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LATEIN/002: Kurs für Neueinsteiger (1), Keine Angst vor Zombies (SB)


Latein ist tot - es lebe Latein!
Lustvolle Lektionen für Neueinsteiger


Teil 1: Keine Angst vor Zombies



Das sagen sie alle: "Latein ist eine tote Sprache." Und begründen damit ihre Verbannung ins finsterste Verließ, in dem bereits einige andere unbequeme Verbannte auf den Weg zum Schafott warten. Erst nach der Beerdigung können die vermeintlichen Bildungsleichen endgültig vergessen werden. "R.I.P." stünde dann vielleicht auf dem Grabstein. Rest in peace. Möge sie in Frieden ruhen. Oder aber es würden, um der alten Zeitgenossin die letzte Ehre zu erweisen, die Zeichen "R.I.P." in den Grabstein gemeißelt: requiescat in pace - wie dasselbe auf Lateinisch heißt. Dass sich die Abkürzungen nicht unterscheiden, wird hier eingewandt? Und auch die Worte recht ähnlich lauten? Nun ja. Das muss wohl Zufall sein.

An dieser Stelle könnte die Geschichte enden. Latein: begraben, vergessen. Aber die Geschichte soll hier natürlich nicht enden. Vielmehr markiert der Grabstein nur das Ende eines vorschnellen Urteils, das erst den Raum für eine neuerliche Annäherung schafft. Und: Kein Angst! Es geht nicht um die Wiedererweckung einer Toten. Latein wird nie mehr zur gesprochenen Weltsprache werden.

Heute gleicht Latein eher einer Untoten, einem Zombie, der durch unseren Alltag geistert, ohne dass wir es richtig wahrnehmen, der jedoch stets leichtes Unbehagen verursacht: Wörter, die wir lesen, schreiben oder sogar sprechen, ohne sie genau zu verstehen oder ihren Ursprung zu kennen. Und hier ist nicht von Fremdwörtern oder Anglizismen die Rede, sondern von ganz normalen, alltäglichen Begriffen. Einige davon sind so normal, dass wir sie beinahe für Deutsch halten: Serie, Sessel, stabil, Penatencreme, Pokal, Puls, studieren, dividieren, navigieren, Juli, August, September, Oktave - um nur einige zu nennen. Etwas komplizierter wird es an anderen Stellen: Auf der Fernbedienung oder dem CD-Spieler steht "eject". Wer ahnt, dass es die gleiche Grundbedeutung hat wie Ejakulation, nämlich zusammengesetzt ist aus e / ex = aus, heraus und iacere = werfen - wörtlich also herauswerfen bedeutet?

Was hat ein Traktor mit einem Kontrakt zu tun? Was genau meint Manufaktur? Was ist die Bedeutung von "Status Quo" - nicht musikalisch, sondern wörtlich? Warum enden die Wörter Gladiator, Terminator, Traktor, Amor, Victor, Doktor alle gleich?

Wer beispielsweise - ohne anderes als finanzielle Hürden zu befürchten - nach schönen, neuen Schwimmflossen sucht, kann auf folgendes Prachtstück stoßen: die "Finis Competitor Monoflosse, Apnoe". Abgesehen von den zwei Silben "Flosse" sind alle Wörter lateinischen bzw. griechischen Ursprungs. So kann es einem gehen.

Wir sind von Latein umgeben, ohne es zu merken. Dass die romanischen Sprachen, allen voran Italienisch, Französisch und Spanisch, lateinische Wurzeln haben, dürfte kaum verwunderlich sein angesichts der Ausdehnung, die das Imperium Romanum erreicht hatte. Dass auch Englisch über 30 Prozent seiner Vokabeln aus dem Lateinischen bezieht, sorgt dagegen immer wieder für Verblüffung. Gut zu hören ist es bei der Ausspracheweise englischer Wörter tatsächlich nicht. Im Geschriebenen wird die Nähe zum Lateinischen viel deutlicher.

Kursziel:
Nein, es geht nicht darum, Vokabelkenntnisse zu vermitteln, um diese dann auf die Tochtersprachen zu übertragen oder bei der Analyse von Fremdwörtern zu glänzen. Zweifellos stellt Latein dazu eine hervorragende Basis dar. Doch wenn es nur darum ginge, könnte man ebensogut Spanisch lernen. Das ist modern, schulfachtauglich und nützt obendrein beim nächsten Urlaub im schönen Mallorca. Latein als bloßes Mittel zum Zweck wäre ein Umweg. Dann wäre es schon ein besseres Argument, Latein zu lernen, um auf die eigene Sprache reflektieren zu können.

Die Wirklichkeit an den Schulen sieht zumeist so aus, dass nur im Fach Latein konsequenter Grammatikunterricht stattfindet. Kein anderer Fremdsprachenunterricht vermittelt nachweislich auch nur annähernd die gleichen Kenntnisse. Es ist nicht ungewöhnlich, dass lateinkundige Achtklässler in den selten stattfindenden Grammatikstunden den einen oder anderen Deutschreferendar aus dem Tritt bringen. Hier mutiert unser Zombie zu einem höchst aktiven Wesen. In den gesprochenen Sprachen ist die Grammatik eher ein lästiges Beiwerk, zwar irgendwie nötig, doch nur eingesetzt wie Stützräder beim Fahrradfahren - je früher man sie wieder los ist, umso besser. Demgegenüber ist die Grammatik beim Lateinlernen ein höchst nützliches Werkzeug. Stets einsatzbereit hilft sie, die schönsten Satzverschlingungen zu knacken und ihnen die Bedeutung zu entlocken. Die Kenntnisse gehen dabei so in Fleisch und Blut über wie dem Handwerker der Griff zum Schraubenzieher.

Trotz der genannten Vorteile, die sich dem Altsprachler bieten, ist Latein aber vor allem eines: unheimlich toll. Es kann richtig Spaß machen. Kein Sudoku-Spieler wird am Ende seiner Rätselei glücklicher aufseufzen, als ein Latein-Adept nach der Entzifferung eines Absatzes Kriegsprosa, eines catullschen Liebesgedichts oder einer Seite Harrius Potter. De gustibus non disputandum est: Über Geschmack soll man nicht streiten.

Zugegeben, das Lernen ist anders. Niemand in unserer Nähe spricht Latein, während wir vom Englischen theoretisch rund um die Uhr berieselt werden können. Aber Hand aufs Herz - ist es nicht eine famose Vorstellung, eine Sprache zu lernen, bei der man nicht unter dem Zwang steht, in ihr denken oder sogar träumen zu können? Es gibt nur leicht lesbare Wörter, die genauso ausgesprochen werden, wie sie da stehen. Keine Pflicht, einen aktiven Wortschatz aufzubauen und wieder mit "Ich heiße Sabine - wie heißt du?" anzufangen. Dadurch ist Latein nebenbei bemerkt besonders freundlich zu Menschen, die nicht gleich mit einer Plauderei aus sich herauskommen mögen. Wir überspringen ausnahmsweise den netten Schwatz mit dem Nachbarn und dringen statt dessen recht flott zum Nabel der Welt vor, sprich zu Caesar und seiner genialen Inszenierung der eigenen Herrschaftssicherung - fein säuberlich festgehalten in seinem Jahrhunderte überdauernden Bestseller über den gallischen Krieg.

Der Kurs setzt keine Kenntnisse voraus. Beim nächsten Mal werfen wir einen Blick auf verschiedene Wortarten, d.h. wir beginnen, das Handwerkszeug zu sichten. Und selbstverständlich fangen wir an zu übersetzen.


26. August 2010