Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → REPORT

BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)


"Mein Tod im Bild: Kritik des Suizidalismus"

Projektion 'Mein Tod im Bild' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

Thomas Macho ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Er beschäftigt sich mit Bildern und Metaphern des Todes sowie der historischen und kulturellen Wandelbarkeit des Umgangs mit dem Tod. In seinem Vortrag auf dem Kongreß "Die Untoten" befaßte er sich unter dem Thema "Mein Tod im Bild: Kritik des Suizidalismus" mit der Wertigkeit und symbolischen Rahmung von Akten der Selbsttötung in unterschiedlichen Kulturen und historischen Epochen.

Einleitend ging Macho zunächst auf Formen der übenden Vergewisserung des eigenen Todes ein, wie sie als Übungspraxis seit der Antike bekannt seien. Damals hätten Philosophen begonnen, den eigenen Tod imaginär zu antizipieren. Diese Idee des Memento mori ist in der Moderne nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Welt des Visuellen sehr wichtig und bedeutsam geworden. Der Vorlauf in den Tod, um mit Heidegger zu sprechen, als Technik der Selbstvergewisserung der eigenen Endlichkeit, hat seit geraumer Zeit ein Komplement in der Hervorbringung von Bildern gefunden. Der Kunsthistoriker Hans Belting hat die These aufgestellt, daß der Tod der erste Künstler sei, weil er die ersten Bilder hervorbringe, nämlich die Toten. Man kann diese Beobachtungen, die Belting in Bezug auf Totenkulte und Bildkulte aus dem frühesten Neolithikum geknüpft hat, im Horizont der Frage aufgreifen, wie das Bild aussehen wird, in das sich ein Mensch als Toter verwandelt.

Der Referent schlug seinen ZuhörerInnen vor, zunächst diese Umschrift des Heideggerschen Gedankens vom Vorlauf in den Tod vorzunehmen, um darüber ganz unmerklich zum Thema des Suizids überzuleiten. Auf diesem Weg präsentierte und kommentierte er eine Reihe faszinierender, ergreifender, aber auch verstörender oder provozierender Darstellungen des eigenen Todes angefangen bei bedeutenden Künstlern der Renaissance über fotografisch erstellte Bilder im 19. Jahrhundert bis hin zu zeitgenössischen Videoinstallationen.

Thomas Macho beim Vortrag - Foto: © 2011 by Schattenblick

Thomas Macho
Foto: © 2011 by Schattenblick
Folgt man Beltings Gedanken, die Leiche als ein Bild zu betrachten, müßte es möglich sein, ein Vorwegbild des letzten Bildes, in das man übergehen wird, zu malen oder fotografisch zu inszenieren. Der Tod ist vor uns, merkte Kafka an. Es komme darauf an, dessen Bild durch unsere Taten noch in diesem Leben zu verdunkeln oder gar auszulöschen. Einer der ersten, der in diesem Sinn darüber nachgedacht hat, wie sein Bild im Tod aussehen könnte, war einer der bedeutendsten Künstler der Europäischen Kulturgeschichte, Michelangelo Buonarroti. In seinem großen Altarbild in der Sixtinischen Kapelle, das zwischen 1536 und 1541 entstand, steht der Weltenrichter Christus im Zentrum. Zu seinen Füßen findet man den Heiligen Bartholomäus, dessen Martyrium es war, gehäutet zu werden. Der christlichen Ikonographie entsprechend hält er seine Haut in der Hand. Auf ihr ist ein Porträt zu erkennen, das nach übereinstimmender Meinung der Kunstgeschichte ein Selbstporträt Michelangelos darstellt.

Daß sich Michelangelo auf der Haut eines Gehäuteten abbildet, könnte man als depressives Element interpretieren. Andererseits befindet sich Bartholomäus in dieser Darstellung fast auf gleicher Höhe wie Christus und Maria, womit sich der Künstler in große Nähe zum Weltenrichter begeben hat. In Biographien und Auseinandersetzungen mit dem Werk Michelangelos wurde dieses Bild auch mit einem seiner späten Gedichte assoziiert, das er im Alter von 72 Jahren nach dem Tod der Vittoria Colonna am 25. Februar 1547 verfaßt hat. Macho trug folgende Verse vor: "Wie eine Hummel brummt es stets in meinem Gehirn. Ein Sack umhüllt mir Nerv und Knochen, mich schmerzt das Pech von gleich drei Blasensteinen, das Augenblau zermahlen und zerstochen, Zähne, die Instrumententasten gleich und klappern, sie, die jedes Wort gebrochen, jeden läßt mein Gesicht vor Schreck erbleichen. Es reicht, mit meinem Kleid ins Feld zu treten, um alle Raben aus der Saat zu scheuchen." Später hat Gustav René Hocke eine noch drastischere Übersetzung dieses Gedichts in seine Darstellung des Manierismus aufgenommen: Daß er nur noch ein Sack, ein Lederbeutel sei, voll Knochen und voll Sehnen. Daran kann man denken, wenn man das Bild des Bartholomäus mit der abgezogenen Haut und dem Selbstporträt Michelangelos sieht.

Das Bild auf der Haut des Apostels und Märtyrers ist jedoch nicht das einzige Selbstporträt, das Michelangelo in der Sixtina angefertigt hat. Im syrischen Bereich des Hängezwickels, nahe dem Eingang auf der linken Seite, hat der Künstler die alttestamentarische Geschichte von Judith und Holofernes dargestellt. Judith blickt auf ihr Opfer zurück, während ihre Dienerin das abgeschlagene Haupt des Feldherrn in einer Schale auf dem Kopf balanciert. Michelangelo hat hier 1508 den Kopf des Enthaupteten als seinen eigenen dargestellt.

Dieses Selbstporträt Michelangelos hat eine ganze Reihe weiterer Selbstporträts dieser Art nach sich gezogen. Cristofano Allori rechnet 1609 in einem Bild mit seiner Geliebten, Maria di Giovanni Mazzafirri, ab, die ihn betrogen hat. Der Kopf, den diese als Juditha in der Hand trägt, ist der Alloris.

Im gegenüberliegenden Zwickel der Sixtina hat Michelangelo eine andere Enthauptungsszene dargestellt, "Davids Tötung des Riesen Goliath". Diese Szene wurde wohl rund vier Jahre nach Fertigstellung der monumentalen und mehr als fünf Meter hohen Marmorstatue des David gemalt, die seit 1873 in der Galleria dell'Accademia von Florenz aufbewahrt wird. Auf der Freske hat David den Gegner bereits niedergestreckt und holt mit dem Schwert aus, um ihm den Kopf abzuschlagen. Etwa hundert Jahre später nahm sich sein Namensvetter Michelangelo Merisi da Caravaggio des Themas an, der David und Goliath zunächst 1599 auf einem Gemälde darstellt, das heute im Prado hängt. Eine zweite Version entstand dann um 1607, die David zeigt, der den abgeschnittenen Kopf Goliaths wie Perseus mit dem Medusenhaupt dem Betrachter entgegenstreckt. Weder der David von 1599 noch der David von 1607 blicken auf Goliaths Kopf. Ganz anders verhält sich dagegen ein dritter David von 1610, der erschüttert und traurig auf den Kopf blickt, der eindeutig das Gesicht Caravaggios zeigt.

Mit diesem Bild wollte der Künstler offenbar den Preis, der auf seinen Kopf ausgesetzt war, symbolisch entrichten. Er hatte 1606 bei einem Streit auf einem römischen Straßenfest den Sohn des Kommandanten der Engelsburg geschlagen, worauf er fliehen mußte. Seine bildnerische Bitte um Begnadigung war zwar erfolgreich, doch starb er tragischerweise 1610 in Porto Ercole auf dem Weg nach Rom. Ein Jahr zuvor hatte er diese Strategie erstmals erprobt, als er eine Darstellung der Salome mit dem Haupt des Täufers an den Großmeister des Malteserordens schickte, mit dem er ebenfalls einen Konflikt hatte. Wieder ging es um eine Rauferei, die beinahe tödlich ausgegangen wäre. Das Haupt Johannes des Täufers ist das Caravaggios, der dabei ein riskantes Spiel am Rande der Blasphemie wagt. Vielleicht nicht zufällig handelt es sich um das einzige Gemälde dieses Künstlers, das seine Signatur trägt. Das Bild ist vieldeutig und ironisch, drückt es doch nicht nur Selbsterniedrigung aus, sondern zugleich den Triumph des Künstlers, der seine Unsterblichkeit demonstriert, indem er sich als Toten darstellt.

Nach der gescheiterten Verschwörung der Pazzi, der Ermordung von Giuliano de'Medici während der Ostermesse im Florentiner Dom, erhielt Botticelli den Auftrag, Fresken der hingerichteten Verschwörer an die Nordwand des alten Gerichtsgebäudes zu malen. Er bildete damals sieben Verschwörer ab, die erhängt wurden, sowie einen achten Mittäter namens Napoleone Francesi, der kopfüber an einem gefesselten Fuß herabhängend gezeigt wird. Diese besonders schändliche Darstellung erklärt sich daraus, daß er flüchten konnte. Das Schandbild Botticellis sollte die Flucht vereiteln, die Strafe antizipieren.

Schwarzes Gesicht eines Toten - Foto: © 2011 by Schattenblick

Entsetzlich im Tod
Foto: © 2011 by Schattenblick

Mehr als zwei Jahrhunderte später setzt sich die junge Fotografie mit dem Tod auseinander. Die meisten Theorien zur Fotografie postulieren einen substantiellen Zusammenhang zwischen der Lichtbildertechnik und dem eigenen Tod. In diesem Sinne schrieb Roland Barthes, man betrete in der Fotografie die Ebene des gewöhnlichen Todes, als läge der Schrecken des Todes nicht gerade in seiner Gewöhnlichkeit. "Dies ist sein Schrecken, daß es nichts zu sagen gibt über den Tod des Menschen. Der einzige Gedanke, zu dem ich fähig bin, ist der, daß im Grunde dieses ersten Todes im Bild mein eigener Tod eingeschrieben ist. Zwischen diesen beiden bleibt nichts als das Warten, mein einziger Rückhalt ist diese Ironie darüber zu sprechen, daß es nichts zu sagen gibt." Der Tod sei so zufällig wie der Augenblick, dem das Foto eine dauerhafte Gestalt verleiht. "Fotografieren heißt, die Sterblichkeit zu inventarisieren", bemerkte Susan Sontag, "ein Fingerdruck genügt, um dem Augenblick gleichsam eine posthume Ironie zu verleihen".

Fotos zeigen Menschen zu unwiderruflich gegenwärtigen und zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens. Sie stellen Personen und Dinge nebeneinander, die einen Augenblick später bereits wieder getrennt waren und sich verändert hatten und ihr eigenes Schicksal weiterlebten. Fotografien konstatieren die Unschuld, die Verletzlichkeit, die Ahnungslosigkeit von Menschen, die ihrer eigenen Vernichtung entgegengehen. "Und gerade die Verknüpfung zwischen Fotografie und Tod verleiht allen Aufnahmen von Menschen etwas Bekennendes", so Susan Sontag.

Auf einem der ersten Lichtbilder überhaupt aus dem Jahr 1839 ist das Gesicht des Fotografen Robert Cornelius zu sehen. Der Rückseite des Bildes ist zu entnehmen: "The first light picture ever taken." Ein Jahr später zeigt ein anderes Lichtbild vom 18. Oktober 1840 einen heute weitgehend vergessenen Pionier der neuen Kunst, den französischen Finanzbeamten Hippolyte Bayard. Man sieht einen aufgebahrten Ertrunkenen, dazu wird mitgeteilt: "Die Leiche des Mannes, den sie umseitig sehen, ist diejenige des Herrn Bayard."

Die Akademie der Könige war von Bewunderung erfüllt, was ihm viel Ehre, aber keinen Sou einbrachte. Die Regierung bedauerte, nichts für ihn tun zu können, und da sich das von ihm entwickelte Verfahren nicht durchsetzen konnte, ertränkte er sich schließlich symbolisch. Was Michelangelo, Allori und Caravaggio in der Renaissancemalerei begonnen hatten, setzt sich als Darstellung des eigenen Todes im Medium der Fotografie noch sichtbarer und klarer fort.

Hippolyte Bayard als aufgebahrter Ertrunkener - Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Künstler ertränkt sich symbolisch
Foto: © 2011 by Schattenblick

In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts glaubte der Juwelier und Amateurfotograf William Mammler aus Boston bei der Entwicklung eines Selbstporträts einen Geist im Hintergrund entdeckt zu haben. Die vermeintliche Erscheinung seines vor zwölf Jahren verstorbenen Cousins beflügelte ihn zu einer recht erfolgreichen Karriere als "spirit photographer", in der er von den vielen Toten des amerikanischen Bürgerkriegs profitierte. Er wurde jedoch 1869 wegen Betrugs verurteilt, wobei als Zeuge der Anklage kein geringerer als Phineas Taylor Barnum fungierte. Dieser war der Begründer des "American Die Museum" und einer der begnadetsten Unterhaltungskünstler des 19. Jahrhunderts. "Solche Betrügereien, wie sie Bayard oder Mammler veranstaltet haben, wollen wir nicht", so Barnum.

Dennoch haben Mammlers mehrfach belichtete Fotos im Verbund mit der damals entstandenen spiritistischen Bewegung die modernen Vorstellungen vom Tod nachhaltig geprägt. Der Blick auf die Leiche konnte nun ergänzt werden durch den Blick auf ein außerkörperliches, den Tod überlebendes Selbst, imaginiert als ein durchscheinendes Lichtbild. Die Ablösung des Geistes vom Körper wurde genauso verstanden wie die Ablösung eines Fotos von einer konkreten Person. In "Life After Life" hat Raymond Muti betont, daß der Sterbende nach seinem raschen Durchgang durch den dunklen Tunnel seinen physischen Körper von außen erblickt, ganz so als sei er ein Zuschauer. "Mein Tod im Bild" wird hier zum Sterben, zu einer Metapher für das Sterben selbst.

Diese Sichtweise, die auch Elisabeth Kübler-Ross vielfach beschrieben hat, erinnert nicht zufällig an Licht- oder Filmbilder und zum Beispiel auch an die experimentellen Fotografien, die Duane Michals 1968 in Gestalt der siebenteiligen Serie "The Spirit Leaves the Body" produziert hat. Eine dieser Aufnahmen ist das Titelbild des Bestsellers "Journeys Out of the Body" von Robert Monroe, der darin die sogenannten Astralreisen beschreibt. Monroe, der eigentlich ein nüchterner Geschäftsmann war, gab vor, er könne seinen Körper verlassen und durch Wände gehen. Michals inszenierte Szenen, in denen sich eine schemenhafte Gestalt aus dem liegenden Körper löst, wobei der Betrachter insbesondere im sechsten und siebten Bild auf unheimliche Weise in diesen Prozeß einbezogen wird.

Das Selbstporträt "As if I were dead" zeigt den Fotografen am Kopfende eines Metalltisches, der auf sich selbst als den liegenden Toten herunterblickt. Das ist noch komplexer angelegt als bei Bayard, weil hier eine Beziehung zwischen dem sich überlebenden Fotografen und dem Toten hergestellt wird. Schon dreizehn Jahre früher hatte sich der österreichische Maler Arnulf Rainer im Tod inszeniert. Das Foto "Als Sterbender" (1955) zeigt seinen leblos anmutenden Körper aus der Vogelperspektive, als wolle das Foto in seiner Flüchtigkeit auf etwas verweisen, das noch flüchtiger ist als die Lichtspuren auf dem Papier. Ein Vorschauen auf den eigenen Tod in der Fotografie, das durchaus in Verbindung zu bringen ist mit der Todesmeditation in der griechischen Philosophie oder bei den alten Römern.

Im Jahr 1925 führte die neugegründete Zeitschrift "La Révolution Surréaliste" eine Umfrage zum Thema "Ist der Selbstmord eine Lösung?" durch. Etwa 50 namhafte Autoren beteiligten sich, darunter Antonin Artaud, Paul Valéry in seiner berühmten Gestalt "Monsieur Teste" und André Breton, der mit dem Zitat antwortete, Selbsttötung sei ein falscher Begriff, denn der, der getötet wird, und der, der tötet, seien niemals derselbe. René Crevel, der damals schon an Lungentuberkulose erkrankt war, nahm ausführlich Stellung und bejahte den Suizid, den er dann zehn Jahre später tatsächlich vollzogen hat. Andere Künstler sandten Bilder ein, darunter André Masson, Man Ray und Oskar Kokoschka. Kokoschka behauptete, er habe gerade eine Zeichnung unter dem Titel "ich selbst tot" fertiggestellt, als er die Umfrage erhielt, und sie deshalb als Antwort eingeschickt.

Von April 2001 bis weit ins Jahr 2002 hinein - und damit die unvorhergesehenen Ereignisse des 11. September in New York und Washington in eine Klammer fassend - führten österreichische, deutsche und amerikanische KünstlerInnen das Projekt "Death in the Studio" durch. Niki Lederer und Hannes Priesch riefen in New York eine visuelle Umfrage ins Leben, bei der sie etwa sechzig Künstler aus verschiedenen Ländern baten, ihre Todesvorstellung zu inszenieren. Die ersten Atelierbesuche begannen im Mai 2001 in Brooklyn, danach folgten Wien und Bratislawa, schließlich 23 andere sogenannte Tatorte vor der Fotokamera und im Herbst wurde dann der Tod im Studio in New York fortgeführt. Mit Unterbrechungen ging es weiter bis zum Frühsommer 2002, wobei die letzte Station Toronto war. Auffällig blieb, daß relativ viele Suizide dargestellt wurden, die von einfachen Todesbildern bis hin zum Erhängen reichten. Am auffallendsten war indessen das Schweigen über die Anschläge des 11. September, wiewohl diese den Schlüssel zu einer neuen Epoche globaler Kriegsführung darstellten, die zahllose Menschen dem Tod überantwortet hat.

Thomas Macho beim Vortrag - Foto: © 2011 by Schattenblick

Aus dem Vollen schöpfend
Foto: © 2011 by Schattenblick

Heidegger hatte zu seiner Zeit das "Vorlaufen in den Tod" hoch gelobt, so daß sich die Frage stellt, ob seine Vorstellung vom "gemeinigen" Tod, der dem Menschen als eigenste Möglichkeit zugerechnet werden kann, nicht auch ein Vordenken des Freitods meint. Karl Löwith behauptet, Heidegger umgehe eine positive Stellungnahme zum Suizid, wie sie etwa Camus abgegeben hat, indem er an der Freiheit zum Tod nur seine Möglichkeit erörtert, nicht aber dessen Herbeiführung bejaht. Den eigenen Tod vorlaufend inszeniert und dann sogar abgebildet hat - einem manifestierten hartnäckigen Gerücht zufolge - die Fotografin Diane Arbus, die ihren Suizid am 26. Juli 1971 in New York in einem selbst angefertigten Bild festgehalten haben soll.

Vielleicht gehört diese Antizipation des fremden Blicks auf den eigenen toten Körper auch wesenhaft zum Vorlaufen in den Suizid, zu jener imaginären Schleife, die wiederum Emilie Semper aus Tallinn in Estland in einem siebenminütigen Videoloop von 1998 als ewige Wiederkehr verschiedener Arten des Freitods gestaltet hat. Die Selbstdarstellerin erhängt sich, erschießt sich in einer anderen Szene, erhebt sich wieder, beginnt zu lesen, begeht erneut einen Suizid, wobei der Film immer wieder zurück in die Ausgangsposition läuft. Dieses Video wurde auf einer ganzen Reihe von großen Ausstellungen gezeigt und ist so umstritten, daß es mehrfach mit der Altersfreigabe "nur ab 18" versehen wurde.

Erschossen, erhängt und vergiftet hat sich auch der Brite Neil Hammond, der den eigenen Freitod in verschiedenen Elementen inszenierte. Daß der eigene Tod als Bild gerade nicht singulär sei, postulieren weitere Beispiele anderer Künstler, wobei die visuelle Todesversion mitunter zur Groteske gesteigert wird. Exemplarisch etwa in Erik Schmidts Travestie des kreativen Subjekts, die er in seinen Selbstporträts als schöne Leiche zum Ausdruck bringt. Da liegt der Protagonist im Gras, versinkt so geschmackvoll und begehrenswert wie eine prä-raffaelitische Wasserleiche oder hängt so gut gekleidet am Strick wie ein Dandy aus einem Proust-Roman - Sterben wird geradezu als Pose exekutiert.

Besonders drastisch kommt das in den Werken des japanischen Starfotografen Izama Kaoru zum Ausdruck, der seit 1993 in den Fotoserien "Landscapes with a Corpse" Gewalttaten an Frauen darstellt, deren leblose Körper kaum an Schönheit und erotischer Anziehungskraft eingebüßt zu haben scheinen. Die Reihe von Kandidatinnen, die in die Rolle dieser toten Schönen schlüpfen wollten, ist sehr lang. Die Inszenierungen erfolgen auf Anweisung der jeweiligen Models, worauf der Fotograf die Ideen umsetzte. Die weiblichen Figuren sind einerseits Opfer, andererseits aber auch trendverhaftete Vorbilder, da die Bildlegenden zu diesen Fotografien explizit auf die Mode Bezug nehmen, die diese Frauen tragen. Wenn das Opfer auch noch unter den gefüllten Regalen eines Supermarkts liegt, könnte die Ineinssetzung von Lifestyle und Deathstyle nicht deutlicher zutage treten.

Nadja Auermann mit Knochenmann - Foto: © 2011 by Schattenblick

Verführt vom Sensenmann
Foto: © 2011 by Schattenblick

Hingegen erweckt Richard Evertons berühmte Inszenierung Nadja Auermanns von 1995, ein ganz sublimes Spiel mit der Erscheinung des Doppelgängers als unbekannte Person, die den eigenen Tod ankündigt, geradezu nostalgische Erinnerungen längst vergangener Traditionen und Ausdrucksformen der Ars moriendi. Dieser Nostalgie diente auch Evertons technisch konservativer Purismus, mit dem er dem klassischen Handwerk des Künstlers eindeutig den Vorzug vor dem Photoshop gab.

Spätestens seit der Entdeckung Röntgens sind Skelette nicht mehr auf Kostüme und Theaterbühnen angewiesen, da sie auch auf Bildschirmen erscheinen konnten wie etwa in Thomas Manns "Zauberberg" als Wundermaschinen des eigenen Todes. Die Möglichkeit der prospektiven Anschauung des eigenen Skeletts hat wiederum einer Vielzahl neuerer Kunstwerke den Weg bereitet. Unter dem Titel "Still Alive" hat der belgische Zeichner und Objektkünstler Kris Martin 2005 mit Unterstützung neuester 3D-Bildtechnologie der Medizin einen exakten Abguß seines eigenen Schädels hergestellt. Die Nachdenklichkeit Hamlets bei der Betrachtung eines Totenschädels wird insofern gesteigert, als Chris Martin seinen eigenen anfertigt.

Um 1990 hatte bereits Barbara Hammer Fundstücke aus X-Ray-Filmen der fünfziger Jahre mit Röntgenaufnahmen ihrer eigenen Krebserkrankung verschränkt und mit einer Sammlung von Sanctusgesängen aus verschiedensten Messen vom Spätmittelalter bis zum Barock unterlegt. Ähnliche Strategien der Sakralisierung nutzt auch Schlingensief in der multimedialen Inszenierung des Fluxus-Oratoriums seiner "Kirche der Angst vor dem Fremden in mir", uraufgeführt am 21. September 2008. Das Titelbild eines Programmhefts von 2009 zeigte eine Monstranz mit dem Röntgenbild der Lunge des Regisseurs anstelle einer Hostie, darunter ein Satz von Joseph Beuys: "Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt." Dieses Zitat sollte vielleicht auch an das Wagner-Festspiel erinnern, das Schlingensief 2004 in Bayreuth inszeniert hat. Er war stets davon überzeugt, er habe sich den Krebs nicht zuletzt bei der Inszenierung des Parzival geholt. In seinem Tagebuch notierte er: "Wenn ich mir meinen Tod im Bild vorstelle, wenn ich mir meinen Tod als Bild vorstelle, sehe ich mich eigentlich immer auf der Bühne, während ich den eigenen Tod als Stück inszeniere. Einer sitzt in seinem Stuhl, die Sterne sind zum Greifen nah, es zirpt, es ist heiß, er stirbt. Zur Zeit habe ich am meisten Angst davor, nicht im eigenen Bild sterben zu dürfen." Hier geht es nicht allein um die performative oder digitale Gestaltung imaginärer Schlußbilder, sondern vielmehr um die Erschließung neuer Strategien des Selbstbezugs. So hat der österreichische Künstler Clemens Krauss in gewisser Hinsicht Michelangelos Darstellung digital wiederbelebt wie auch Charlie White das Gnadengesuch Caravaggios durch die bildnerische Antizipation seiner Enthauptung ins Bild setzte.

Was geschieht in einer Kultur, die zahlreiche Philosophien, Ästhetiken, Manifeste, Produktionen und eben auch Bilder des Suizids erzeugt? Einerseits wird dieses Thema außerordentlich faszinierend aufgeladen, andererseits jedoch tabuisiert. Um eine Kritik des Suizidalismus zu leisten, schlug Macho vor, ihm nicht mit bloßer Polemik zu begegnen, sondern ihn zu beschreiben und zu verstehen. Aus zeitlichen Gründen am gebotenen Übertritt vom Deskriptiven und immanent Verknüpfenden zur bewertenden Einbindung in kulturelle Entwicklung und gesellschaftliche Verhältnisse gehindert, ging der Referent zum Abschluß kursorisch auf einige aussagekräftige Beispiele von Kunstprojekten ein, die sich kritisch mit diesem Thema auseinandergesetzt haben.

Claudia Reinhardt hat 2004 unter dem Titel "Killing me softly" etwa ein Dutzend Freitode prominenter Künstlerinnen nachgestellt. Mit großem Aufwand hinsichtlich der Schauplätze und Darstellerinnen war sie bestrebt, die Suizide getreu dem tatsächlichen Ablauf so zu inszenieren, wie sie sie selber wahrgenommen hat. Reinhardt geht mit diesem Projekt über die bloße Präsentation von Kunst hinaus und versucht, ein feministisches Zeichen gegen die Mißachtung des Werks von Künstlerinnen zu setzen.

Ein anderes Beispiel ist die Arbeit der niederländischen Künstlerin Mathilde ter Heijnes, die lebensgroße Doubles von sich selbst agieren läßt und deren Tode in Szene setzt. Hält in einer Enthauptungssequenz ein Double den Kopf des anderen in der Hand, so tritt dahinter die Künstlerin selbst als dritte und echte Erscheinungsform ihrer selbst ins Bild. Eine große Retrospektive von ter Heijnes Werk im Jahr 2008 stand denn auch unter dem Titel "If it's me it's not me". In einem Videoloop wird in einem inszenierten Suizid ein Double immer wieder von einer Brücke gestürzt. 2004 veranstaltete die Künstlerin ein "suicide bombing", bei dem sie ihr Double buchstäblich gesprengt hat und in Flammen aufgehen ließ. Das sind gewiß extreme, doch zugleich beeindruckende und womöglich ergreifende Formen, sich mit dem Thema des Suizids auseinanderzusetzen. In Hamburg stellte Wolfgang Oelze das Thema Suizid und Suizidalität in der Kunst zur Diskussion, als er 2007 im Kunsthaus seine Videoinstallation "Old Painless" zeigte, in der er aus Hollywood-Filmen Elemente von Suizidbildern montiert und zusammengestellt hat, womit Thomas Macho seinen Vortrag schloß.

Bild eines Totenschädels - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sein oder Nichtsein ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)

31. Mai 2011