnesty journal, Mai 2008, S. 38
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2008