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BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)


Nekrophilie der Eliten

Andy Miah, Aubrey de Grey - Foto: © 2011 by Schattenblick

Andy Miah, Aubrey de Grey
Foto: © 2011 by Schattenblick

Von den beiden Transhumanisten Andy Miah und Aubrey de Grey gefragt, wie alt es denn werden wolle, gab sich das Publikum im "Friedhof" eher zurückhaltend. Die nach Altersklassen gestaffelte Umfrage, an der man sich mit Handzeichen beteiligen konnte, sollte den Referenten zur Erfolgskontrolle ihrer Mission, die Menschheit von den Vorzügen der Langlebigkeit zu überzeugen, dienen. Ob man nun dem Braten einer schon bald deutlich erweiterten Lebenserwartung nicht so recht traute oder sich schlicht in eine Kundensituation gedrängt fühlte, die geringe Begeisterung für das durch Anti-Aging verheißene Heil ließ ahnen, daß die britischen Enhancement-Ideologen sicherlich auch andernorts auf Skepsis stoßen.

Vielleicht wäre es produktiver gewesen, nach drei Vorträgen zum Themenkreis transhumanistischer Optimierungskonzepte das Gespräch mit dem Publikum zu eröffnen und sich Fragen zu stellen, die den utilitaristischen Zirkelschluß der Selbstverbesserung durchbrochen hätten. So fiel die soziale Verantwortung gegenüber all jenen Menschen, die nicht einmal über die Mittel verfügen, die durchschnittliche biologische Lebensspanne auszuschöpfen, ebenso unter den mit PR-Botschaften reich gedeckten Tisch wie das Problem, das die forsche Subsumierung des Alterns unter das Stigma "Krankheit" in die Welt setzt. Das propagierte "Heilen des Alterns" soll, wie der Chief Science Officer der SENS Foundation, Aubrey de Grey, in einem an die Überzeugungsstrategien von Motivationseminaren gemahnenden Vortrag anpries, der passenderweise im Bühnenbild "Krankenhaus" stattfand, schon in absehbarer Zeit erhebliche Verlängerung der Lebenszeit ermöglichen.

De Grey bedient sich zur Anwendung seiner Theorie, man könne durch den Alterungsprozeß bedingten physischen Schäden auf therapeutische Weise Einhalt gebieten oder sie sogar reversibel machen, vor allem der Mutmaßungen der humangenetischen Forschung. Zwar könnten die propagierten Aussichten der Gentherapie nicht vielversprechender sein, doch ihre Realisierung hinkt den damit geschürten Hoffnungen und Wünschen weit hinterher. Die für die SENS-Stiftung namensgebenden Strategies for Engineered Negligible Senescence sind vor allem substitutiver Art, indem etwa Stammzellen eingebracht werden oder auf andere Weise in den Zellstoffwechsel eingegriffen wird. Der britische Biogerontologe legt dabei das pragmatische Selbstverständnis an den Tag, aufgrund der erst in Jahrzehnten zu erwartenden präzisen Erkenntnisse über das Zusammenwirken der Zellbestandteile und die beim Altern erfolgenden Zerfallsprozesse den ingenieurstechnischen Ansatz gewählt zu haben, diese Schäden nachträglich mit Hilfe innovativer Therapien zu beseitigen, anstatt zu versuchen, sie mit Hilfe grundlegender Erkenntnisse über den Zellstoffwechsel im Vorweg zu verhindern.

Vortrag vor gefülltem Saal - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im "Krankenhaus" des Alters ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Im weitesten Sinn basiert das SENS-Konzept auf regenerativer Medizin, die sich vor allem gentherapeutischer Verfahren und der Transplantation von Körpergeweben aller Art bedient. Diesen Anwendungen liegt die ganze Kette reproduktionsmedizinischer Nutzanwendungen zugrunde, die als Einfallstor für die biomedizinische Zurichtung des Menschen im allgemeinen und der Frau im besonderen fungieren. Die Erwirtschaftung der erforderlichen Gewebe und Zellbestandteile durch die Verwertung von Embryonen und Föten hat Formen weiblicher Dienstleistungen geschaffen, die für die Produzentinnen reproduktiver Substrate keinesfalls ungefährlich sind. Des weiteren steht die Option der Klonierung der erforderlichen Gewebe im Raum, die nicht minder tiefgreifende Folgen für die weitere menschliche Entwicklung haben kann. Die Life Sciences haben wenig Berührungsangst, was fremdnützige Übergriffe betrifft, deren therapeutischer Zweck Mittel heiligt, die dem subjektiven Interesse der GewebeproduzentInnen entgegenlaufen können. Das gilt insbesondere bei Menschen in existentiellen Grenzbereichen, wo sie dem schieren Bedarf biomedizinischer Verfahren durch die Neudefinition des Lebens zu seinem Beginn und Ende wie in pathologisierten Geisteszuständen überantwortet werden.

Die auf Substitution von Geweben und Zellen abstellende Ersatzteillogik macht de Grey mit der Analogie plausibel, das Erreichen dauerhafter Gesundheit entspreche dem Erhalt eines Autos, daß, obwohl nicht für lange Haltbarkeit vom Fließband gelaufen, durch intensive Wartung dennoch Jahrzehnte überdauern könne. Deutlicher als mit diesem Vergleich könnte der spekulative Charakter der Verheißung, der Mensch könne durch zelltherapeutische Strategien körperliche Funktionsstörungen aller Art beseitigen und neue Rekorde der Langlebigkeit erstellen, nicht illustriert werden. Die auch im Physiologieunterricht gerne herangezogene Funktionslogik des Autos hebt nicht umsonst auf eine industriell erfolgreiche Produktionsweise ab, deren Schattenseiten immer deutlicher als gravierendes Problem für die Zukunft des Menschen hervortreten. Der auf ewig laufende Käfer verkörpert die Ära des Fordismus, dessen Produkte selbst in den Hochzeiten dieser industriellen Epoche längst nicht allen Menschen zur Verfügung standen. Heute stößt der Wunschtraum individueller Mobilität an Grenzen ressourcentechnischer und ökologischer Verträglichkeit, die seine Erfüllbarkeit noch mehr auf eine privilegierte Klasse von Menschen beschränkt.

Alter VW-Käfer  - Foto: © 2011 by Schattenblick

Industrielle Massenfertigung als Matrix menschlicher Existenz
Foto: © 2011 by Schattenblick

Das gilt auch für das Langlebigkeitsversprechen der Transhumanisten. Selbst wenn mit der SENS-Therapiestrategie deutlich größerer Lebensspannen zu erreichen wären, was in Anbetracht des Standes der propagierten gentherapeutischen Verfahren und aller unberücksichtigt bleibenden Faktoren subjektiver Disposition unwahrscheinlich ist, so handelte es sich stets um eine Elitemedizin par excellence. Allen Menschen auch nur eine durchschnittliche biologische Lebenserwartung zu vergönnen, indem sie in den Genuß der dafür unverzichtbaren Versorgungsleistungen gelangten, bleibt in dieser Heilserwartung unberücksichtigt. Wo der Mensch, der sich mit den Problemen der anderen konfrontiert und dabei entdeckt, daß sie von den eigenen ununterscheidbar sind, die soziale Frage stellt, gibt die transhumanistische Eschatologie die Antwort, daß das Heil im individuellen Überleben liegt.

De Greys Mahnung, es wäre moralisch verwerflich, künftigen Generationen die Frucht heutiger wissenschaftlicher Bemühungen um Langlebigkeit vorzuenthalten, ist signifikant für den zivilreligiösen Überschuß einer sozialdarwinistischen Praxis, die die Suche nach dem Heiligen Gral auf dem Rücken globaler Sklavenexistenzen vollzieht. De Greys Rechtfertigung, es ginge ihm lediglich um die Schaffung von Gesundheit, während die daraus resultierende Lebensverlängerung lediglich ein Nebenprodukt seiner Bemühungen wäre, geht nicht nur darüber hinweg, daß Milliarden Menschen nicht einmal Basisleistungen medizinischer Versorgung zur Verfügung stehen. Sie normiert Gesundheit durch die Stigmatisierung des Alters, so daß der Mensch ganz auf seine Verfügbarkeit für produktive und reproduktive Zwecke reduziert wird.

Das geht allein aus der zeitlichen, rein quantitativen Dimension dieser Gesundheitsdefinition hervor. Das Jonglieren mit statistisch ausgeleuchteten Horizonten der Lebenserwartung und ihrer prognostischen Erweiterung ist geradezu Sinnbild für die Herrschaft des Zeittaktes und der Prozeßlogik mikroelektronisch gesteuerter Produktivität. Die betriebswirtschaftliche Bemessung menschlicher Arbeit findet ihre ultimative Sinnerfüllung in der Käuflichkeit eines Lebens, in dem das Versprechen des Konsums ins Unendliche entufert. Auf dem Prüfstein kapitalistischer Rentabilität zerlegt in produktive Funktionserfüllung und unproduktiven Verschleiß wird der transhumane Mensch zu einem Glied in der Kette biomedizinischer Infrastruktur, das seiner instrumentellen Voraussetzung immer ähnlicher wird. Die Frage, was dem Leben in seinem endlichen Charakter und seiner sozialen Bestimmung abzuringen wäre, wird mit einer biotechnologischen Zurichtung beantwortet, der der werdende wie sterbende Mensch kein Zweck an und für sich mehr sein kann, sondern die seine Subjektivität einem gesellschaftlich normierten Lebenswert ausliefert und damit fremdnützig objektiviert.

Ein auf den Leisten technischer Leistungsfähigkeit gespannter Lebensbegriff, der die Widersprüchlichkeit der Überlebenskonkurrenz nicht nur fortschreibt, sondern als positives Ergebnis individuellen Vorteilsstrebens feiert, fällt mit der Erstarrung des Todes in eins. Wo gesellschaftliche Wertentscheidungen zum wünschbaren Ausmaß biomedizinischer Zurichtung einer Fortschrittsdoktrin bloßer Machbarkeit unterworfen werden, bricht die Freiheit der Zukunft an der eisernen Determination fortgeschriebener Vergangenheit. De Greys Analogieschluß, der angeblich zu erwartende medizinische Fortschritte mit den exponentiellen Sprüngen in der Entwicklung der Luftfahrt begründet, tritt den Menschen, der sich dieser Mobilität nicht bedienen kann, weil er zu arm ist oder keinen Zugang zu den hochgesicherten Metropolengesellschaften des Westens erhalten soll, in den Staub einer Produktivität, der er bestenfalls Betriebsstoff ist.

Flußdiagramm prognostiziert Lebenserwartungen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Flußdiagramm für moribunde Verläufe
Foto: © 2011 by Schattenblick

Als leitender Wissenschaftler einer Stiftung, die auf die Einwerbung von Spenden angewiesen ist, scheint Aubrey de Grey einigen Erfolg zu haben, wie illustre Förderer aus der IT-Branche belegen. Gleichzeitig wird der Transhumanist, der der von ihm mitbegründeten Methuselah Foundation durch seinen biblischen Habitus gerecht zu werden versucht, von einigen Biologen und Medizinern pseudowissenschaftlicher Unseriosität bezichtigt. So könnte man den im facettenreichen Aufgebot des Kongresses "Die Untoten" gut aufgehobenen Referenten als Propheten eines lediglich von den Hoffnungen und Wünschen an ihrer Sterblichkeit leidender Menschen getragenen Kultes abtun. Als Randerscheinung der Life Sciences sind de Grey und die SENS Foundation zwar exotische, aber den durch die biomedizinischen Forschungen geschürten Erwartungen allemal gerecht werdende Akteure. So ist die Frage, wie seriös die Verheißungen de Greys sind, weniger bedeutsam als die von ihm verheißene Möglichkeit, medizinische Erkenntnisse könnten in Zukunft zu einer ungleich höheren Lebenserwartung führen.

Mit der Aussicht auf die individuelle Befreiung von Schmerz und Tod wird das positive Äquivalent einer Bezichtigung geschaffen, die körperliche Unzulänglichkeiten als Ergebnis selbstverschuldeten Fehlverhaltens denunziert. Wer sich in der Klammer neoliberaler Eigenverantwortung und Selbstoptimierungspflicht einzurichten versteht, dem winkt als Lohn des Verzichts auf die Autonomie menschlicher Subjektivität ein Überlebensvorteil, der jede Anpassungs- und Unterwerfungsleistung wert zu sein scheint. Der in Aussicht gestellte Lohn macht akzeptabel, was zuvor als gesellschaftliche und technische Fremdbestimmung Anlaß zu emanzipatorischer Befreiung gab. Insofern ebnet die transhumanistische Machbarkeitsdoktrin einer Biologisierung des Sozialen den Weg, die die Verfügbarkeit und Verwertbarkeit des Menschen mit neuen Instrumenten und neuer Legitimation ausstattet.

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)

Foyer des Kulturzentrums Kampnagel - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foyer des Kulturzentrums Kampnagel
Foto: © 2011 by Schattenblick

22. Mai 2011