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FRANZÖSISCH/013: Lektüre... Wie bewältige ich ein schwieriges Buch? - 1 (SB)


Wie bewältige ich ein schwieriges Buch?




Anne Delbée: "Une Femme", Presses de la Renaissance, 1982.

A la fin du siècle dernier, une jeune fille de dix-sept ans qui veut être sculpteur, c'est inconcevable, voire scandaleux. Or, Camille se lance dans l'aventure à corps perdu. Jusqu'au jour de 1883 où elle rencontre Auguste Rodin. Le Maître accepte de la prendre comme élève; bientôt il deviendra son amant. Suivent quinze années d'une liaison passionnée et orageuse d'où Camille sortira épuisée, vaincue...
(Aus dem Text des Buchrückens)

Wie lese ich ein Buch, das ich zwar gern lesen möchte, das mich aber vom Thema her vielleicht nicht gerade brennend interessiert, das eigentlich zu schwierig und auch nicht so spannend ist, daß es fesselt und so über die schwierigen Klippen hilft?

So zumindest habe ich das Buch "Une Femme" von Anne Delbée zunächst eingeschätzt. Ich wollte es gern lesen, war aber weiter nicht motiviert, und es wirkte zudem literarisch eher anspruchsvoll. Es fängt auch noch recht deprimierend mit einer Sterbeszene an. Die Heldin des Buches, die 30 Jahre unter erbärmlichen Verhältnissen in einem Irrenhaus zugebracht hat, stirbt einsam während der Kriegsjahre 1943.

Lentement elle se replie loin d'eux. Loin du monde. Loin des gifles. Elle s'échappe. Personne ne s'en aperçoit.

Elle retire sa menotte de leur grosses pattes. Ses deux belles mains battent leur dernière cadence sur le drap sale.

Personne n'est présent à cette heure où la femme meurt. [1]

Die Sterbeszene mischt sich mit Erinnerungsfetzen, die der Leser nicht gleich versteht, aber sie schaffen Atmosphäre. Mit diesem Stilmittel werden Elend und Traurigkeit des einsamen Todes hervorgehoben, gleichzeitig aber der Tod an sich verklärt.

Ce drap. Elle sent le drap rugueux sous les mains. Elle gratte, des heures...

Des heures de travail pour polir le marbre. Silence! Elle travaille! Les quatre petites vieilles là-bas qui jacassent et jacassent. Sous la mer. Toutes vertes. Camille entend leur gazouillis. Silence, les folles gagouilles! [2]

Erzählt wird das Leben von Camille Claudel, einer französischen Bildhauerin. Geboren am 8. Dezember 1864, erreicht sie, soweit es einer Frau zu jener Zeit überhaupt möglich ist, einen hohen Bekanntheitsgrad. Sie fängt schon als Kind mit dem Modellieren an und widmet ihr ganzes Leben dieser Kunst. Ihre Umgebung schenkt ihr nur geteiltes Verständnis, doch versteht sie es, ihren Kopf durchzusetzen. Der Vater verschafft ihr einen Tutor und setzt der Mutter gegenüber durch, daß sie sich ihrer Neigung widmen und wirklich Bildhauerin werden kann. Ihr jüngerer Bruder, Paul Claudel, später ein bekannter Dichter, begleitet sie auf Streifzügen in die nahe Umgebung auf der Suche nach brauchbarem Ton und ist auch in den weiteren Jahren oft an ihrer Seite.

Das Buch ist - für mich unerwarteter Weise - so geschrieben, daß man sich mehr und mehr mitten ins Geschehen begibt und zunehmend mit der Heldin lebt und fühlt. Und das macht dieses Buch trotz seines nicht gerade einfachen Wortschatzes und Inhalts doch recht flüssig zu lesen. Die Autorin beschreibt sie und die Menschen in ihrer Umgebung, die Schwierigkeiten und Konflikte sehr einfühlsam. Zunächst fand ich Camille Claudel ein wenig hochmütig und egozentrisch, stellte dann aber fest, daß dies eins ihrer Mittel ist, sich in einer Umgebung durchzusetzen, die sie auf ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Lebensweise festschreiben will. Sie läßt sich nicht fesseln, ist ein unbändiges Kind. Schon von Geburt an scheint die Mutter sie abzulehnen, weil sie nicht der ersehnte Ersatz für den verstorbenen erstgeborenen Sohn geworden ist. Der Vater hingegen ist überglücklich und schließt sie ins Herz. Trotzdem sieht es so aus als stehe er seiner Familie recht gleichgültig gegenüber und lebe sein eigenes Leben. Von seiner Frau Louise hat er sich schon früh entfremdet.

Als Camille 17 ist, verschafft der Vater ihr, ihrer Mutter, dem Bruder und der jüngeren Schwester um ihrer Bildhauerei willen eine Existenz in Paris. Er läßt sich in die Nähe versetzen und kommt zum Wochenende nach Hause. In Camilles Kontakten spielt er keine führende Rolle, obwohl sie sich ihm ihr ganzes Leben lang verbunden fühlt. Schon bevor sie Rodin kannte, meinte man, laut Roman, in ihrer Arbeit Ähnlichkeit mit der des berühmten Künstlers zu finden. In Paris lernt sie ihn, den bald bekanntesten französischen Bildhauer jener Zeit, durch ihren ersten Lehrer kennen. Sie arbeitet zunächst als Rodins Schülerin, tritt dann auf seine Bitte hin in sein Atelier ein. Sie hat, wie man sich denken kann, Mühe, sich aus seinem Schatten zu lösen. Denn natürlich sieht man sie vor allem als seine Schülerin, Protégé und Geliebte und unterstellt, Rodin habe an ihre Werke mit Hand angelegt. Daß sie als Frau für sich und an sich zu solchen künstlerischen Leistungen in der Lage ist, glauben nur wenige.

Nebenbei erfährt man natürlich auch einiges über die Zeit und das Leben der Künstler jener Zeit. Sie lernt Claude Debussy kennen, es ist die Rede von Rimbaud und Verlaine. Einerseits gefeiert, lebt Camille auf der anderen Seite in Armut als sie nicht mehr im Atelier Rodins arbeitet und muß einen Auftrag mit dem nächsten finanzieren. Das Geld für Material fehlt. Sie hungert, läuft im stets gleichen Kleid herum, kann ihre Miete oft nicht zahlen. Ihr Bruder und der Vater unterstützen sie zeitweilig und auch Rodin. Schließlich wird sie, die schon immer in den Augen ihrer Umgebung ein ungewöhnliches, eher anrüchiges Leben geführt hat, zu auffällig. Sie kommt in eine Anstalt und - anscheinend auf Betreiben der Mutter - verbringt sie dort 30 Jahre bis zu ihrem Tod, obwohl die Ärzte eine Entlassung befürworten. Sie wähnt sich verfolgt von Rodin: Er wolle ihr ans Leben. Ihre Arbeit habe man ihr gestohlen. Und wirklich hat wohl Rodin durchaus von der Verbindung profitiert und Ideen übernommen.


Nun zum eigentlichen Thema:

Auch wenn man sich vielleicht mit dem Inhalt des Buches und mit der Heldin anzufreunden vermag, ist es nicht wirklich einfach zu lesen. Das liegt nicht zwingend daran, daß es sich um Französisch handelt. Meist hat man in einer Fremdsprache mit den gleichen Büchern Schwierigkeiten wie im Deutschen, und es sind nicht die mangelnden Sprachkenntnisse, wenn man das Buch nicht versteht oder es einem überhaupt nichts sagen will.

Die Schwierigkeit ist also ein wenig grundsätzlicher als ein Vokabelproblem. Ich bin davon überzeugt, daß man zu jedem Buch oder Text einen Zugang finden kann, und dieser bietet den Schlüssel zum weiteren Lesen, nicht die detaillierte Sprachkenntnis. Ich will hier nicht mißverstanden werden: Natürlich sollte ein gewisser Kenntnisstand vorhanden sein, damit man nicht gleich, weil man kaum ein Wort versteht, entnervt das Handtuch wirft. Aber ich bin dafür, zu hoch zu greifen. Man muß nicht gleich verstehen, man muß nicht von dem Buch angetan sein. Das führt nur dazu, daß man sich immer nur mit den Dingen befaßt, die einem gleich entgegenkommen oder einleuchten. Und das ist - man verzeihe mir - in der Regel ein sehr enges Feld. Bücher und Texte, die sich widerborstig und schwierig zeigen, bleiben so verschlossen.

Mein Tip an dieser Stelle ist, einfach nicht aufzugeben. Man darf das Buch entsetzlich finden oder dumm oder zu abstrakt oder zu hochgestochen, was auch immer. Aber warum um alles in der Welt sollte das irgendeinen Einfluß darauf haben, ob ich es lesen kann oder nicht? Keine dieser Meinungen muß mir den Zugang versperren. Hier geht es letztendlich nicht darum, ein Buch zu beurteilen, der gefundenen Schwierigkeit noch eine Distanz hinzuzufügen, sondern darum, die Sprache zu lernen und ein sprachliches Verständnis für welchen Text auch immer zu entwickeln. Unter Umständen kann man kann ihn gerade aufgrund der Tatsache lesen, daß er Widerwillen erzeugt. Zumindest wäre dann interessant zu erfahren, worin dieser besteht. Und sogar wenn einem der Inhalt völlig gleichgültig ist, gibt es immer noch die Frage: warum denn gleichgültig? Und unter Umständen hilft diese Gleichgültigkeit sogar beim Lesen, weil man sich dann eher mit einem zunächst oberflächlichen Verständnis zufrieden zu geben vermag.

- Sollte man einfach gar nichts verstehen und auch keiner der obigen Hinweise weiterhelfen, nimmt man sich vielleicht erst noch einmal ein leichteres Buch und macht sich später wieder daran.

- Es ist selbstverständlich, daß einem weite Teile unter Umständen schleierhaft bleiben: einfach weiterlesen und sich um den Bruchteil kümmern, den man versteht. Einen gewissen Teil versteht man immer - und das ist zum Schluß mehr als man ahnt.

- Man zwinge sich nicht, das Buch unbedingt von vorn bis hinten diszipliniert durchzulesen. Es ist jederzeit möglich, davon wieder abzurücken. Ich würde durchaus auch Teile des Buches überspringen.

- Außerdem empfehle ich, sich nicht mit dem Nachschlagen von Vokabeln zu belasten, sondern vielmehr erst mit den eigenen Vorstellungen und Reaktionen auf das Buch zu beschäftigen und nachrangig mit einzelnen Wörtern. Die lernt man eher nebenbei über den Sinnzusammenhang und die jeweilige Tendenz des Buches. Liest man mehrere Bücher eines Autoren nacheinander, erschließt sich ein bestimmter Wortschatz und Stil, der mit dem nächsten Autoren wieder wechselt und so ein größeres Vokabular zur Verfügung stellt.

- Im weiteren Verlauf ist es durchaus hilfreich, auch einmal ein kleines Stück zu übersetzen.

- Eine gute Möglichkeit ist, hin und wieder auf französisch aufzuschreiben, was man meint verstanden zu haben und sich dann vielleicht auch noch die Mühe zu machen (wenn es niemanden gibt, der korrigieren könnte), mit Wörterbuch und Lesebuch auf Fehlersuche zu gehen.

Auf jeden Fall wird man feststellen, daß man mehr erfaßt, als vorher angenommen. Es gibt Parallelen zum Englischen, das passive Wortwissen ist wesentlich größer als das aktive. Zunächst reicht es also, sich einen Überblick zu verschaffen und im Groben zu verstehen. Bei Interesse kann man sich immer noch, mit Wörterbuch bewaffnet, an ein genaueres Verständnis wagen.

[1] zitiert aus: Anne Delbée: "Une Femme",
Presses de la Renaissance, 1982, S. 11/12
[2] ebd. S. 12


Erstveröffentlichung am 20. März 1995


21. Februar 2007