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BUCHTIP/1200: Irene Khan - "Die unerhörte Wahrheit" (ai journal)


amnesty journal 06/07/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Rechte statt Almosen

Wer die Armut bekämpfen will, der muss die Rechte der Armen stärken.
Diese These vertritt Irene Khan in ihrem Buch "Die unerhörte Wahrheit".

Von Ferdinand Muggenthaler


Irene Khan hat ein umfassendes Plädoyer für den Einsatz der Menschenrechte im Kampf gegen die Armut geschrieben. Die ehemalige internationale Generalsekretärin von Amnesty International hält sich dabei nicht mit abstrakten völkerrechtlichen Herleitungen auf. Sie beginnt mit einer Episode aus ihrer Kindheit in Bangladesch und gibt damit den persönlichen Ton des Buches vor. Irene Khan, aus einer wohlhabenden Familie stammend, spielte als Kind mit dem gleichaltrigen Fajal. Als Sohn des Hausmädchens ihrer Großmutter wird er von den Mitschülern gehänselt. Nach einem Jahr verlässt er die Schule und seine Mutter schickt ihn in eine Fabrik zum Arbeiten. Als er später gegen die Privatisierung seines Werks protestiert, wird er entlassen. Während Irene Khan im Ausland studiert, bleibt Fajal in einem Teufelskreis der Armut gefangen.

Fajals Geschichte führt zur zentralen These von Irene Khan: Armen Menschen fehlt nicht einfach das Geld. Sie sind arm, weil sie ungerecht behandelt werden. Und weil sie arm sind, werden ihnen ihre Rechte verweigert. Diese Wechselbeziehung führt die Juristin an vielen Beispielen aus.

Eines davon ist Peru. Zwar sank dort die Müttersterblichkeit in den vergangenen Jahren, dies ist jedoch nur auf eine bessere Versorgung wohlhabender Frauen zurückzuführen, während gleichzeitig immer mehr arme Frauen bei der Geburt oder als Folge der Geburt starben. Dies liegt nicht nur daran, dass arme Frauen häufig unterernährt sind, sondern auch an einem diskriminierenden Gesundheitssystem. So investierte Peru 2005 doppelt soviel Geld in das Gesundheitssystem wohlhabender Regionen wie in das armer Gegenden. 2000 starben in Perus ärmster Region, in der vor allem Indigene leben, 89 von 1.000 Säuglingen, während es in der reichsten Region, in Lima, nur 17 waren. Viele indigene Frauen bringen ihre Kinder lieber zu Hause zur Welt, zum einen wegen der schlechten Ausstattung der Krankenhäuser vor Ort, aber auch, weil sie sich dort diskriminiert fühlen und die Ärzte ihre Sprache nicht sprechen. Eine Geburtsurkunde für ein zu Hause geborenes Kind zu bekommen, kostet jedoch Geld, das die Familien nicht haben. Also wachsen die Kinder ohne Urkunde auf und haben so keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem.

Das Recht, das den armen Frauen in Peru verweigert wird, ist das Recht auf Gesundheitsversorgung. Es gehört zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten. Irene Khan plädiert in ihrem Buch auch dafür, diese Rechte endlich als gleichberechtigt neben den bürgerlichen und politischen Menschenrechten wahrzunehmen. Sie begründet damit auch noch einmal, warum sich Amnesty International unter ihrer Leitung verstärkt für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte einsetzte. Dabei lässt sie nie das Missverständnis aufkommen, dass die politischen Freiheitsrechte für die Armutsbekämpfung unwichtig seien. Im Gegenteil: Khan weist überzeugend nach, dass Armutsbekämpfung nur dann funktioniert, wenn die Armen ihre Interessen selbst vertreten können. Und wie soll das in Ländern möglich sein, "in denen die Presse einen Maulkorb trägt und Bürger, die eine abweichende Meinung äußern, hinter Gittern enden?"


Irene Khan: Die unerhörte Wahrheit. Armut und Menschenrechte. Aus dem Englischen von Jürgen Bauer, Fee Engemann und Edith Nerke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 320 Seiten, 22,95 Euro


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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2010, S. 72
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2010