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BERICHT/046: Maßgeblich - Entsprechungen, Wellen, Tiefengrade ... (SB)



Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu nicht mehr in Worten kramen.
(Faust: Der Tragödie Erster Teil, von Johann Wolfgang von Goethe)

Sophie Charlotte Herzogin von Braunschweig und Lüneburg und erste Königin von Preußen hätte vermutlich ihre große Freude an den wissenschaftlichen Vorträgen, Debatten und Experimenten gehabt, die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 19. Januar 2019 in dem nach ihr benannten Salon präsentiert wurden.

"Maß und Messen" lautet das Motto des diesjährigen Salons Sophie Charlotte, bei dem die am Gendarmenmarkt in Berlin gelegene Akademie ihre Tore für vier Stunden weit geöffnet hatte, um in rund 20 verschiedenen Räumlichkeiten das Thema des Abends aus wissenschaftlichem und künstlerischem Blickwinkel zu beleuchten. In unserem ersten Beitrag haben wir uns schwerpunktmäßig mit dem Vortrag des Physiknobelpreisträgers Klaus von Klitzing über die bevorstehende Neudefinition der sieben physikalischen Basiseinheiten am 20. Mai dieses Jahres und seines Nachweises des Quanten-Hall-Effekts befaßt (siehe unten). Im folgenden geht es um die Ausführungen des Physikers Wolfgang Ketterle, auch er ein Nobelpreisträger in dieser Wissenschaftsrichtung.

Nicht der Magie ergeben wie jener eingangs zitierte Magister aus Goethes "Faust" hat sich Ketterle, wohl aber einer Forschungsrichtung innerhalb des breiten Felds der Physik, in der es ebenfalls um Erkenntnis dessen geht, was die Welt im Innersten zusammenhält und was - vermutlich - keinen Mephisto manifestieren ließ, aber zumindest von Albert Einstein einmal als "spukhafte Erscheinung" bezeichnet worden war: Die Welt der Quanten. Sie zu erforschen hat viele phänomenale Entdeckungen hervorgebracht.

Wenn man Materie immer weiter abkühlt, verlieren Atome, aus denen sie sich zusammensetzt, mehr und mehr ihrer Bewegungsenergie. Die Schwingungen verlangsamen sich, bis ab einer bestimmten Temperatur knapp über 0 Kelvin (das entspricht -273,15 Grad Celsius) die Atome in eine neue Phase eintreten. Aus der ungeordneten Bewegung des atomares Gases wird ein Gleichschritt der Atome, die sich dann wie ein einziges Atom verhalten. Man spricht von einem kohärenten, also zusammenhängenden System. Dieses Phänomen war 1924 von dem Schweizer Physiker Albert Einstein auf der Grundlage einer Arbeit des Inders Satyendranath Bose theoretisch vorausgesagt worden. Der erste Nachweis des in der Fachwelt Bose-Einstein-Kondensat genannten Materiezustands gelang 1995 in den USA. An diesen Forschungen war Wolfgang Ketterle vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston maßgeblich beteiligt. Er und zwei Kollegen von der Universität von Colorado in Boulder erhielten 2001 den Physiknobelpreis "für die Erzeugung der Bose-Einstein-Kondensation in verdünnten Gasen aus Alkaliatomen und für frühe grundsätzliche Studien über die Eigenschaften der Kondensate".


Beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Dr. Wolfgang Ketterle
Foto: © 2019 by Schattenblick

Wozu braucht man Atome und Moleküle bei tiefen Temperaturen und was kann man damit machen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Vortrags, der sich dem Thema Schritt für Schritt genähert hat. Wobei die Erläuterungen Ketterles auch am hinteren Ende des großen Leibniz-Saals der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften akustisch sehr gut zu verstehen waren. Dabei hätte es nicht der Lautsprecheranlage bedurft, um die Schallwellen fast ohne Zeitverlust durch den Raum zu befördern, denn bei Zimmertemperatur bewegen sich die Moleküle, die den Schall übertragen, mit 343 Meter pro Sekunde. Das ist die Schallgeschwindigkeit und entspricht der Geschwindigkeit eines Düsenflugzeugs. Könnte man hingegen den Leibniz-Saal so weit abkühlen, daß aus ihm ein Bose-Einstein-Kondensat wird, würden sich die Atome nur noch mit einem Millimeter pro Sekunde bewegen, und diejenigen am hinteren Ende des Saals hörten den Beginn meines Vortrags erst dann, wenn er vorne längst zu Ende ist, sagte Ketterle. Seine Worte bräuchten dann eine Viertelstunde, um auch nur einen Meter zurückzulegen.

Mit diesem Bild hat der Referent nicht nur einen ersten Einblick in die Physik der tiefsten Temperaturen vermittelt, sondern zugleich deutlich gemacht, warum Physiker so fasziniert davon sind, Atome bis auf ein Milliardstel Kelvin abzukühlen, den abrupten Phasenübergang von der Unordnung zur Ordnung der Atome zu beobachten und sich Experimente auszudenken, um herauszufinden, welchen Nutzen dieser neue Aggregatzustand der Materie noch alles haben könnte. "Bei tiefen Temperaturen kann man immer neue Entdeckungen machen", betonte Ketterle.

Eine Verbindung vom Vortrag zum Veranstaltungsmotto "Maß und Messen" bestand eigentlich fortwährend. Doch gelegentlich nahm der Referent direkten Bezug darauf, beispielsweise indem er erklärte, daß Atomuhren, die nach der periodischen Bewegung eines Cäsiusmatoms "ticken", um vieles genauer gehen, wenn diese Atome abgekühlt werden. So habe sich an der Definition der Zeit in den letzten 50 Jahren nichts geändert und werde sich auch nach der Revision der Basiseinheiten am 20. Mai 2019 nichts ändern, aber die Messungen seien um den Faktor 1000 und noch mehr genauer geworden. Die Verlangsamung ermögliche einen präziseren Zugriff.

In der medialen Verarbeitung von Konzepten, Modellen und Theorien der Physik wird manchmal ein Widerspruch oder gar Gegensatz in der Vorstellung von der Beschaffenheit von Atomen unterstellt, die in der Physik je nach Kontext mal als Welle, mal als Teilchen beschrieben werden. Man spricht auch vom Doppelcharakter der Atome. Ketterle widersprach dem nicht, aber sagte, "Atome sind Wellen", und erläuterte das zunächst am Beispiel von Laserlicht. Wenn zwei sich überlagernde Laserstrahlen genau gegenläufig ausgesandt werden, dann interferieren sie, was bedeutet, daß sich das Licht an manchen Stellen verstärkt und an anderen auslöscht: "Licht und Licht kann Dunkelheit ergeben, wenn die zwei elektrischen Felder des elektrischen Lichtes gegenläufig sind. Plus und minus gibt null. Plus und plus gibt helleres Licht."

Genau das gleiche gilt nun für Atomwolken im Zustand des Bose-Einstein-Kondensats. Sie verhalten sich wie Laserlicht und bewegen sich in Form einer einzigen kohärenten Welle. Zwei Atomwolken können so interferieren, daß sie sich an einer Stelle auslöschen und an der anderen verstärken. Das erläuterte Ketterle mit Hilfe eines Power-Point-Schaubilds: "Dort, wo man nichts sieht, wo kein Schatten ist, da sind keine Atome. Was Sie also hier sehen, ist, daß Atome und Atome Vakuum oder Nichts ergeben können. Auf genau dieselbe Weise wie Licht und Licht Dunkelheit ergeben können."

Dieses Phänomen hat unter anderem die praktische Bedeutung, daß damit sehr präzise Messungen durchgeführt werden können. Auf eine Fläche gestrahlt, ergibt interferierendes Laserlicht bzw. äquivalent dazu der kohärente Atomstrahl ein Streifenmuster. Dieses Muster reagiert "wahnsinnig empfindlich" auf die genaue Bewegung der Atome. Wenn nun Atome ihre Geschwindigkeit ändern, ändert sich das Streifenmuster: "Damit hat man eine ganz, ganz empfindliche Möglichkeit, Beschleunigungen zu messen", erläuterte Ketterle, der im Nebensatz andeutete, daß solche Art Forschung auch vom Militär angewendet wird, denn: "Indem man Atome fallen läßt und sich die Interferenz anschaut, ist Navigation ohne GPS möglich, zumindest im Militärbereich für Schiffe und größere Geräte."

Physikalische Forschungen bei tiefen Temperaturen wurden mit einer Reihe von Nobelpreisen geehrt, von der Abkühlung des Gases Helium auf rund 1 Kelvin (1913), über die Erzeugung der Suprafluidität mit Helium-3 (1996) bis zur Entdeckung des nahezu verlustfreien elektrischen Stromtransports in der Supraleitung (2003). Dabei dürfte das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sein, auch wenn man sich dem absoluten Nullpunkt bereits auf 450 Picokelvin genähert hat. Das ist knapp ein halbes Milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt. Diesen kann man aus fundamentalen Gründen niemals erreichen, stellte Ketterle klar, der an dem Experiment zum Nachweis der bislang tiefsten Temperatur beteiligt war. Je näher man dem absoluten Nullpunkt kommt, desto länger (Faktor 10) dauert der Schritt, um die Temperatur um den gleichen Betrag zu senken wie für den gleichen Schritt zuvor. Schließlich würde es unendlich lange dauern, den absoluten Nullpunkt zu erreichen. Dieser sei auch nicht zu unterbieten, wie er häufig gefragt werde, griff der Forscher und Hochschuldozent einer ihm häufiger gestellten Frage vor. Die Kelvin-Skala sei so definiert, daß sie bei Null anfängt, bei Nichts bzw. null Energie.

Viele Materialien, die eine große Bedeutung haben, seien nicht vollständig verstanden. Die Natur sei kompliziert, bekannte Ketterle, der sich offensichtlich nicht auf seinen Lorbeeren, die ihm die Anerkennung des Nobelpreises eingebracht hat, ausruht. Er hat seit 1998 den John D. MacArthur-Lehrstuhl für Physik am renommierten MIT inne, wo Experimente durchgeführt werden, die in der Fachwelt für Aufsehen gesorgt haben. So ist es der Forschergruppe mit Hilfe eines Quantensimulators gelungen, eine neue Form von Materie zu erzeugen, die Suprasolidität. "Das ist ein Gas, eine Flüssigkeit, ein Festkörper, alles gleichzeitig," bot Ketterle abschließend einen kurzen Einblick in seine jüngste Forschungstätigkeit. Man fühlte sich an Fausts Bekenntnis erinnert, das Innerste der Welt erkunden zu wollen.

Mit Suprasolidität hat es folgende Bewandtnis: Ein Gas nimmt immer die Form an, die der Behälter vorgibt, in dem es eingeschlossen ist. Ein Festkörper dagegen hat eine Textur, eine feste Struktur. Die Forschergruppe um Ketterle hat nun ein Bose-Einstein-Kondensat erzeugt, das die Textur eines Festkörpers annimmt. Nach Angaben des Referenten war die Gruppe am MIT die erste, die einen solchen suprasoliden Körper hergestellt hat. Das Journal "Nature" berichtet im März 2017 darüber. In derselben Ausgabe werden ähnliche Experimente der ETH Zürich vorgestellt. In einer Presseerklärung des MIT vom 2. März 2017 zu diesem Nachweis wird Ketterle mit den Worten zitiert: "Mit unseren kalten Atomen zeigen wir, was in der Natur möglich ist. Jetzt, da wir experimentell bewiesen haben, daß die Theorien, die Superfeste Körper vorhersagen, richtig sind, hoffen wir, weitere Forschungen anzuregen, möglicherweise mit unerwarteten Ergebnissen."

Mit den Worten, daß kalte Atome entwickelt werden, um nach neuen Materialien zu suchen, endete der Vortrag, allerdings nicht ohne den Hinweis, daß die Quantenmechanik, die sehr verschieden ausgerichtet sein kann, heute 60 Prozent der Weltwirtschaft "beeinflußt". So sei an dieser Stelle abschließend festgestellt, daß die vielen einzelnen Veranstaltungen des Salons Sophie Charlotte deutlich vor Augen geführt haben, daß von "Maß und Messen" offenbar 100 Prozent der menschlichen Kognition und Kommunikation bestimmt sind.

Bisher im Schattenblick zu der Veranstaltung "Maß und Messen" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschienen:

BERICHT/045: Maßgeblich - Wechsel und Wandel ... (SB)
BERICHT/046: Maßgeblich - Entsprechungn, Wellen, Tiefengrade ... (SB)
INTERVIEW/038: Maßgeblich - Handelsgenauigkeit ...    Prof. Dr. Klaus von Klitzing im Gespräch (SB)

27. Januar 2019


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