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SF-JOURNAL/051: Autoren... Harlan Jay Ellison, grundsätzlich dagegen (SB)


Harlan Jay Ellison, (geboren 1934)


Obwohl Harlan Ellison genug HUGO's gewonnen hat, um sich daraus einen Zaun um seinen Garten zu bauen, wehrt er sich gegen die Bezeichnung "Science-Fiction-Autor". Die Tatsache, daß unter seiner geistigen Vaterschaft die berühmte Fernsehserie "The Twilight Zone" wieder zum Leben erweckt wurde, mag als Beweis dafür dienen, daß seine Phantasie auch in anderen Bereichen Erstaunliches zu leisten vermag.
(aus: World's Best SF Nr. 5, Hg. Donald Wollheim, Arthur W. Saha, Bastei Lübbe 1986, S. 250 - Aus dem Vorwort zu Ellisons Kurzgeschichte "Mit Virgil Oddum am Ostpol"/1985, eine der tragenden Säulen seines Buchexperiments "Medea")

Ellison selbst bringt es wesentlich deutlicher auf den Punkt: Das Etikett Science Fiction ist seiner Meinung nach nicht nur irreführend, sondern geradezu ein Handicap. Er bezeichnet sich selbst als Ellison-Autor, dementsprechend trägt sein Stil sehr persönliche Züge, ist kraftvoll, leidenschaftlich und eigensinnig und zeugt von einer grundsätzlichen Protesthaltung.

Welche thematische Spielart gesellschaftlichen Miteinanders bzw. Gegeneinanders Ellison auch immer aufgreift, so haben sie doch alle eines gemein: die beharrliche Auflehnung gegenüber Konventionen schlechthin. Und das ist vermutlich die eigentliche, treibende Kraft seiner "erstaunlichen Phantasie", wie Wollheim und Saha es unzureichend bezeichnen, und ihr ist wohl letztlich auch seine Berühmtheit und sein Erfolg zuzuschreiben.


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Persönliche Daten

Harlan Jay Ellison wurde am 27. Mai 1934 in Cleveland/Ohio geboren (weitere Namen: Nalrah Nosille, Jay Charby, Wallace Edmondson, Ellis Hart, Jay Solo, Cordwainer Bird).

Er hatte eine schwierige Kindheit und eine bewegte Jugend. Schon in jungen Jahren beschäftigte er sich mit Science Fiction, schrieb Artikel und brachte sein eigenes Fanzine heraus. An der Ohio State University, wo er 1953/54 studierte, wurde ihm allerdings mangelndes Talent bescheinigt (andere Quellen sprechen von Rauswurf, weil er seinen Literaturdozenten beleidigt hatte), woraufhin er dieser Lehrstätte den Rücken kehrte. Nach verschiedenen Jobs und schriftstellerischen Mißerfolgen konnte er er im Alter von einundzwanzig Jahren dann doch seine erste Story ("Glowworm"/1956) an "Infinity" verkaufen.

Ellison arbeitete weiterhin als Herausgeber bei "Regency Books" und für "Rogue", betätigte sich jahrzehntelang als streitbarer Kolumnist und Essayist und ging dann später nach Hollywood. Seitdem ist er als erfolgreicher künstlerischer Berater sowie Autor für Theater und Fernsehen bekannt. Viele seiner Drehbücher und auch Einzelepisoden zu SF-Serien (u.a. Star Trek) wurden mit Preisen ausgezeichnet.


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Werke, Äußerungen zum Genre und zum Schreiben

Keine Diskussion über die Science Fiction der 60er und 70er Jahre wäre vollständig ohne eine Diskussion über Ellison, so James Gunn. Viele Autoren dieser Zeit strebten nach einer Kehrtwende bisheriger Weltanschauungen innerhalb dieses Genres, rebellierten gegen alles, was bisher als ureigener Bestandteil der Science Fiction-Literatur gegolten hatte, nicht zuletzt gegen den Namen selbst. So auch Ellison, der Herausgeber, Autor, Künstler, starke Persönlichkeit und Symbolfigur schlechthin.

1965 konzipierte er die Idee zu seiner Originalanthologie "Dangerous Visions" mit außergewöhnlichen Stories, die bisher in den herkömmlichen SF-Magazinen nicht veröffentlicht wurden (Bd. 1/1967, Bd. 2/1972). Diese Bände fanden bemerkenswerte Anerkennung. Kenner meinen sogar, dies sei die beste SF-Anthologie aller Zeiten.

Den wenigen Romanen, die Harlan Ellison verfaßte, wird im allgemeinen nachgesagt, sie seien kurz, schlecht und zu Recht vergessen. Zu seinen besten Kurzromanen zählen "All The Lies That Are My Life" (1980) und "Mephisto in Onyx" (1993). Ellisons eigentliche schriftstellerische Stärke jedoch liegt auf dem Gebiet der Kurzgeschichte. Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die ihrer Arbeit in der Abgeschiedenheit nachgehen und wochen- oder monatelang an einem Text feilen, ist Ellison ein Performance-Künstler. Er gilt als profilierter Autor, der immer gern dabei war, wenn es galt, in der Öffentlichkeit zu schreiben; so beispielsweise in Schaufenstern von Buchhandlungen.

Hier eine kleine Auswahl seiner berühmtesten Erzählungen. Allein die Titel erzählen eine Geschichte für sich:

* 'Repent, Harlekin!' Said the Ticktockman (1965) * I Have No Mouth, And I Must Scream (1967) * The Prowler In The City At The Edge Of The World (1967) * Pretty Maggie Moneyeyes (1967) * A Boy And His Dog (1969) * The Deathbird (1974)

Für all diese Stories erhielt er Preise. Die Geschichte von Jeffty, einem ewig-fünfjährigen Jungen, dem es gelungen ist, seine eigene Welt innerhalb der modernen zu erschaffen und der dafür am Ende einen hohen Preis bezahlt ("Jeffty Is Five"/1977) wurde sogar vierfach ausgezeichnet: Mit dem Hugo, Nebula, Jupiter Award und British Fantasy Award.

Selbst wenn die Geschichten Ellisons 'lediglich' Kunstprodukte darstellen, die, als Beruf ausgeübt, produziert und auf den Markt gebracht (der Autor legt Wert darauf, sich möglichst selbst zu managen), mit dem Menschen Harlan Jay Ellison vielleicht gar nichts zu tun haben, so kann man doch eines mit Gewißheit sagen: Er versteht sein Handwerk. Und nicht zuletzt sind es wohl die eindeutigen und klaren Stellungnahmen innerhalb seiner Stories, um derentwillen er geliebt oder gehaßt wird. Hauptsächlich dadurch hat er sich zu einem umstrittenen Autor emporgearbeitet. Stets macht er sich greifbar - und somit auch angreifbar. So auch in der Story, die hier als Leseprobe vorgestellt wird.


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Leseproben

Es ist zu bezweifeln, ob Ellison heute für "'Bereue Harlekin!' sagte der Tick-Tack-Mann" (erschienen 1965, erhielt Hugo und Nebula) einen Preis erhalten würde. Erzählt wird die Geschichte eines Widerstandskämpfers gegen das amerikanische Staatssystem, der schließlich, eigentlich des Todes, einer Gehirnwäsche unterzogen wird und als Vorzeige-Sünder weiterleben darf. - Nun, das Thema war damals kein ungewöhnliches. Aber Ellison hörte nicht auf, sich damit auseinanderzusetzen.

Sechs Jahre später präsentierte er mit "Das Schweigen der Hölle", eine wesentlich krassere Darstellung zum Thema Widerstand gegen den Staat. Eine Gehirnwäsche wird hier nicht mehr vollzogen. Schlimmer noch. Der Täter erhält seinen Platz in der Gesellschaft, darf weiter agieren, seine Parolen ausrufen, zwanzig Meter freischwebend in einem hell erleuchteten Käfig über der Straße einer Großstadt. Unzählige Pilgerzüge besuchen ihn fortan, "Joe Bob Hickey, Opfer und Beute seiner Welt, vom Metzgervogel auf einem Dorn aus Licht aufgespießt..." Was wohl der Autor heute dazu sagen würde?

Er konnte nicht anders. All das, was er seit Jahren gerufen hatte, schrie er hinaus. Und die Kreatur hörte auf, die kleinen blauen Gestalten zu schlagen, und sie standen langsam auf und zogen den Wagen fort, und die Kreatur folgte. Und als sie sich etwas entfernt hatten, rollte sich die Kreatur von neuem auf den Wagen und peitsche sie vor sich her.

"Erhebt euch, ihr Kröten! Kämpft für die Freiheit!"

So schrie er den ganzen Tag, und das Megaphon ließ seine Stimme an die Mauern der fensterlosen goldenen Gebäude schlagen.

"Reißt ihnen die Peitschen aus der Hand! Ist es das, was ihr verdient?! Noch ist es Zeit! So lange noch einer von euch nicht aufgibt, besteht noch eine Chance. Ihr seid nicht allein! Wir sind eine große organisierte Widerstandsbewegung..."

Sie hören nicht.

Sie werden hören.

Niemals. Es ist ihnen gleich.

Nein! Nein, das ist es nicht. Sieh hin!

Und es war so. Drunten auf der Straße kamen Wagen gefahren, und sobald sie in Reichweite seiner Stimme gerieten, begannen die goldenen Kreaturen mit kreischenden Stimmen zu heulen und schlugen sich selbst mit ihren Peitschen... Und die Wagen setzten sich wieder in Bewegung... Und die blauen Kreaturen peitschten ihre blauen Sklaven davon.

Vor seinen Augen heulten sie und schlugen sich, versuchten für ihre Grausamkeiten zu büßen. Aus seinem Blickfeld verschwunden, machten sie weiter wie ehedem.

Er brauchte nicht lange, bis er verstand.

Ich bin ihr Gewissen.

Du warst der letzte, den sie finden konnten, und sie nahmen dich, und jetzt hängst du hier und prangerst sie an, und sie schlagen sich an die Brust und heulen mea culpa, mea maxima culpa, und züchtigen sich; dann machen sie weiter wie zuvor.

Wirkungslos.

Totem.

Clown. Ich bin ein Clown.

Aber sie hatten gut gewählt. Er konnte nicht anders. Wie er immer eine stumme Stimme gewesen war, die Worte schrie, die doch niemand hörte, so war er auch jetzt eine stumme Stimme. Tag für Tag erschienen sie unter ihm und bejammerten ihre Schuld. Sobald das geschehen war, konnten sie weitermachen.
(aus: Science Fiction Stories 58, Hg. Walter Spiegel, Ullstein GmbH, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976, S. 66/67)


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Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben

Erstveröffentlichung 2002

10. Januar 2007