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INTERVIEW/041: Maßgeblich - Parteilichkeit par excellence ...    Stefan Selke im Gespräch (SB)



Interview am 19. Januar 2019 in Berlin

"Vermessen" nicht nur im Sinne einer technischen Fehlleistung, sondern auch des Bruches mit Erwartungen, die üblicherweise an die Wissenschaften gestellt werden, war Thema einer der vielen Podiumsdiskussionen, die im Rahmen des Salons Sophie Charlotte zum Generalthema "Maß und Messen" am 19. Januar im Haus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften abgehalten wurden. Zu den zahlreichen WissenschaftlerInnen, die anläßlich dessen zum Gendarmenmarkt mitten im Zentrum der Hauptstadt gekommen waren, gehörte auch der Soziologe Prof. Dr. Stefan Selke von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Furtwangen. Im freundlichen Disput mit der Politökonomin Prof. Dr. Waltraud Schelkle von der London School of Economics legte der Professor für das Lehrgebiet Soziologie und gesellschaftlicher Wandel, der zudem eine Forschungsprofessur für transformative und öffentliche Wissenschaft innehat, dar, wie die Fragestellungen und Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung mit öffentlich geführten Debatten und Diskursen interagieren können.

Tief beeindruckt habe ihn die Aussage des argentinischen Schriftstellers Martín Caparrós, der einmal über Wissenschaftler, die Hunger im globalen Maßstab untersuchen, schrieb: Sie mögen redliche Motive haben, aber am Ende verwandeln sie doch das Leid von Millionen von Menschen nur in Texte. Damit werden wir unserer Rolle als Wissenschaftler nicht gerecht, meint Selke, der neben abstrakten Zahlen und Fakten eine Form finden will, mit der sich auch außerhalb des disziplinären Bunkers etwas erreichen und verändern lasse. Im Gegensatz zu Waltraud Schelkle, für die persönliche Motive in der Forschung eher keine Rolle spielen sollten, geht es Stefan Selke darum, nicht so zu tun, als könnten wir die Persönlichkeit in einen privaten und einen wissenschaftlichen Bereich aufspalten.


Folie mit Veranstaltungsankündigung - Foto: © 2019 by Schattenblick

Podiumsdiskussion im Salon Sophie Charlotte 2019
Foto: © 2019 by Schattenblick

Als Wissenschaftler seinen Standpunkt in der Welt zu kennen und sich nicht hinter einer Maske vermeintlicher Neutralität und Objektivität verstecken zu müssen, setze eine Haltung voraus, die er unter anderem mit dem Begriff der Wut, verstanden nicht als Emotion, sondern Differenzkriterium, näher bestimmt. Eine Haltung auf der Basis von Forschung, von Argumenten, von ethischer Redlichkeit zu entwickeln, stehe einer Entwicklung an den Universitäten und Hochschulen gegenüber, die diese eher als Abklingbecken für Kreativität erscheinen lasse. Dort werde nicht gelehrt, wie man das Wissen und die Kompetenzen, die im Laufe eines Gelehrtenlebens angehäuft werden, auf der Straße und in öffentlichen Diskursen zu Gehör bringt.

Ein Problem der Zeit bestehe darin, daß Lösungen häufig außerhalb des Kompetenzbereiches einzelner Personen liegen. Er sei bereit, anderen diese Kompetenzen zuzugestehen, denn dann könne eine Art Funkenflug entstehen. Hingegen nur der Ökonomie oder nur der Soziologie zuzuhören laufe Gefahr, anstelle eines Funkenfluges Besserwisserei zu erzeugen. Tatsächlich gebe es gar nicht so viele unterschiedliche Standpunkte und Haltungen, dennoch gelte es, diese mit den Mitteln der Wissenschaft kenntlich zu machen, so Selke. Die Ausbildung einer Haltung im Rahmen dessen, was er öffentliche Soziologie oder öffentliche Wissenschaft nennt, finde mithin in drei Dimensionen statt.

Zum einen setze dies eine authentische Persönlichkeit und authentische Motive voraus, anstatt die Forschungsarbeit mit "um zu"-Motiven zu begründen. Zum andern hätten Wissenschaftler die Aufgabe, das an ganz unterschiedlichen Orten produzierte und zusammengefügte Wissen kommunikativ und ästhetisch anschlußfähig für die Öffentlichkeit zu machen. Zum dritten sei das im Kontext eines progressiven Wissenschaftsnarratives zu vollziehen, in dem davon ausgegangen wird, daß viele Probleme und Zukunftsfragen mit Werten verbunden sind. In diesem Spannungsfeld von authentischen Motiven, kultureller Positionierung und einem Wissenschaftsverständnis, das auch elastischeren Wegen folgen kann, anstatt vor allem auf die Evaluation und Meßbarkeit akademischen Outputs abzuheben, entstehe das, was er Haltung nennt.

So widersprach er auch der These seiner Gesprächspartnerin, daß sich das, was früher als Gesellschaftsanalyse oder Kritische Theorie Furore machte, heute zu einer Art allgemeinem Zwang zu kritischer Kommentierung von allem und jedem verselbständigt habe. Selke hatte bei einem seiner ersten Projekte im Bereich der Armutsforschung zur sozialpolitischen Bedeutung der Tafeln mit einer Kollegin zusammengearbeitet, die angesichts der Ausweitung der wissenschaftlichen Arbeit auf konkrete Bündnisse mit Armutsbetroffenen und gemeinsame Proteste Reputationsverluste befürchtete. Das veranlaßte sie, bis hin zur Schwärzung ihres Namens mit aller Konsequenz aus dem Projekt auszusteigen. Das sei nicht das erste Mal gewesen, daß er bei diesem Thema erlebt habe, wie groß die Scheu sein kann, sich kritisch zu äußern. Er sei seit 15 Jahren in der Armutsforschung aktiv und kenne das Problem, sich als Kritiker mit seiner Haltung angreifbar zu machen, aus eigener Erfahrung.

Nach der einstündigen Podiumsdiskussion hatte der Schattenblick Gelegenheit, Stefan Selke einige weiterführende Fragen zu stellen.


Im Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Stefan Selke
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Selke, wie kann es sein, daß Wissenschaftler in ihrer Profession Positionen vertreten können, die sie als Mensch zutiefst ablehnen?

Stefan Selke: Erich Fromm hat zwischen Haben- und Seinsmodus unterschieden. Das ist nichts Neues. Wissenschaftler sind durchaus fähig, sich so abzuspalten. C. Wright Mills, den ich vorhin zitiert habe, hat das wunderbar für die Soziologen in den 1960er Jahren auf den Punkt gebracht, als er Forschungstechniker als lächelnde Roboter, als cheerful robots bezeichnete. Sie können sich in den Empirismus, den Methodenfetischismus stürzen, haben ihre Karriere fest im Blick, aber interessieren sich nicht wirklich für die Folgen. Für mich geht es ganz stark um das Thema, Verantwortung zu übernehmen für das, was man tut. Worauf ich eigentlich hinweisen möchte, ist im Kern ganz banal. An Unis und Hochschulen lernen Studierende unglaublich viel Fachwissen, eine Art Kanon, der aufeinander aufbaut. Aber sie beschäftigen sich nie mit Fragen, die sie selbst betreffen, der Klärung von Prinzipien, was die Jesuiten Cura Personalis genannt haben, daß die gesamte Person im Dialog zwischen den Lehrenden und den Lernenden wirklich bearbeitet wird, um die Menschen für weltverändernde Tätigkeiten vorzubereiten. Dazu gehören nicht nur wissenschaftliche Kompetenzen, dazu gehört auch Ethik. Darauf möchte ich aufmerksam machen. Anders gesagt, ich glaube, daß die Werte, die wir brauchen, um zukünftige Probleme zu lösen, nicht über das Bildungssystem vermittelt werden. So stellt sich diese Fokussierung auf den Zitierindex oder das sehr Stromlinienförmige ein, was Adorno schon 1969 kritisiert hat.

Mir tun die Menschen fast schon ein bißchen leid. Ich sehe das auch an meiner eigenen Hochschule, wo Leute, die gerade im technischen Bereich Industrieaufträge bekommen, sich abspalten, die privat Öko, nachhaltig oder in der Friedensbewegung sind, aber beruflich mit Firmen zusammenarbeiten, bei denen man eigentlich nicht wissen möchte, wofür sie genau stehen. Das finde ich wirklich problematisch. Ich persönlich kann das weder biografisch noch sonstwie anders sehen. Ich möchte eigentlich zu einer Einheit von Wissensform und Lebensform gelangen. Das habe ich übrigens von einem Mönch gelernt, als ich eine Zeitlang im Kloster gelebt habe, was mich unglaublich beeinflußt hat. Da kann man sich natürlich nur näherungsweise herantasten. Das darf man auch nicht trivialisieren. Man muß nicht arm sein, um zur Armut zu forschen. Es darf nicht sein, daß man seine Persönlichkeit praktisch abgibt, wenn man sein Labor betritt oder so etwas. Dafür sind die Probleme, die wir auf der Welt haben, eigentlich viel zu wichtig und zu dramatisch.

Ich habe schon vorhin gesagt, daß das größte Problem darin besteht, daß das Lösungswissen oft außerhalb des eigenen Kompetenzbereichs liegt. In meinem Leben habe ich des öfteren sehr gebildete Menschen kennengelernt, die die Grenzen ihrer Kompetenzen nicht erkennen, also geradezu einer Déformation professionnelle ausgesetzt sind. Wenn man aber Werte hat oder die eigene Persönlichkeit mit ins Spiel kommt, dann fällt es vielleicht leichter, diese Grenze anzuerkennen. Demut ist ein anderer Begriff dafür. Ich habe zum Glück einige Menschen kennengelernt, die hochgebildet, aber gleichzeitig unglaublich demütig waren und sinngemäß gesagt haben, mach' du das mal, du kennst dich da besser aus. Das brauchen wir viel mehr, als dieses Beharren darauf, das ist mein Team, meine Forschergruppe, meine Uni usw. Das ist Wissen im Habenmodus, wie Fromm das genannt hat, Wissen als Ware, die man natürlich aufzuwerten versucht, um sie besser verkaufen zu können. Wir brauchen Wissen im Seinsmodus, das hat mit unserer Standortgebundenheit zu tun, die wir in dieser Welt haben. Dessen muß ich mir erst einmal bewußt werden, und das ist etwas, das im Hochschul- oder Schulsystem viel mehr im Mittelpunkt stehen und gelehrt werden sollte als das bloße Fachwissen.

SB: Eine Zuhörerin hat zu bedenken gegeben, daß die persönliche Haltung, von der Sie gesprochen haben, die Ergebnisse der Forschung beeinflußen könnte. Wenn Wissenschaftler stark von ihrer beruflichen Position abhängig und damit nicht frei von gesellschaftlichen Zwängen sind, könnte dies ebenfalls der Fall sein. Wie groß ist Ihrer Ansicht nach die Gefahr, daß Forschungsergebnisse durch die Subjektivität sozialer und institutioneller Verpflichtungen beeinträchtigt werden?

Stefan Selke: In der Ethik spricht man von Handeln und Unterlassen. Das Unterlassen kann ja genauso folgenreich sein wie das Handeln. Ich glaube, wir sollten einfach etwas entspannter sein, nicht fahrlässig, aber lässiger sein. In solchen Diskussionen erlebe ich nicht zum ersten Mal, daß sich die Leute, die sich als professioneller Kern der Wissenschaft verstehen, immer ganz schnell auf Reinheitspostulate zurückziehen. Die neueren Diskurse in der Wissenschaftswelt, wo das Ende des Reinheitsgebotes wirklich proklamiert und postdisziplinären Perspektiven Raum gegeben wird, möchte ich anhand einer Geschichte verdeutlichen. Ich war einmal in einem Kirchengebäude, um einen Vortrag zu halten. Eine Wand bot Platz für eine Beamerpräsentation, aber dort hing ein großes Jesuskreuz. Alle standen herum und fragten sich, was sie tun sollten, bis der Pfarrer kam und den Jesus abhängte. Nachdem er ihn auf ein Klavier gelegt hatte, sagte er: Der hält das für zwei Stunden aus. Wir brauchen kein Reinheitsgebot und auch keinen übetriebenen Ethos. Wenn man gläubig ist, dann hält der Jesus es auch aus, wenn er in der Ecke liegt.

Wenn wir Soziologen ständig sagen, ich bin Soziologe, dann ist mir das fast schon peinlich. Ich habe einen soziologischen Hintergrund, und den versuche ich auch einzubringen, aber wir müssen postdisziplinär miteinander zusammenarbeiten und nicht immer die distinktive Besonderheit als Ökonom, als Soziologe oder Naturwissenschaftler in den Vordergrund stellen. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich begriffen habe, daß es auch einen Mittelweg gibt. Diesen hat John O'Neill bereits in den 1970er Jahren in dem ganz abgelegenen Buch "Wilde Soziologie" beschrieben. Er nennt es dort "circumstantial love", also sinngemäß vielleicht die Liebe für die Umwelt oder Umgebung. Damit meint er, wir sollen nicht den wissenschaftlichen Blick aufgeben und jetzt nur noch emotional sein, das predige ich auch nicht, aber wir müssen den wissenschaftlichen Blick nachschalten. Nachschalten hinter was? Hinter den humanistischen Blick. Wir müssen erstmal einen humanistischen Blick haben. Das meine ich mit Hermeneutik des Hungers, mit Wut, mit Anteilnahme usw. Und dann wird der wissenschaftliche Blick nachgeschaltet. Ich glaube, das ist der Kompromiß zwischen diesem Reinheitsgebot, Neutralität, Objektivität. Der pure wissenschaftliche Blick, und das andere gerät sofort in Aktivistenverdacht usw. Nein, der Mittelweg heißt, ich schalte den humanistischen Blick vor, das ist der Filter, und dann kommt der wissenschaftliche Blick. Für mich ist das so ein Bild, mit dem ich versuche zu arbeiten.

SB: Wir befinden uns auf einer Veranstaltung zum Thema "Maß und Messen". Welche Maßstäbe sind in der Soziologie neben der statistischen Methode von Bedeutung?

Stefan Selke: Die klassischen empirischen Maßstäbe sind Validität, Reliabilität und Objektivität. Messe ich, was gemessen werden soll, dann messe ich beim nächsten Mal auch, was ich vorher gemessen habe. Das ist das Objektive. Das sind klassische Gütekriterien. Wahrheitsbegriffe gibt es aber nur im Plural. Wenn man sich näher damit beschäftigt, dann gibt es nicht nur diesen mechanistischen Wahrheitsbegriff, sozusagen das, was ich nach Gütekriterien vermessen kann, das ist dann auch wahr. Ich nenne das erzählerische Wahrheit. Es gibt aber auch eine andere Form von Wahrheit. Gerade in meinem Forschungsfeld, wo es um Armut geht, tauchen auch andere Konzepte auf. Es geht immer um Lebenswelten, darum, wie die Leute sich selber und wie wir uns als Wissenschaftler sehen. Das sind Narrationen. Es gibt eine erzählerische Wahrheit jenseits von Fakten. Ich bin in meinem Beruf vielleicht ein Stück weit falsch, weil ich eher Schriftsteller bin, aber ich glaube an eine Kraft der Lebenserzählung und auch an die glättende Kraft von Erzählungen, die die Fähigkeit haben, ein bißchen die Ecken abzurunden, was die Biographie von Menschen angeht.

Ich habe mich mit zwei Themen beschäftigt, wo ich nie einen Zusammenhang gesehen habe: Armut und Digitalisierung. Es gibt aber einen großen Zusammenhang. Menschen, die in einer reichen Gesellschaft arm sind, müssen eine bestimmte Erzählung von sich hervorbringen, um ihre Würde zu schützen. Bei Big Data geht es auch um eine bestimmte Erzählung bzw. den Verlust einer Erzählung. Wenn wir immer mehr Daten über uns sammeln, verlieren wir eigentlich die Fähigkeit, uns erzählend zu entwerfen, weil wir uns eigentlich nur noch in Daten spiegeln. Wenn man genau hinschaut, geht es um Erzählungen, und wenn es im Grunde um Erzählungen geht, geht es auch immer um eine narrative Wahrheit. Wie aber bringe ich das Studierenden bei? Indem ich dafür plädiere, beim Wahrheitsbegriff gut aufzupassen. Es gibt nicht nur diese eine Wahrheit, dieses Monopolistische der Wissenschaft. Das war einmal, das wurde früher hochgehalten. Das sollte man nicht vergessen, aber wir müssen viel, viel, viel genauer hinschauen, wie viele Wahrheiten es eigentlich gibt, wer es verkündet und mit welchem Interesse.

SB: Herr Selke, vielen Dank für das Gespräch.


Porträtaufnahmen von der Podiumsdiskussion - Fotos: © 2019 by Schattenblick Porträtaufnahmen von der Podiumsdiskussion - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Stefan Selke und Waltraud Schelkle im abendlichen Disput
Fotos: © 2019 by Schattenblick


27. Februar 2019


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