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BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)


Warum beim Sterben um Erlaubnis fragen?

Oliver Tolmein - Foto: © 2011 by Schattenblick

Oliver Tolmein
Foto: © 2011 by Schattenblick
Im Jahr 2004 haben niederländische Ärzte erstmals offen die Legalisierung der Tötung Neugeborener gefordert, die "keine Hoffnung auf eine Zukunft" hätten, so der Chef der pädriatischen Abteilung des Krankenhauses Groningen, Dr. Eduard Verhagen. Er verwies darauf, daß dies überall in der Welt praktiziert werde und es an der Zeit sei, den Ärzten ihre Entscheidung zum Abbruch des Lebens zu erleichtern, indem man ihn straffrei mache. Um seine Forderung zu unterstreichen, hatte Verhagen im Jahr zuvor die Staatsanwaltschaft über drei Kindstötungen an seiner Klinik in Kenntnis gesetzt. Sie befand es nicht für erforderlich, etwas dagegen zu unternehmen. Dem niederländischen Oberstaatsanwalt wurden 2003 18 Fälle der Tötung Neugeborener gemeldet, ohne daß ein einziges Mal Ermittlungen eingeleitet wurden.

Reimer Gronemeyer, Professor für Soziologie an der Universität Gießen, prognostizierte im Deutschlandfunk (07.03.2004) für den Fall der Einführung eines europäischen Euthanasiegesetzes, die Anwendung des niederländischen Modells hätte zur Folge, "daß wir in Europa künftig in jedem Jahr 250.000 Fälle ärztlich unterstützter Tötung haben werden, wovon 60.000 Fälle ohne Einwilligung stattfinden würden." Schon 1995 hatte eine empirische Studie in den Niederlanden ergeben, daß 900 Patienten von Ärzten, die eine weitere Behandlung für sinnlos hielten, ohne ausdrückliche Bitte getötet worden waren. Dies erfolgte unter anderem mit den Begründungen, jede weitere medizinische Behandlung wäre aussichtslos gewesen, es habe keine Aussicht auf Besserung bestanden, die Lebensqualität sei nur gering gewesen oder die Verwandten hätten den Zustand ihres Angehörigen nicht mehr ertragen können. Laut der liberalen Gesetzeslage in den Niederlanden können Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren nach ärztlicher Sterbehilfe verlangen, ab dem Alter von 16 bedürfen sie dazu nicht mehr der Einwilligung ihrer Eltern.

Mit dem Argument, daß Ärzte ohnehin Euthanasie praktizierten, wenn sie lebenserhaltende Maschinen abschalteten oder die Ernährung per Sonde einstellten, so daß einige dieser Patienten einen langsamen und schmerzhaften Tod erlitten, verlangte der emeritierte Professor für Bioethik an der Londoner Queen-Mary-Universität, Len Doyal, 2006 die Freigabe der Tötung von Patienten auch ohne deren Zustimmung. "Schnell, human und ohne Schuld" soll das Ende eintreten, wobei ersteres den Patienten beträfe, während die anderen beiden Kriterien der moralischen Rechtfertigung des ausführenden Arztes zugute kämen. Bei Doyals Vorschlag handelte es sich nicht um die aberwitzige Meinung eines überspannten Einzelgängers. Der Professor hatte seine Forderung in der vom britischen Ärzteverband Royal Society of Medicine veröffentlichten Zeitschrift Clinical Ethics publiziert und fungierte neun Jahre lang als Mitglied des bioethischen Komitees dieser renommierten Organisation.

Im Februar 2011 kündigte die Niederländische Vereinigung für das Recht zu sterben (NVEE) an, im nächsten Jahr eine Klinik zu eröffnen, in der jährlich bis zu 1000 Menschen Unterstützung beim Tod auf Verlangen erhalten sollten. Vorgesehen wäre diese Einrichtung, in der den Sterbewilligen innerhalb von drei Tagen ein "sanfter Tod" beschert werden soll, nicht nur für Patienten im Endstadium ihres Lebens, sondern auch für Krebskranke, psychisch Kranke und Altersdemente. Insbesondere Menschen, die keinen Arzt fänden, der ihrem Todeswunsch entspräche, sollten dort Unterstützung bei ihrem Freitod erhalten.

Es ließen sich zahlreiche Ereignisse ähnlicher Art anführen, um zu dokumentieren, daß Sterbehilfe in ihrer aktivsten Form europaweit auf dem Vormarsch ist. In der Bundesrepublik verläuft diese Entwicklung aufgrund der Euthanasiepolitik des NS-Staates eher langsam, weist jedoch die gleiche Prämisse einer angeblich zu stärkenden Selbstbestimmung sterbender oder des Lebens überdrüssiger Menschen auf. Über den Horizont der individuellen Möglichkeit des Freitodes hinaus wird eine Verrechtlichung der Sterbehilfe betrieben, die das gesetzliche Tötungsverbot mit dem Argument perforiert, daß das Recht auf Sterben von persönlicher Autonomie untrennbar sei. Was einst für Patienten gedacht war, die aufgrund körperlicher Einschränkungen und des schwerwiegenden Charakters ihrer Erkrankung nicht in der Lage wären, sich aus eigenen Stücken das Leben zu nehmen, ist längst der Verallgemeinerung eines Rechtsanspruches gewichen, dessen terminaler Charakter sehr wohl die Frage aufwirft, ob die Gültigkeit des Gesetzes überhaupt auf Bereiche angewendet werden sollte, in denen die individuelle Entscheidung für die Gesellschaft als Ganzes folgenlos bleibt.


Im Zweifel für das Leben des Sterbenden ...

Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrecht, Mitbegründer der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg und Autor des Buchs "Keiner stirbt für sich allein", hat in seinem Vortrag "Die Herbeiführung des Todes im deutschem Recht" ein hochbrisantes Thema aufgegriffen, weil darin der Komplex der vielfach verklausulierten Sterbehilfe und der Umgang mit Tod und den Aspekten der Tötung auf Verlangen bzw. durch Unterlassung auf eine zwiespältige Weise berührt wird. Der Referent stieg klug und gewitzt, quasi durch die Hintertür in das Rechtslabyrinth der verschiedenen Standpunkte und offenkundigen Widersprüche ein, indem er "einen Laborbericht der Justiz" ankündigte und damit den wandlungsfähigen Charakter der Rechtsprechung in der Ambivalenz zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten und der ärztlichen Behandlungspflicht betonte. Tolmein wies dabei auf eine Entwicklungslinie hin, die er anhand von signifikanten Rechtsurteilen aufzeichnete. Der Anwalt machte unterdessen kein Hehl daraus, daß sowohl die veränderte Rechtsgrundlage als auch die bindende Kraft der Prozeßurteile Anlaß zur erheblicher Sorge bietet, da mit der von Tolmein als solche explizit ausgewiesenen Herbeiführung des Todes im deutschen Recht eine mit weitreichenden Konsequenzen ausgestattete legalistische Verkehrsstruktur im Umgang mit kostenintensiven Pflegefällen geschaffen werde, die die Trennscheide zwischen individuellem Freitod und objektiven ökonomischen Sachzwängen verwische.

Referent Oliver Tolmein - Foto: © 2011 by Schattenblick

Freier Vortrag vollverkabelt
Foto: © 2011 by Schattenblick
Tolmeins Fallstudien beginnen im Jahr 1984 mit dem als Peterle-Fall in die juristische Fachliteratur eingegangenen Prozeß. Eine Witwe litt nach dem Tode ihres Mannes unter massiven Depressionen und wollte nicht mehr weiterleben. Ihrem Hausarzt gegenüber hatte sie wiederholt erklärt, bei ihrem Mann sein zu wollen. Als der Arzt zur häuslichen Patientenvisite mit einem Zweitschlüssel die Wohnung der alten Dame betrat, fand er sie in einem Zustand schwerster Vergiftung und ohne Bewußtsein vor. Die Witwe hatte ihr Ableben mit aller Entschiedenheit vorbereitet, große Mengen von Morphium-Ampullen und Tabletten angesammelt und sie schließlich eingenommen. Um nicht gegen ihren Willen ins Leben zurückgeholt zu werden, hatte sie einen Zettel auf ihre Brust gelegt und darin ausdrücklich darum gebeten, keine Hilfsmaßnahmen zur Lebensrettung zu ergreifen. Der Arzt hielt sich daran, begleitete ihr Sterben und schrieb anschließend den Totenschein. Dennoch wurde er in einem Ermittlungsverfahren zur Rechenschaft gezogen und wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Der Fall ging in der Berufung bis vor den Bundesgerichtshof, der zu einem Freispruch kam, dabei allerdings den Leitsatz formulierte, "wenn der ohne ärztlichen Eingriff dem sicheren Tod preisgegebene Suizident schon bewußtlos ist, darf sich der behandelnde Arzt nicht allein nach dessen vor Eintritt der Bewußtlosigkeit erklärten Willen richten, sondern hat in eigener Verantwortung eine Entscheidung über die Vornahme oder Nichtvornahme auch des nur möglicherweise erfolgreichen Eingriffs zu treffen, bei der das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die ärztliche Behandlungspflicht gegeneinander abzuwägen sind".

Hier ging es also um die Abwägung zwischen der Willenserklärung der Frau und der ärztlichen Verantwortung als eines zentralen Streits von Selbstbestimmungsrecht kontra Behandlungspflicht, den der 3. Strafsenat zumindest in der Urteilsbegründung von 1984 so entschied, daß die individuellen Freiheitsrechte im Falle einer selbstgewählten Tötungsabsicht insofern einzuschränken sind, als der Arzt unbedingt und auch unabhängig vom Patientenwunsch eingreifen muß, sofern Wiederbelebungsmaßnahmen sinnvoll erscheinen. In diesem konkreten Fall folgte der Bundesgerichtshof in seinem Freispruch den Ausführungen des Arztes, denen zufolge die Patientin schon so lange bewußtlos war, daß sie nur noch schwerst geschädigt hätte gerettet werden können, ausnahmsweise also keine Behandlungspflicht vorlag.

Als nächste Etappe in der Entwicklungslinie führte Tolmein einen Suizidfall aus dem Jahre 1987 an, der vor dem 2. Strafsenat des BGH verhandelt wurde. Auch in diesem Fall hatte ein Hausarzt von Hilfsmaßnahmen bei einer 86jährigen Patientin abgesehen. Wieder erging ein Freispruch, aber die klare und konkrete Rechtsverordnung des Peterle-Falls wurde nunmehr aufgeweicht: "Der Senat weist darauf hin, daß er dazu neigt, einem ernsthaften, frei verantwortlich gefaßten Selbsttötungsentschluß eine stärkere rechtliche Bedeutung beizumessen."

Tolmein zufolge hatten es die Richter 1987 bei der vagen Formulierung, der Strafsenat "neige" dazu, belassen, weil im Falle einer konkreten Auslegung zwei konfigurierende Entscheidungen vorgelegen hätten und so die Einberufung eines großen Senats aus 16 Zivil- und Strafrichtern erforderlich geworden wäre, um zu einer einheitlichen Rechtsprechung zu gelangen. Bereits in dieser Entscheidung klang allerdings die Tendenz und Akzentuierung an, daß sich der BGH vom Grundsatz einer ärztlichen Behandlungspflicht um nahezu jeden Preis verabschieden wollte.

Der Referent führte schließlich einen weiteren Fall aus dem Jahre 1991 an, der vor den 3. Strafsenat gelangte. Dabei ging es jedoch nicht um einen Suizid. Eine Wuppertaler Krankenschwester wurde angeklagt, auf einer Intensivstation schwerst erkrankte Patienten umgebracht zu haben, weil sie davon ausging, daß deren Leben nicht mehr lebenswert sei und sie ihnen weiteres Leid ersparen wollte, auch wenn sie sich vordergründig mit Arbeitsüberlastung und dem allgemeinen Pflegenotstand rechtfertigte. In einer salomonischen Geste sah das Gericht von einer Verurteilung wegen Mordes ab und verfügte statt dessen lediglich ein Strafmaß wegen Totschlags. Die Richter hielten der Krankenschwester zugute, sie habe bei der aktiven Tötung der Patienten aus Mitleid gehandelt. Hier beginnen sich das Selbstbestimmungsrecht und die aktive Tötung von Patienten oder Schutzbefohlenen auf der Basis als zu leidensvoll ausgewiesener Existenzen miteinander aufs schwerwiegendste zu vermischen. Tolmein machte geltend, daß diese Art der Urteilsauslegung ihre Tradition und Wurzeln in den fünfziger Jahren habe, als NS-Euthanasieärzten, "die selten genug, aber doch gelegentlich verurteilt wurden", Mitleid als mildernder Umstand zu ihrem Tötungsmotiv attestiert wurde und sie in den allermeisten Fällen nicht wegen Mordes verurteilt wurden.

Schließlich kam Tolmein auf den sogenannten Kemptener Fall aus dem Jahre 1994 zu sprechen, der die Diskussion um Sterbehilfe bis auf den heutigen Tag maßgeblich beeinflußt. Eine 72jährige Frau hatte in einem Altersheim nach mehreren Herzinfarkten und einem Schlaganfall schwere Hirnschäden davongetragen. Sie soll im Wachkoma gelegen haben, wiewohl dies nie richtig diagnostiziert wurde. Jedenfalls verlangte ihr Sohn nach zwei Jahren, die künstliche Ernährung über die PEG-Sonde abzubrechen. Das Pflegepersonal hat dies verweigert und den Sohn angezeigt. In dem eingeleiteten Verfahren ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen des Versuchs einer Tötung durch Unterlassung. Im Verlauf des Strafverfahrens war die Frau dann auf natürlichem Wege verstorben. Ihr Sohn wurde vom Landgericht Kempten zu 30 Tagessätzen von je 40 DM verurteilt, was einem mittelschweren Verkehrsdelikt entsprach. Sein Anwalt legte daraufhin Berufung ein und so kam der Fall vor den Bundesgerichtshof, der schon seit einigen Jahren nach geeigneten Fällen Ausschau gehalten hatte, um die Rechtsprechung zur Sterbebegleitung in einem grundsätzlichen Sinne neu zu justieren.

Die als Sterbehilfe bisher streng in den Grenzen einer Hilfe im Sterben gefaßte Formulierung erfuhr eine Erweiterung in den weit auslegbaren Raum einer Hilfe zum Sterben: "Bei einem unheilbar erkrankten, nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten kann der Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme ausnahmsweise auch dann zulässig sein, wenn die Voraussetzungen der von der Bundesärztekammer verabschiedeten Richtlinien für die Sterbehilfe nicht vorliegen, weil der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Kranken."

Mit der Liberalisierung der damit im Strafrecht neu verankerten Sterbebegleitung wurde das Rechtsgut des freien Willens und der Selbstbestimmung weitgehend ausgehöhlt und durch die Leerformel einer beliebig interpretierbaren Mutmaßlichkeit ersetzt. Weiter hieß es im BGH-Urteil, für den Fall, daß trotz aller gebotenen sorgfältigen Prüfung keine konkreten Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens des Kranken gefunden werden können, auf Kriterien zurückzugreifen sei, die den allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen.

Das bedeutet, daß die Unantastbarkeit nicht nur der Würde, sondern auch des Lebens, die aus der leidvollen und menschenverachtenden Erfahrung mit dem NS-Regime resultierte, aus dem Bereich individueller Gestaltung und Freiheit herausgelöst und in die Beliebigkeitsstruktur allgemeiner Interessen hineingezwängt wurde. Schon das Novum, lebenserhaltende Apparaturen unter bestimmten Bedingungen abschalten zu können, stellte einen massiven Eingriff in die rechtsphilosophische Tradition dar. Der Möglichkeit zum Mißbrauch wurden aber erst dadurch alle Türen geöffnet, daß der mutmaßliche Wille theoretisch sogar durch eine Meinungsumfrage in der Bevölkerung festgeschrieben werden könnte.

Erst als sich Pflegekräfte eines Altenheims weigerten, der verlangten Tötung von alten Menschen auch ungeachtet einer Patientenverfügung nachzukommen, entschied der BGH 2010 zuletzt in einer langen Reihe von Entscheidungen, daß bei einem Patienten, der einwilligungsunfähig ist und dessen Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat, lebenserhaltende oder lebensverlängernde Maßnahmen zu unterbleiben haben, wenn dies dem zuvor etwa in Form einer Patientenverfügung geäußerten Willen entspricht. Damit wurde den Gerichten über das Betreuungsrecht die Autorität zugewiesen, den Schutzauftrag des Lebens ohne gesetzgeberische Vollmacht nach Bedarf auszusetzen und die bis dahin rechtlich durchgehaltene Trennung zwischen aktiver Tötung und Todesfolge durch Unterlassung allerdings unter Bezugnahme auf einen Behandlungsabbruch zur Herbeiführung des Todes aufzuheben. Die Dominanz der rechtlichen Fragen in der Debatte um Sterbehilfe geht zu Lasten ganz konkreter Fragen der medizinischen Versorgung und anderer sozialer Konflikte, über die es zuvörderst zu sprechen gelte, verlangt Tolmein zu Recht.

Beate Lakotta, Oliver Tolmein - Foto: © 2011 by Schattenblick

Beate Lakotta, Oliver Tolmein
Foto: © 2011 by Schattenblick

Bürgerliche Freiheitslyrik auf ihren bescheidenen Begriff gebracht

Nach Abschluß des in Anbetracht der trockenen Materie recht spritzigen, mit subtiler Ironie nicht geizenden Vortrag gesellt sich die Journalistin Beate Lakotta für einen kurzen Disput zum Referenten. Die als Gerichtsreporterin für den Spiegel tätige Autorin begleitete anderthalb Jahre lang Menschen im Hospiz, was das zusammen mit ihrem Mann, dem Fotografen Walter Schels, geschaffene Buch- und Ausstellungs-Projekt "Noch mal leben vor dem Tod" zum Ergebnis hatte. In ihrem Plädoyer für "die Schutzinteressen der Bürger auf Autonomie am Lebensende" kritisiert sie, daß die deutsche Rechtsprechung eine Entwicklung in der Medizin gefördert habe, bei der zahlreiche Zustände am Lebensende hervorgebracht worden wären, die es auf "natürlichem" Wege gar nicht gegeben hätte.

So würde bei Wachkomapatienten in anderen Ländern nach einigen Jahren schlicht die Ernährung eingestellt, da man davon ausginge, daß sie "nicht wieder wach" werden. Hierzulande allerdings überlebten diese Patienten möglicherweise sehr lange, obwohl man im Einzelfall nicht wüßte, ob sie dies überhaupt gewollt hätten. Auch Alzheimerkranke wären früher einfach irgendwann gestorben, da sie das Interesse an der Nahrungsaufnahme verloren hätten. In Deutschland hingegen "vegetieren" bis zu hunderttausend Menschen, die nur mit Hilfe einer Magensonde am Leben gehalten werden, vor sich hin. Sie frage sich, ob damit tatsächlich den Interessen der Betroffenen gedient wäre oder es viel mehr um das einträgliche Geschäft einer Pflegeindustrie ginge, die an der Befüllung dieser Magensonden erheblich verdiene. Von daher könne auch keine Rede davon sein, daß Sparzwänge im Gesundheitswesen lebensverkürzend wirkten, ganz im Gegenteil, so die Spiegel-Journalistin in offenkundiger Ignoranz gegenüber den Zuständen bei der medizinischen und pflegerischen Versorgung sozial Randständiger.

Lakotta frönt einem gesellschaftlichen Naturverhältnis in bester Tradition eines Verwertungsinteresses, das unter Natur subsumiert, was zum eigenen Nutzen nach Belieben überantwortet oder entzogen werden soll. Der humanen Genese des Naturbegriffs gemäß verläuft die dabei gezogene Trennlinie längs einer Überlebensnorm, die zu Lasten des anderen, Fremden, der Pflanzen- und Tierwelt und eben auch aus der Schutzsphäre menschlichen Lebens verstoßener Randexistenzen geht. Was der Mensch nicht an zivilisatorischen Errungenschaften der Natur abringt und unter besonderen Schutz stellt, überläßt er dem um so freizügigeren Zugriff eines Nutzens, der nicht der desjenigen sein kann, der von der Ausgrenzung durch eine willkürliche, vom fremdnützigen Interesse an "lebensfrischen" Organen bestimmte Todesdefinition, seine medizinische Reduzierung auf den Zustand nurmehr vegetativen Lebens oder eine sonstwie geartete Außenbeschreibung eines Zustands, in dem er nicht mehr als gesellschaftliche verfügbare Person gilt, betroffen ist. Hier bietet unter anderem die im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik und der Stammzellenforschung an Embryonen geführte Debatte um die bioethische Differenzierung zwischen "Mensch" und "Person" reichhaltiges Anschauungsmaterial für die Bereitwilligkeit, das am humanen Subjekt Unausgelotete - und damit den ganzen Reichtum noch nicht erschlossener Lebensentwürfe - dem Kalkül bloßer Überlebensdispositive anheimzugeben.

Wendete man den von Lakotta in Anspruch genommenen Naturzwang auf als positiv empfundene Errungenschaften menschheitsgeschichtlicher Entwicklung an, dann könnte man bei Schädigungen und Erkrankungen aller Art fragen, warum die betroffenen Menschen selbstverständlich in den Genuß lebensverlängernder Maßnahme gelangten, wenn sie doch natürlicherweise ohnehin stürben. So werden nicht aus eigenem Antrieb heraus lebensfähige Frühchen selbstverständlich mit allen gebotenen Mitteln medizinischer Kunst am Leben erhalten. Das numinose Walten der Natur als Letztbegründung für Leben- und Sterbenlassen von Menschen einzusetzen verdeckt mithin das fremdnützige Interesse, das der Bewertung der im bioethischen Neusprech "Benefit" genannten Lebensqualität vorausgeht. Den Benefit nichteinwilligungsfähiger Patienten zu bestimmen reflektiert gesellschaftliche Wertentscheidungen, die über die subjektive Befindlichkeit etwa von Wachkomapatienten schlicht hinweggehen.

Zudem wirft die Forderung nach "Autonomie am Lebensende" die Frage auf, wieso Selbstbestimmung in der terminalen Lebensphase so viel mehr Gewicht haben soll als in den Jahrzehnten zuvor. Der kapitalistisch vergesellschaftete Mensch ist Zwängen aller Art ausgesetzt, denen er desto weniger ausweichen kann, als seine desolate materielle Lage Unterwerfung unter Reproduktionsbedingungen verlangt, die er auch bei bestem Willen nicht mehr mit vorzivilisatorischer Subsistenz bestreiten kann. Der postulierte Naturzwang ist längst in den Attributen und Imperativen einer gesellschaftlichen Organisation menschlichen Daseins aufgegangen, die von einer weit in die individuelle Leiblichkeit reichenden Normierung der Lebensführung bestimmt ist. So lauert hinter der Klage über die Unwägbarkeiten "künstlicher" Lebensverlängerung eine mit sozialdarwinistischem Utilitarismus legitimierte Negation des Lebensrechts, für die sich sattsam bekannte Argumente aus dem Arsenal sozialökonomischer "Sachzwänge" anführen ließen.

Gefördert wird diese Entwicklung durch ein Primat bürgerlicher Selbstbestimmung, das von den materiellen Widersprüchen gesellschaftlicher Existenz abhebt, indem es das durch soziale Privilegien gewährte Lehen persönlicher Freizügigkeit zum Maßstab allgemeiner Wertentscheidungen macht. Wo dieser liberale Geist schon deshalb nicht wehen kann, weil der beanspruchten Kontrolle über das eigene Leben die Fremdbestimmung materieller Not und politischer Verfügungsgewalt entgegensteht, stellen sich angesichts materieller Armut und medizinischer Unterversorgung Fragen akuter Bewältigung, denen die Klage über eine überbordende Apparatemedizin nicht fremder sein könnte. Über die Selbstbestimmung von Patienten zu debattieren, ohne die Ausbildung einer Elitenmedizin mit dem Argument zu kritisieren, daß im ersten Schritt allen Menschen medizinische Basisleistungen verfügbar gemacht werden sollten, ist im Sinne der beanspruchten Ethik zumindest verkürzt.

Tolmein wirft denn auch zu der von Lakotta befürworteten Rechtsprechung des BGH die Frage auf, wie sicher man darin sein könne, über den mutmaßlichen Willen nicht mehr mitteilungsfähiger Patienten zu befinden. So würden die materiellen Rahmenbedingungen der beim BGH verhandelten Sterbehilfefälle, wenn überhaupt, nur unzureichend geklärt, um anstelle dessen die Formel des Selbstbestimmungsrechts zu einer "großen Allzweckwaffe" aufzubauen. Der Anwalt, der seine Dissertation über den Kemptener Fall verfaßt hat, sieht dadurch die Schutzpflicht, die das Gericht gegenüber dem Opfer des Abbruchs einer lebenserhaltenden Maßnahme hat, verletzt. Während Tolmein das Recht auf Patientenautonomie überall dort, wo ein Betroffener seinen Willen klar kommunizieren kann, gutheißt, meldet er Bedenken in jenen Fällen an, wo Mutmaßungen Dritter an die Stelle einer persönlichen Stellungnahme treten. Wo der Schutz von Menschen im Wachkoma aufgrund höchstrichterlicher Entscheidungen nicht mehr vollständig gewährleistet sei, da nähere man sich dem Punkt, wo Tötung auf Verlangen ebenfalls zu einer akzeptablen Dienstleistung des Arztes werden könne, so Tolmein.

Dem hält Beate Lakotta am Beispiel des Freitodes von Gunter Sachs entgegen, daß es vielleicht besser gewesen wäre, dieser hätte einen anderen Weg gewählt als sich selbst zu erschießen. Dies wäre für seinen Sohn, der ihn gefunden hat, "sicher ein unschöner Anblick" und für andere Beteiligte "sicher extrem belastend" gewesen. Die Spiegel-Journalistin weist eine solche Form des Freitodes als Rücksichtslosigkeit gegenüber den Angehörigen aus und legt statt dessen nahe, daß zum Freitod entschlossene Menschen die Bühne des Lebens mittels ärztlicher Suizidbegleitung auf weniger dramatische Weise verlassen. Wo sich schon zu Lebzeiten viel zu wenig Menschen trauen, öffentlich und lautstark Position zu von ihnen erlittenen gesellschaftlichen Widersprüchen zu beziehen, scheint Lakotta die Friedhofsruhe auch vor dem Tod heilig zu sein.

Was immer Gunter Sachs zu seinem Schritt veranlaßt haben könnte, so ist nicht einmal auszuschließen, daß es dafür konkrete, in innerfamiliären Konflikten liegende Gründe gegeben haben mag. Wenn ein arabischer Student aus seinem Freitod ein Manifest des politischen Protestes macht, so ist dies alles andere als angenehm anzuschauen. Auch ist es kein schöner Anblick, wenn Menschen durch Folterungen ums Leben gebracht werden, und doch ist es von elementarer Wichtigkeit, daß derartige Antithesen zum unterstellten Primat der Menschenrechte sichtbar gemacht werden. In einer Welt, wo Menschen millionenfach stillschweigend verhungern, sollte kein Leichentuch über die Abgründe menschlicher Existenz gedeckt werden.

Lakotta mit Bild-Zeitung - Foto: © 2011 by Schattenblick

Volksratgeber in allen Lebens- und Sterbenslagen
Foto: © 2011 by Schattenblick

Gibt es ein Leben vor dem Tod?

Beim Sterben Selbstbestimmung zu verlangen, wenn man ein Leben unter den Bedingungen sozialer und ökonomischer Fremdbestimmung verbracht hat, versteckt das Problem, daß der Mensch sich seine Freiheit in jedem Fall erkämpfen muß. Der mehr oder minder offene Zwang, dem Alte und Behinderte ausgesetzt sein werden, wenn das Sterberecht dem Lebensrecht den Rang abläuft, wird nicht auf sich warten lassen, sondern kann bereits jetzt von jedem verspürt werden, der die an ihn gestellte Erwartung einer klaglosen Existenz als Produzent und Konsument nicht erfüllt.

In Anbetracht der zahlreichen Gründe, das Leben als nicht lebenswert zu empfinden, Zuflucht zu einer Form institutionalisierter Euthanasie zu nehmen, bei der kaum mehr zwischen gesellschaftlichen Zwängen und eigenem Antrieb unterschieden werden kann, eröffnet die Rutsche in genozidale Formen der Sterbepolitik. Schon jetzt ist in vielen Teilen der Welt ein erbitterter Kampf um Überlebensressourcen im Gange, der zur Vernichtung zahlreicher Menschenleben führt. Die Objektivierung des Körpers zu einem Fundus biologischer Überlebenssubstrate ist nicht prinzipiell unterscheidbar von Strategien räuberischer Art, wie sie etwa in der Vertreibung indigener Völker aus rohstoffreichen Urwäldern, im Entzug von Nahrungsmitteln durch groß angelegten Landraub oder in Handelsstrukturen, die das Wohlbefinden einheimischer Bevölkerungen den Rentabilitätskriterien fremder Investoren unterwerfen, manifest werden.

Nicht zu vergessen ist auch der massenhafte Tod in deutschen Altenheimen. So ging der Sozialverband Deutschland schon im August 2003 mit der schockierenden Mitteilung an die Öffentlichkeit, daß dort jährlich mindestens zehntausend Menschen vorzeitig durch mangelnde Versorgung und Pflege sterben. Zudem ergaben Untersuchungen der Medizinischen Dienste der Krankenkassen, daß mehr als die Hälfte der Heimbewohner mangel-, fehl- oder unterernährt sei. Man könnte einen Zusammenhang vermuten, wenn die Debatte um diesen Mißstand weit weniger prominent in den Medien vertreten ist als die Forderung nach der Liberalisierung aktiver Sterbehilfe.

Als von Grund auf sozial determiniertes Wesen bedarf der Mensch zur Behauptung seiner persönlichen Autonomie einer Streitbarkeit, die ihn in den Stand setzt, sich nicht unterhalb der Belastung durch schlimmste Schmerzen aus Gründen der Zukunftsangst, der Einsamkeit oder Depression umzubringen. Sich dieser Herausforderung zu stellen, anstatt nach einer letalen Betreuung zu verlangen, die ein Verharren in Unmündigkeit voraussetzt, weil die Emanzipation auch zu der Freiheit, durch eigene Hand aus dem Leben zu scheiden, nicht gewagt wurde, hieße den Euthanasieliberalismus so ernst zu nehmen, daß er als legalistischer Vorwand erkennbar wird. Der Anspruch, sich beim vorzeitigen Tod aktiv helfen und dies rechtlich absegnen zu lassen, wirkt, sofern man noch Hand an sich legen kann, so, als habe man stets davor kapituliert, die beanspruchte persönliche Freiheit auch einzulösen.

Das kann in einer Gesellschaft, zu deren Steuerung und Kontrolle auf das Schüren von Furcht und Angst gesetzt wird, nicht erstaunen. Wenn bürgerliche Liberalität sich mit dem organisierten Sterben ins Einvernehmen setzt, um die nie erstrittene Souveränität eigenen Tuns zumindest im letzten großen Fluchtmanöver zu verwirklichen, dann bleibt am Ende einer Kette aus Zwang und Not die Hoffnung auf eine Erleichterung, die als Ergebnis inakzeptabler Lebensbedingungen nichts anderes als deren Fortsetzung hervorzubringen vermag. Gegen diese Zwangsläufigkeit passiver Determiniertheit vorzugehen, und zwar nicht als atomisiertes Individuum, dem der Eigentumsvorbehalt des eigenen Leids schlußendlich mit vernichtender Gewalt auf die Füße fällt, sondern als Mensch, der durch den andern Menschen zur Geltung gelangt, wäre eine Möglichkeit, den Anspruch auf Selbstbestimmung überprüfbar zu verwirklichen.

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)

Vortragsfolie - Foto: © 2011 by Schattenblick


Foto: © 2011 by Schattenblick

26. Mai 2011