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INTERVIEW/032: Griechischer Wein - Kritik- und Aufklärungmultiplikator offenes Labor ...    Athena Athanasiou im Gespräch (SB)


"This is not Europe"

Themenspecial "This is not Greece" auf Kampnagel in Hamburg am 8. August 2015


Die Sozial- und Politikwissenschaftlerin Athena Athanasiou lehrt an der Panteion Universität für Sozial- und Politikwissenschaften in Athen. In ihrem Vortrag "Die Macht der Enteigneten", dem ein auch in Buchform veröffentlichtes Gespräch mit Judith Butler um politischen Widerstand unter der Bedingung entrechteter und prekärer Existenz zugrundeliegt, ging sie aus aktuellem Anlaß auf die Kontroverse um das Nein der griechischen Bevölkerung und die dennoch erfolgte Zustimmung zu einem dritten Memorandum ein. Da sich die Dinge in Griechenland seit dem Zeitpunkt, an dem Athena Athanasiou ihren Beitrag zur Konferenz "This is not Greece" beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel präsentierte, in großer Geschwindigkeit weiterentwickelt haben, ist nicht zu vergessen, daß ihre Kritik den zeitlichen Kontext reflektiert, in dem sie geübt wurde.


Beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Athena Athanasiou
Foto: © 2015 by Schattenblick

Es ging der Referentin nicht darum, im Titel der Veranstaltung anklingende Fehlwahrnehmungen zu korrigieren. Sie betonte vielmehr die Notwendigkeit, die im voraus gesetzten Normen der Erkenntnis zu hinterfragen und die in "This is not Greece" steckende Frage, was Griechenland allen eventuellen Klischees gegenüber wirklich sei, zu vermeiden, um nicht auf selbstaffirmative und nationalistische Identifikationen zu verfallen, die gerade in Zeiten der Krise im Schwange sind.

Die für Athanasiou zentralen Fragen der Performanz und Repräsentation betreffen im Fall Griechenlands die Art und Weise, wie bestimmte Diskurse und Bedürfnisse, politische Affekte und Subjekte produziert werden. Die scheinbare Sichtbarkeit politischer Repräsentation führt gleichzeitig dazu, daß das politische Subjekt auf eine fremdbestimmte Weise konstituiert wird, die es außerhalb seiner selbst setzen und seine Handlungsfähigkeit dementsprechend einschränken.

Für die Referentin stellt sich die praktische Frage, wie die Menschen in Zeiten der Machtlosigkeit zu ermächtigen seien, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu bekommen. Wird die Krise als autoritäres Mittel von Gouvernementalität eingesetzt, dann droht die Frage nach der Zugehörigkeit zur Polis auf ausschließende Weise beantwortet zu werden. Wo Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit vorherrschen, etabliert sich eine von rassistischen Stereotypien bestimmte Normalität, die zum Beispiel Griechen als faule Sozialbetrüger, die auf Kosten der hart arbeitenden Menschen in Europa lebten, ja als Welfare Queens des neoliberalen Europa stigmatisiert.

Um so dringender erforderlich sei die Dekonstruktion dieser Repräsentationen im Sinne einer kritischen Epistemologie der Krise, deren diskursives Regime fortwährend zu denationalisieren und repolitisieren sei. Athena Athanasiou spricht sich dafür aus, ein offenes Labor für politische Imagination und kritischen Utopianismus zu schaffen, um die autoritäre Doktrin, daß neoliberale Austerität die einzige Möglichkeit sei, aus den Angeln zu heben.

Fünf Jahre lang hätten Griechen und andere Südeuropäer zur Rechtfertigung der zwingenden Ökonomisierung beigetragen, indem sie nicht nur Austerität, sondern auch die Enteignung öffentlicher Räume, die Aberkennung sozialer Rechte und die Entwertung der Grundlagen der Demokratie hinnahmen. Die Syriza-Regierung habe hier das Moment des Dissenses eingebracht, dem die EU am 13. Juli durch die Erzwingung des dritten Memorandums massiv entgegengetreten sei. Seit Griechenland vor die Wahl gestellt wurde, sich aus der Eurozone zu entfernen oder einer strafenden Austerität zuzustimmen, ist die EU für die Referentin ein anderer Ort geworden. Er sei bestimmt davon, daß die liberale Demokratie zugunsten eines neoliberalen Autoritarismus aufgegeben wurde, wogegen sich vitaler Protest und scharfer Dissens richte.

Um den sozialen Widerstand gegen die Enteignung all dessen zu stärken, was Menschen frei und handlungsfähig macht, gelte es, den Schmerz der Verletzung anzuerkennen, den diese Niederlage bei vielen Menschen in der Linken verursacht hat. Zugleich sollte die Dialektik dieser Niederlage in Anspruch genommen werden, um ihr politisches Potential zu mobilisieren. Für die Referentin war Syriza selbst in dieser Niederlage erfolgreich, indem die Partei einen Riß in der europäischen Struktur provoziert und den Primat der Ökonomie über die Politik aufgedeckt habe. Syriza habe erreicht, daß die Menschen in Europa sich nun eine andere demokratische Konfiguration von Politik in Europa vorstellen könnten, was zuvor in gewisser Weise unmöglich gewesen sei. Syriza habe die Schuldenfrage politisiert, staatliche Politik delegitimiert und die Normativität der EU als postdemokratisches neoliberales Projekt in Frage gestellt. Die vielleicht größte Errungenschaft ihrer kurzen Regierungszeit sei, daß die Menschen erkannt hätten, sich dieses Europa nicht länger wünschen zu können, und ihm ein resolutes "This is not Europe" entgegenhalten.

Natürlich lande man auch damit in der Falle der Repräsentation, impliziert diese Parole doch, daß ein anderes, nicht koloniales, nicht imperiales, nicht kapitalistisches und nicht neoliberalen Genealogien verpflichtetes Europa möglich wäre, merkte Athena Athanasiou selbstironisch an. Sie glaube jedoch nicht, daß das die zentrale Frage sei. Vielmehr gehe es darum auszuloten, in welchem Ausmaß politische Veränderung möglich wäre, so daß die Herausforderung für die Linke darin bestehe zu verteidigen, was bislang noch nicht erreicht wurde. Um "This is not Europe" politisch in die Performativität transnationaler kritischer Aktivität zu übersetzen, seien zum Beispiel kollektive Projekte kritischen Engagements erforderlich, die auf internationaler Solidarität unter der europäischen Linken und den sozialen Bewegungen basieren.

Für die Referentin sind kollektive Intellektualität, Resilienz und Aktion erforderlich, um der überwältigenden Komplexität des Kampfes für Demokratie und soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen neoliberaler Hegemonie entsprechen zu können. Die größte Herausforderung, mit der die europäische Linke konfrontiert sei, bestehe darin, den utopischen Horizont wieder zu öffnen und in Gebrauch zu nehmen. Um den Demos als pluralen, grundlosen, provisorischen und unabgeschlossenen performativen Akt des Bewohnens der Polis zu nutzen, brauche man einen Entwurf des Menschen, die sich radikal von den rassistischen und neofaschistischen Konfigurationen der Bevölkerung als geschlossene, feste, homogene und ethnisch reine Einheit unterscheide.

Wie also mit der Logik und Logistik der gegenwärtigen Ordnung der Dinge brechen? Athena Athanasiou beantwortete die von ihr aufgeworfene Frage mit dem Verweis darauf, daß Ohnmacht der quintessentielle Moment sei, sie durch die Macht des Demos, der Bewegung und der Menschen zu überwinden. Im Anschluß an ihren Vortrag hatte der Schattenblick Gelegenheit, der Referentin einige Fragen zum weiteren Verständnis ihrer Positionen zu stellen.


Referentin vor einer Projektion '#ThisIsACoup' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Kontroverse Debatte um das Manövrieren der griechischen Regierung
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Athanasiou, wie ist Ihre Aussage, die Niederlage anzuerkennen, ohne sich ihr zu überantworten, zu verstehen?

Athena Athanasiou (AA): Ich meine damit, daß wir als Linke die Niederlage anerkennen sollten, allerdings nicht auf eine Weise, in der wir uns als besiegt verstehen. Wir müssen den historischen Moment erkennen und fähig sein, die Niederlage zu reflektieren und zu verstehen, warum sie erfolgte und welches Kräfteverhältnis zu diesem historischen Moment geführt hat. Zugleich sollten wir nicht zulassen, daß uns dies schwächt, sondern die Niederlage mit der Perspektive versehen, zu was wir durch sie befähigt werden.

Für mich ist dieses Gefühl von Machtlosigkeit eine Waffe der Schwachen. Es ist immer eine Waffe derjenigen gewesen, die in politisch und sozial subalterne Positionen gedrängt wurden. Denkt man an die Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus, dann ist das keine neue Einsicht. Als Strategie und Waffe der Schwachen war dies seit jeher präsent. Betrachtet man das herrschende Kräfteverhältnis, dann hat die griechische Regierung die Position der Schwachen in diesem Kampf besetzt. Mir ist wichtig, dies anzuerkennen und von dort aus weiterzugehen. Das habe ich mit Dialektik der Niederlage gemeint.

SB: Haben Sie den Eindruck, daß die Menschen selbst in der Linken mehr Wert auf Erfolg legen, als sich mit dem Problem der Machtlosigkeit auseinandersetzen?

AA: Eben deshalb versuche ich, dieses Argument zu entwickeln. Hier gibt es eine problematische Ambivalenz. Auf der einen Seite gibt es die Tendenz, die griechische Regierung mit Vorwürfen zu attackieren und sie mit dem ganzen Vokabular, das sich um Niederlage, Kapitulation und Verrat dreht, zu belegen. Meiner Ansicht nach ist das Teil eines teleologischen Geschichtsverständnisses. Nimmt man etwa die Geschichtsauffassung eines Walter Benjamin, dann hat man eine ganz andere Perspektive, in der man die Niederlage nicht als Ende der Geschichte verstehen muß, wie es Walter Benjamin mit seinem Wort von der "Dialektik des Stillstandes" getan hat. Wir müssen darüber nachdenken, was in diesem Moment geschah, wir müssen es jedoch auf eine Weise tun, die das Augenblickliche des Geschehens nicht vergißt.

Auf den politischen Begriff gebracht müssen wir erkennen, was wir durch diese Niederlage gewonnen haben. Die Menschen können etwas dadurch gewinnen, wie allein die Politisierung der Schuldenfrage zeigt. Die Niederlage Griechenlands hat all die Wellen der Solidarität ausgelöst. Allein der Diskurs, der über die neoliberale Orthodoxie in der Europäischen Union, wie von Schäuble und seinen Kollegen repräsentiert, geführt wird, ist ein Ergebnis dieser "Niederlage". Für mich ist diese Niederlage lediglich ein Moment in einem viel längeren Verlauf kleiner Siege, Angriffe und Rückzüge. Es ist ein fortlaufender Kampf und kann es angesichts der Vorherrschaft dieser Macht auch nicht anders sein.

Was ich an der internationalen Solidaritätsbewegung für sehr problematisch halte, ist die Leichtfertigkeit, mit der die Menschen Kritik an Syriza üben, indem sie behaupten, Syriza habe das Volk und Linke in aller Welt verraten. Nein, das ist nicht der Fall. Wie ich zuvor gesagt habe, ist Syriza nicht in der Lage, dies allein zu tun. Die Entwicklung ist zu überwältigend für eine kleine Sammlungsbewegung, die Syriza im Kern ausmacht. Natürlich wurde aus dieser Vereinigung verschiedener sozialer Bewegungen eine Regierungspartei, was die schwierige Frage aufwirft, wie sich Regierung und Bewegung miteinander vereinbaren lassen.

Die Menschen haben die Neigung, allzu bereitwillig über Verrat und Kapitulation zu sprechen. So wurde die griechische Linke im Ausland als Heldin des europäischen Kampfes gegen den Neoliberalismus gefeiert, was schön ist. Aber ist es nicht ein wenig unfair, die griechische Linke in Märtyrer dieses Kampfes zu verwandeln? Als Revolutionär sollte man in der Lage sein zu überleben. Dies fehlt mir manchmal in den großen Narrativen der Linken.

SB: Solidarität hat ihre eigene Dialektik, denn sie wird eingefordert, weil sie nicht gewährt wird. Wenn man eine linke Position bezieht, sollte Solidarität in einem fundamentalen Sinne eigentlich selbstverständlich sein.

AA: Das stimmt. Natürlich wissen wir, daß es bei Solidarität nicht ums Helfen geht oder eine philantropische Handreichung. Es geht um das Kämpfen im eigenen Kontext, wie auch immer der beschaffen ist, im Rahmen eines Netzwerkes breiter transnationaler Bündnisse. Ich denke, wir sollten etwas zurückhaltender sein, wenn es um das Formulieren wohlfeiler Kritik an der griechischen Linken geht. Ich finde das auch im Kontext solidarischer Politik sehr verstörend.

SB: Was meinen Sie mit der Forderung, das Nationale auf nicht nationalistische Weise zu beanspruchen?

AA: Mir geht es um die Art und Weise, wie wir auf dem politischen Feld die Grenzen der Staatsbürgerschaft markieren, wenn die Teilung zwischen Bürgern und Nichtbürgern wie Migrantinnen vollzogen wird. Nationen sind nichts als imaginäre Gemeinschaften und fiktive politische Konstrukte. Es gibt jedoch einen Punkt, an dem man den Gebrauch der politischen Kategorie der Nation nicht vermeiden kann, so im Kontext dessen, daß eine ganze Nation als überschuldet dämonisiert und stigmatisiert wird. In dieser Hinsicht hat man keine Wahl. Man muß dieses Konzept in gewisser Weise zurückerobern, um es für neue Möglichkeiten der Kritik zu öffnen. Das meinte ich mit der Aussage, die Nation zurückzufordern, aber auf eine nicht nationalistische Weise. Dabei geht es auch darum, den Gebrauch dieses Begriffs durch den Gegner zu entlarven und diejenige Seite des Kampfes und Streites zu besetzen, auf der er aktiv ist. Man ist auf gewisse Weise dazu genötigt, die gleichen Waffen zu verwenden, die der Gegner benutzt.

SB: Halten Sie den beklagenswerten Umgang des Menschen mit den Tieren wie der Natur für eine relevante Frage, mit der sich auch die linke Bewegung befassen sollte?

AA: Ich bin froh, daß Sie diese Frage gestellt haben, denn darüber wird viel zu wenig geredet, und das ist ein großer Verlust. Politische Ökologie ist eine sehr fundamentale Angelegenheit für die Linke. Ich war so abgestoßen davon, daß die Grünen in der Bundesrepublik die Kampagne für das Ja bei der Abstimmung zu einem weiteren Memorandum unterstützten. Allein die Idee, daß eine deutsche Partei eine Kampagne betreibt, mit der das Ja in einem Referendum unterstützt wird, das in einem anderen Land stattfindet, hat mich sehr irritiert.

Doch zurück zur Frage der Animalität. Ich halte es für sehr wichtig, weil es eine wichtige Möglichkeit und Gelegenheit ist, unsere anthropomorphen und anthropozentrischen Einstellungen zu überdenken. Wenn wir über Macht, die Stärkung der Sensibilität, das Teilen des Öffentlichen und Relationalität sprechen, ist die gegenwärtige Situation eine sehr willkommene Gelegenheit, Anthropozentrismus und Anthropomorphismus neu zu denken und neue Wege der Relationalität zu finden. Wir sollten uns diesen Fragen durch ein Konzept der Prekarität und Vulnerabilität nähern, das nicht als anthropozentrische Idee verstanden werden sollte, sondern als Möglichkeit, diese humanistische Voreingenommenheit zu dekonstruieren. Für mich ist dieser Ansatz sehr eng damit verknüpft, wie wir politische Subjektivität konzeptualisieren, denn die zentrale Ebene, auf der wir die Idee der Subjektivität betrachtet haben, ist vollkommen humanistisch und anthropozentrisch.

Natürlich impliziert die anthropozentrische Sichtweise verschiedene Ausschließungen, so die Ausschließung nichtmenschlicher Tiere, Ausländer, Fremder, Noncitizens. Natürlich bauen diese Ausschließungen wieder auf anderen Exklusionen wie Gender, Sexualität, Migration, Staatsbürgerschaft auf. Aber Animalität versus Humanität ist ein weiterer Aspekt, den wir sehr ernsthaft in Erwägung ziehen sollten, wenn wir versuchen, eine Theorie der Subjektivität zu formulieren. Und es wäre großartig, wenn wir eine neue Vorstellung von Subjektivität entwickeln könnten, die Animalität in einem weiten Sinne einschließen würde.

SB: Frau Athanasiou, vielen Dank für das Gespräch.


Projektion eines Zitates von Jacques Derrida aus Specters of Marx - Foto: © 2015 by Schattenblick

Den utopischen Horizont öffnen und in Gebrauch nehmen ...
Foto: 2015 by Schattenblick


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19. September 2015


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