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BERICHT/047: Maßgeblich - Zugriff unzulänglich ... (SB)


Es gibt bereits viele derartige Datenbanken, die fest installiert sind. Die Nationale Kohorte hat jedoch eine völlig neue Dimension, daß aufgrund der Vernetzung die Daten für ein breites Spektrum von Forschungsvorhaben zur Verfügung gestellt werden. Diese Vernetzung ist international und für die Betroffenen nicht überschaubar, die nicht wissen, wofür ihre Daten genutzt werden. Durch die Fülle der Daten wird die Anonymisierung in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang sind so viele Fragen offen, und eine öffentliche Debatte über diese Problematik ist bislang völlig ausgeblieben.
Wolfgang Linder (ehemaliger Datenschutzbeauftragter in Bremen) [1]


Wem gehören die Gesundheitsdaten und Körpersubstanzen des Menschen? Noch in der Ära des Fordismus stand außer Frage, daß die Lohnabhängigen ihre Arbeitskraft um den Preis ihres Wohlergehens bis hin zu Verschleiß, Krankheit und vorzeitigem Tode verkaufen mußten, ihre Körperlichkeit ansonsten jedoch als Teil der Reproduktionssphäre davon unberührt blieb. Das hat sich im Zuge anwachsender Krisen kapitalistischer Verwertung grundlegend geändert. Durch weitreichende Reformen des Gesundheitssystems staatlicherseits vorgebahnt, flankiert und vorangetrieben, greift das kommerzialisierte Gesundheitswesen auf den kommodifizierten Körper zu, der als Ware in die Profitmaximierung eingespeist wird. Gesundheitsversorgung ist kein Rechtsanspruch im Sozialstaat mehr, sondern wird in sogenannte Eigenverantwortung überführt, die den Menschen auch in diesem Sinne zum Schuldner erklärt. Körperliche Substanz in jeglicher Form und persönliche Daten gelten nicht länger als persönliches Eigentum, das wie das Privateigentum an Produktionsmitteln für unbedingt schützenswert erachtet wird.

Man empfiehlt nachdrücklich, diese Daten und Substanzen fremdnützigen Zwecken zu überantworten, als schade die Verweigerung dieses Zugriffs dem Gemeinwohl. Wer widerspricht, gilt schnell als renitentes Subjekt, das von irrationalen Ängsten und Fortschrittsfeindlichkeit beherrscht werde oder gar etwas zu verbergen habe. Zur Vermessung von Gesundheit und Krankheit bedürfe es möglichst großer Populationen, aus deren Untersuchung sich Parameter und Instrumente zur besseren Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ermitteln lassen, so das Credo einer forschenden Zunft, die sich der Treibjagd auf das wohlfeile Wild personenbezogener Gesundheitsdaten verschrieben hat. Zug um Zug wird die Privatsphäre geschleift, der Datenschutz ausgehöhlt, die informationelle Selbstbestimmung unterminiert, um auch auf diesem Wege aus Geld mehr Geld und aus Kontrollansprüchen umfassende Verfügung zu machen.


Projektion 'Vermessung der Gesundheit' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Vermessung der Gesundheit

Im Rahmen des Salon Sophie Charlotte, der am 19. Januar zum Thema "Maß und Messen" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Berliner Gendarmenmarkt stattfand, war eine Podiumsdiskussion der "Vermessung der Gesundheit" gewidmet. Die Humanmedizinerin Annette Grüters-Kieslich vom Universitätsklinikum Heidelberg sprach mit der Kinderheilkundlerin Susanna Wiegand von der Charité, dem Epidemiologen Tobias Pischon vom Max Delbrück Center für molekulare Medizin in Berlin und dem emeritierten Humangenetiker Karl Sperling von der Charité.

Wie die Kinderärztin Annette Grüters-Kieslich in ihrer Anmoderation hervorhob, gehe es bei dieser Diskussion nicht um die Vermessung von Krankheit, in deren Kontext beim Arztbesuch zahlreiche Daten erhoben werden, um zu klären, worauf das jeweilige Beschwerdebild zurückzuführen ist. Wolle man hingegen einen Referenzbereich zur Unterscheidung von krank und nicht krank ermitteln, bedürfe es der Untersuchung einer großen Population gesunder Menschen, die höchst selten verfügbar sei. Daher werde man im folgenden insbesondere reflektieren, auf welche Weise umfassende Datensätze erhoben werden könnten.

Ein großer Datenbestand liegt im Prinzip bei Kindern vor, die in Deutschland von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr immer wieder untersucht werden. Die sogenannten Früherkennungs- oder Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 erheben zahlreiche qualitative Daten, wobei fast 90 Prozent der Kinder an allen Untersuchungen teilnehmen. Da pro Jahr über 800.000 Kinder geboren werden, umfaßt eine Kohorte von U1 bis U9 mehr als vier Millionen Kinder, von denen Daten vorhanden sind. Diese gigantische Datenbasis existiert jedoch nur in Papierform, sie wird nicht elektronisch erfaßt, gespeichert und ausgewertet. Auf der andere Seite werde ein Riesenhype um Big Data gemacht und viel Geld investiert, um große gesunde Kohorten zu rekrutieren und zu untersuchen, ohne daß man je eine gesamte Population erreiche, so daß man sich folglich mit Stichproben begnügen müsse. Die von den Krankenkassen finanzierten Untersuchungen ermöglichen eine frühzeitige Behandlung bei Kindern, doch werden die Daten nicht weiter genutzt, um anhand großer Zahlenmengen beispielsweise Probleme in bestimmten Regionen zu identifizieren. Die Kassenleistung bezieht sich nur auf individuelle Daten und soll nicht für andere Zwecke genutzt werden. Damit verzichte man auf eine populationsbasierte Kohorte, deren Gesundheit ständig gemessen wird, beklagte Grüters-Kieslich den fehlenden Zugang zu einem ihres Erachtens unnötig brachliegenden Datenbestand.


Im Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Susanna Wiegand
Foto: © 2019 by Schattenblick

Body-Mass-Index von beschränkter Aussagekraft

Im Kontext der Volkskrankheiten ist die Gewichtsentwicklung in der Gesellschaft ein Dauerthema, und so wird auch bei Kindern im Rahmen der Früherkennung das Gewicht ermittelt und eingestuft. Ist dabei der Body-Mass-Index (BMI) das Maß aller Dinge oder bedarf es differenzierterer Normierungen? Susanna Wiegand hob hervor, daß Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Der BMI (Gewicht in Kilogramm, geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat) paßt schon bei Erwachsenen oftmals nicht, wenn etwa Sportler viel Muskelmasse aufbauen oder Menschen vom Typus her oder krankheitsbedingt sehr dünn sind. Bei Kindern und Jugendlichen sind sogenannte BMI-Percentile erforderlich, da sich Körperoberfläche und Körpermasse während des Wachstums nicht im gleichen Verhältnis verändern. Ein Kind von drei Jahren ist mit einem BMI 22 stark übergewichtig, mit zehn Jahren bei demselben Wert nur ein wenig übergewichtig, und ein 15jähriger Jugendlicher gilt mit diesem BMI-Wert als normalgewichtig. Der absolute Wert sagt also gar nicht aus, Kinder brauchen BMI-Perzentilen, und auch bei Erwachsenen nutzt angesichts einer dynamischen Entwicklung ein starrer Grenzwert nichts, so die Referentin.

Relevant ist das Fettgewebe, das an verschiedenen Stellen unter der Haut, im Bauch und in den Muskeln gebildet wird. Während es als Energiespeicher direkt unter der Haut erforderlich ist, kann es im Bauchbereich Entzündungsmediatoren bilden und die Insulinproduktion beeinflussen. Die Bildgebung einer MRT-Untersuchung gibt Aufschluß über die Lokalisierung des Fettgewebes, die bei gleichem BMI sehr unterschiedlich sein kann. Der BMI ist also lediglich ein grober Screening-Parameter, kann aber nicht als Absolutwert Grundlage wichtiger Entscheidungen sein.

Dennoch werden hinsichtlich möglicher Grenzwerte des BMI bei Erwachsenen Sanktionen wie höhere Prämien für die Krankenversicherung oder bei der Besteuerung diskutiert. Dagegen wandte Wiegand ein, daß der BMI nichts darüber aussagt, ob jemand krank ist. Und daß ein kranker Mensch höhere Prämien bezahlen sollte, sei grundsätzlich fragwürdig. In den USA wurde das einmal für rauchende Menschen mit dem Ergebnis durchgerechnet, daß diese früher sterben und somit eher weniger Geld kosten. Ob ein adipöser Mensch tatsächlich krank wird, hänge von verschiedenen Faktoren wie etwa der genetischen Disposition ab. Es gebe große ethnische Unterschiede, eine Gen-Umweltinteraktion, und man fange gerade erst an, diese Zusammenhänge zu verstehen. Deshalb fände sie es gegenwärtig extrem schwierig, ein Sanktionssystem zu etablieren, da keine relevanten Meßverfahren vorlägen.

Im Gespräch mit dem Schattenblick erwiderte Susanna Wiegand auf die Frage nach der offenbar kontrovers diskutierten Definition von Gesundheit, dabei handle es sich um einen komplexen Begriff, der sehr unterschiedlich definiert werde. Man könne den Body-Mass-Index zwar berechnen, doch müsse man ihn relativieren, da viele weitere Faktoren eine Rolle spielten. Der BMI sei lediglich ein Hinweis auf mögliche gesundheitliche Probleme durch vermehrtes Fettgewebe an einer problematischen Stelle. Es gebe viele Abweichungen wie etwa sehr große Menschen, die nicht per se krank seien, auch wenn sie aus der Norm fallen. Diese sei mathematisch definiert und lege zumeist eine Normalverteilung zugrunde, aus der Menschen an der einen oder anderen Seite herausfallen. Oft werde bei Kindern gefragt, ob sie zu groß oder zu klein seien. Dabei sei der häufigste Grund, daß kleine Kinder kleine Eltern und große Kinder große Eltern haben. Es handle sich lediglich um Normvarianten, die nichts mit einer Krankheit zu tun haben. Eher werde die gesellschaftliche Normierung zum Problem, wenn ein sehr kleines oder ein sehr großes Kind gehänselt wird. Ein anderes Beispiel sei die starke Stigmatisierung übergewichtiger Menschen, die zu sozialen Problemen führe. Neben der individuellen habe Gesundheit stets auch eine gesellschaftliche Komponente. Es sei noch gar nicht so lange her, daß deutliches Übergewicht als Zeichen von Wohlstand galt, weil die Mehrzahl der Menschen sich kaum ausreichend ernähren konnte. Auch gelten Kinder, die aus Familien mit einem niedrigen Sozialstatus oder Migrationshintergrund kommen, als Risikogruppen, womit eine weitere Komponente hinzukomme.

Läßt sich Gesundheit demnach nicht so sehr physiologisch, als vielmehr im Kontext einer gesellschaftlichen Konvention bestimmen? Wiegand faßte dies eher als eine philosophische Frage auf. Wenngleich ein Mensch zunächst individuell von Krankheit betroffen sei, komme es sehr darauf an, in welchem Land er lebt. Ist diese Krankheit dort heilbar, existiert ein Versorgungssystem, das diese Lage puffert? Auch dabei sei man also auf verschiedenen Ebenen unterwegs. Wie in allen gesellschaftlichen Modellen ordne sich auch Gesundheit entsprechend ein.

Daß gesellschaftlich hervorgebrachte Körpernormen und -ästhetiken wie etwa das Schlankheitsideal zwar mit Gesundheit assoziiert werden, aber oftmals mit sozialen Sanktionen bewehrt und sogar krankmachend sind, bestätigte Susanna Wiegand. Die Hälfte aller normalgewichtigen Mädchen finde sich zu dick. Sie seien zwar physisch gesund, fühlten sich aber selber "krank", nämlich zu dick. Dies sei ein Paradebeispiel für die Auswirkung einer gesellschaftliche Norm, denn diese Mädchen litten teilweise unter psychischen Problemen und würden über diesen Weg des gesellschaftlichen Drucks dann auch real krank.


Im Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Tobias Pischon
Foto: © 2019 by Schattenblick

NAKO-Studie - großer Fischzug im Datenpool

Die in Kreisen der Wissenschaft vieldiskutierte nationale Kohorte zur Vermessung gesunder Erwachsener sei als Großprojekt aufgelegt, aber in keiner Weise ausfinanziert worden, monierte Annette Grüters-Kieslich. Ob dieses Vorhaben tatsächlich so durchgeführt werden kann, daß es am Ende zu möglichst aussagekräftigen Ergebnissen kommt, müsse sich erst noch erweisen. Tobias Pischon legte eingangs dar, worum es bei der NAKO-Studie geht. Deutschland habe seit dem Zweiten Weltkrieg eine rege Tradition der kurativen Medizin, aber bis vor 20 Jahren relativ wenig in der Präventivmedizin und vor allen Dingen in der präventivmedizinischen Forschung unternommen. Die NAKO-Studie soll untersuchen, was krank macht und was gesund hält. Gibt es Faktoren, die die Entstehung von Krankheiten hemmen oder begünstigen, welche Rolle spielen die Gene, Umweltbedingungen und manches andere mehr?

Im Rahmen der groß angelegten Studie sollen deutschlandweit 200.000 Personen im Alter zwischen 20 und 69 Jahren untersucht werden. Zur Auswahl der Teilnehmenden wurden die Einwohnermeldeämter um Adressen im entsprechenden Altersbereich ersucht. Anhand dieser Adressen wurden die Personen angeschrieben und um Teilnahme gebeten. Um das Geschlechterverhältnis sicherzustellen, werden 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen ausgewählt. Es ist also ein Querschnitt durch die Bevölkerung, so daß auch kranke Personen dabei sein können, doch in der Regel nehmen eher gesunde Menschen an der Studie teil.

In 18 beteiligten Studienzentren wird ein ausführliches Untersuchungsprogramm durchgeführt, das zwischen zweieinhalb und vier Stunden dauert. Bei 30.000 Teilnehmenden werden auch Ganzkörper-MRT-Untersuchungen durchgeführt, wobei man bildgebende Untersuchungen dieses Umfangs weltweit nur in wenigen Studien antrifft. Die eigentliche Besonderheit dieser Kohorten-Studie besteht jedoch darin, daß die Teilnehmenden nachbeobachtet werden, so daß man erfährt, was aus ihnen geworden ist. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen, so daß man beispielsweise beim BMI zu Aussagen gelangt, welche Bedeutung er in einem bestimmten Bereich für das spätere Auftreten von Krankheiten hat, so der Referent.

In der NAKO wird eine ganze Reihe von Untersuchungen durchgeführt. Das fängt mit sozialepidemiologischen und soziologischen Fragestellungen an und bezieht weitere Gesundheitsfaktoren wie Ernährung, körperliche Aktivitäten oder Umwelt ein. Es werden detaillierte apparative Untersuchungen vorgenommen, angefangen im Herz-Kreislauf-Bereich, Blutdruck, Herzfrequenz, EKG, es wird beispielsweise auch der Taillenumfang wie auch per Ultraschall das abdominelle Fettgewebe gemessen, MRT-Untersuchungen geben Aufschluß über die Körperfettverteilung.

Die riesige Datenressource der NAKO ist jedem Wissenschaftler in Deutschland, aber auch international zugänglich. Seit 2014 wurden 190.000 Teilnehmende gewonnen und 29.000 Personen per MRT untersucht. Im April wird die Erstuntersuchung abgeschlossen, und nach einer Feier im Sommer soll die Zweituntersuchung beginnen. Alle Teilnehmenden werden noch einmal neu eingeladen, so daß man dann auch Longitudinalveränderungen untersuchen kann.


Projektion 'Die NAKO Gesundheitsstudie' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Die NAKO ist eine Forschungsstudie zur Erhebung wissenschaftlicher Daten, nicht jedoch eine Screening-Untersuchung mit Befundung. Werden beim MRT Auffälligkeiten festgestellt, die die Person selbst oder je nach Berufstätigkeit auch Dritte betreffen, werden diese mitgeteilt. Da sich die Studie in einem ethischen Spannungsfeld bewegt und internationale Standards schafft, wurde eine endliche Liste von Dingen entwickelt, deren Auftreten berichtet wird. Auf der anderen Seite gibt es eine offene Liste von Dingen, die nicht berichtet werden, da man die Teilnehmenden nicht unnötig in Aufregung versetzen will. Diese Listen sind offen zugänglich, in Zweifelsfällen gibt es auch noch einen MRT-Ethikbeirat, der angehört werden kann.

Der ursprüngliche Begriff nationale Kohorte wurde gewählt, weil das Projekt zusammen mit den verschiedenen Gesundheitszentren in Deutschland entwickelt wurde. Da der Begriff jedoch nicht besonders glücklich sei, wurde es in NAKO-Gesundheitsstudie umbenannt, erklärte Pischon. Was die Repräsentativität und Generalisierbarkeit der Studie betrifft, gilt es diese Begriffe genau zu klären. Repräsentativität im engeren Sinne bezieht sich auf den Ansatz zu erforschen, wie bestimmte Maße in der deutschen Bevölkerung verteilt sind. Bei den U- Untersuchungen werden fast alle Kinder erfaßt, so daß Repräsentativität im strengen Sinne vorliegt. Bei der NAKO geht es darum, die krankmachenden Faktoren zu bestimmen, also um epidemiologische Zusammenhänge. Es muß sichergestellt werden, daß diese Aussagen generalisierbar sind, was auch der Fall sei. Dafür müssen die Bevölkerungsschichten, für die Aussagen getroffen werden sollen, in der NAKO vertreten sein. So wird bei der Rekrutierung geprüft, ob beispielsweise die Altersfakturierung zutrifft und die verschiedenen sozialen Schichten berücksichtigt sind, schloß Pischon seinen Vortrag.


Auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Karl Sperling
Foto: © 2019 by Schattenblick

Genom - Begehrlichkeiten im internationalen Vergleich

Annette Grüters-Kieslich leitete den dritten Vortragsteil mit der Frage ein, ob es sich angesichts des inzwischen erschwinglichen Preises nicht lohnen würde, die Genome der deutschen Bevölkerung auf freiwilliger Basis zu sammeln. Ist es empfehlenswert, das persönliche Genom vorab sequenzieren zu lassen, um es im Falle späteren Bedarfs vorliegen zu haben? Dies verneinte Karl Sperling, wobei er zunächst die Praxis in anderen Ländern darlegte. Die Amerikaner sequenzieren eine Million komplette Genome, die Chinesen haben dasselbe vor und in der Europäischen Union sequenzieren dreizehn Länder eine Million Genome. Die Engländer sind weltweit führend, haben 80.000 bereits komplett abgeschlossen und führen die Genomsequenzierung 2019 sogar in die Regelversorgung ein.

Um Volkskrankheiten zu erkennen, lohnt sich das jedoch nicht, so der Referent. Deutschland hat das meiste Geld in diese Frage investiert, doch auf diesem Wege disponierende Gene zu finden, hat sich als nicht lohnenswert herausgestellt. Es wurden zwar viele kleine Varianten entdeckt, doch die eigentliche Disposition ist so gering und so wenig zur Prognose geeignet, daß man damit noch nicht viel anfangen kann. Doch um zu illustrieren, was zu tun wäre, gelte es zu berücksichtigen, daß sich die Humangenetiker insbesondere für die Kranken interessieren. Die genetische Diagnostik kann zu jedem Augenblick im Leben das Erbgut untersuchen, da jede Zelle des Körpers im Prinzip die komplette genetische Information enthält.

Eine einzige Zelle reicht aus, um eine Präimplantationsdiagnostik durchzuführen. Chromosomenveränderungen spielen eine bedeutsame Rolle, die meisten Embryonen mit zusätzlichen Chromosomen sterben frühzeitig ab. Die Stärke der Humangenetiker sind die monogen bedingten Krankheiten, die auf Veränderungen eines Gens basieren, von der schätzungsweise vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind, wobei sich 90 Prozent bis zur Pubertät manifestieren. Hinzu kommen die multifaktoriellen Erkrankungen, bei denen auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Das sind die häufigen Krankheiten des Alters, und es lohnt sich, auch da zu sequenzieren, so der Referent.

Wie groß ist das Genom? Würde man auf einer Seite 3000 Basenpaare ausdrucken, wäre das Genom eines Virus ein Buch mit 1000 Seiten, und die Menge, die wir von jedem Elternteil bekommen, eine Bibliothek aus 1000 Bänden à 1000 Seiten. Die Frage, wie eine Sequenz an irgendeiner Stelle dieser Bibliothek aussieht, ließe sich sofort beantworten. Wollte man wissen, ob man genau diese Sequenz auch selbst hat, würde die Beantwortung nicht länger als drei oder vier Tage dauern. Das Sensationelle sei indessen, daß die Kosten von etwa 100 Millionen US-Dollar im Jahr 2001 auf ungefähr 1000 Dollar gesunken sind. Und damit wird die medizinische Anwendung viel breiter. Wollte man jedoch das eigene Erbgut schnell sequenzieren lassen, um das Schicksal voraussehen zu können, wäre das nicht möglich.

Um das Erbgut interpretieren und klinische von normalen Varianten unterscheiden zu können, wurde international die Konsequenz gezogen, so viele Genome wie möglich zu sequenzieren. Unter den Initiativen, die das in Angriff genommen haben, ist Deutschland jedoch nicht vertreten. In den hiesigen Kohorten wird alles untersucht bis auf das Genom. In England wurde bei einer Kohorte von Neugeborenen auch das Erbgut sequenziert. In Deutschland ist das hingegen nicht möglich. Die Einstellung ist in diesen beiden Ländern vollkommen unterschiedlich, was mit "unserer schlimmen Geschichte" zusammenhänge, so Sperling.

Was Humangenetiker fasziniert sei die Aufklärung der Krankheiten, die monogen bedingte Ursachen haben. Die Entwicklung schreitet nahezu logarithmisch voran, die Datenbanken werden fast täglich aktualisiert, und beinahe an jedem Arbeitstag wird eine weitere Krankheit aufgeklärt. Bei multifaktoriellen Krankheiten ist die Vorhersagekraft hingegen nach wie vor so gering, daß sich die Sequenzierung nicht lohnt. Die einfachste unter vielen denkbaren Erklärungen dafür wäre, daß die Menschen in ihrer Evolution zu 99 Prozent Jäger und Sammler waren und die Erbanlagen an diese Umweltverhältnisse angepaßt sind, nicht jedoch an eine Überernährung oder die Zunahme psychischer Krankheiten. Das ist alles umweltbedingt, da hat sich nichts in den Erbanlagen verändert. Für die Bekämpfung der Volkskrankheiten braucht man das Erbgut nicht. Ziel sollte die Aufrechterhaltung der Homeostase sein, denn das Erbgut ist ein gut gepuffertes System. Als Schlagwort böte sich Sperling zufolge an: Man sollte jung sterben, aber so spät wie möglich.

Annette Grüters-Kieslich räumte ein, daß damit die Grenzen aufgezeigt seien und man lange über die ethischen Implikationen diskutieren könnte. Dessen ungeachtet hakte sie bei Tobias Pischon mit der Frage nach, ob es nicht doch klug wäre, bei der NAKO das Genom der Probanden zu sequenzieren. Wenn man schon so viele andere Dinge messe und zugleich sehe, was in Nachbarländern passiert, sollte man doch bei einem derart ambitionierten Projekt darüber nachdenken, ob das Genom nicht als zusätzliche Information auch dazugehört. Das fand der so angesprochene Pischon überlegenswert, doch schätzte er die Kosten angesichts der Zahl der Teilnehmenden als immer noch zu hoch ein. Voraussetzung wäre die Bereitschaft, dies tatsächlich finanziell zu unterstützen.


Auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Annette Grüters-Kieslich
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Klage über den deutschen Sonderweg

In ihrem Resümee hob Annette Grüters-Kieslich abermals auf die Klage ab, daß man in der Bundesrepublik leider manche Dinge nicht so handhabe, wie das in anderen Ländern möglich sei. So würden in anderen europäischen Staaten und den USA bei Früherkennungsuntersuchungen die Daten selbstverständlich gesammelt und analysiert, was bei uns nicht stattfinde. Die Genome würden in der NAKO aus Kostengründen nicht untersucht, aber sicher auch deshalb, weil wir aufgrund unserer Geschichte mehr Probleme mit diesen Daten als andere Länder hätten. Viele Irrwege in der medizinischen Diagnostik resultierten aus einer Anwendung von Parametern, die nicht an einer großen Kohorte gesunder Menschen validiert worden seien.

Daß die deutsche Geschichte gleichsam als Wink mit dem Zaunpfahl ein ums andere Mal wie ein leidiger Hemmschuh beklagt, jedoch die Relevanz daraus resultierender forscherischer Zurückhaltung mit keiner Silbe erörtert wurde, war symptomatisch für die überwiegende Positionierung des Podiums. Die unhinterfragte Gleichsetzung maximaler Datenerhebung mit optimaler Gesundheitsversorgung der Bevölkerung blendete die Interessenlage von Wissenschaft, Politik und kommerziellen Akteuren am Zugriff auf persönliche Daten insbesondere hinsichtlich der daraus resultierenden Widerspruchslage weitgehend aus. So lockt die in NAKO-Studie umbenannte nationale Kohorte massenhaft Teilnehmende mit der Aussicht an, sie trügen damit zu einem verbesserten Kampf gegen die Volkskrankheiten bei. Von wem und auf welche Weise die erhobenen Daten jedoch letzten Endes verwertet werden, entzieht sich jeglicher Kenntnis und Kontrolle der Teilnehmenden. Deren Einwilligung ist schon deshalb in Frage gestellt, weil sie gar nicht im Klaren darüber sein können, wofür ihre Daten und Bioproben genutzt werden. Es handelt sich also um eine Art Vorratsdatenspeicherung, da ein Datenbestand für eine sehr breite Palette künftiger Forschungsvorhaben angelegt wird. Daß dies im Sinne des Datenschutzes einem Dammbruch gleichkommt, der anwachsende Kritik auf den Plan rufen könnte, mag dazu beigetragen haben, die anstößige "nationale Kohorte" unter der Camouflage "NAKO" verschwinden zu lassen.


Susanna Wiegand, Annette Grüters-Kieslich, Tobias Pischon - Foto: © 2019 by Schattenblick

Auf dem Podium im Einstein-Saal
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnote:


[1] www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0037.html

Im Schattenblick zu der Veranstaltung "Maß und Messen" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschienen:

BERICHT/045: Maßgeblich - Wechsel und Wandel ... (SB)
BERICHT/046: Maßgeblich - Entsprechungen, Wellen, Tiefengrade ...(SB)
INTERVIEW/038: Maßgeblich - Handelsgenauigkeit ...    Prof. Dr. Klaus von Klitzing im Gespräch (SB)
INTERVIEW/039: Maßgeblich - Überlagerungsphänomene ...    Prof. Dr. Wolfgang Ketterle im Gespräch (SB)
INTERVIEW/040: Maßgeblich - Gültigkeit und Akzeptanz ...    Prof. Dr. Volker Gerhardt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/041: Maßgeblich - Parteilichkeit par excellence ...    Stefan Selke im Gespräch (SB)


17. April 2019


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