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BERICHT/024: Bedrohte Bücher - Zeugnisschutzprogramm (epoc)


epoc 2/10
Geschichte · Archäologie · Kultur

Bedrohte Bücher
Zeugnisschutzprogramm

Von Claudia Mocek


Restauratoren versuchen historisch wertvolle Schriften vor dem Zerfall zu retten. Wie das am besten geht, darüber sind sie sich nicht immer einig.


In dem Buch, das bei minus 20 Grad Celsius im Auftrag des Landesdenkmalamts Stuttgart in einem Gefriermagazin lagert, hat seit Jahrhunderten niemand mehr gelesen. Keiner kennt seinen Inhalt. Nachdem es per Röntgencomputertomografie dreidimensional vermessen wurde, weiß man immerhin, dass es sich vermutlich um eine Handschrift auf Papier mit Holzdeckel, Ledereinband und zwei eingelassenen kurzen Buchschließen handelt. Auch Hinweise auf Buchmalereien sind im Scan zu erkennen. »Es muss keine Bibel sein, es könnte sich auch um ein liturgisches Textbuch handeln«, vermutet Ines Jesche.

Für ihre Diplomarbeit im Studiengang Konservierung und Restaurierung von Grafik-, Archiv- und Bibliotheksgut will die Studentin in den kommenden sechs Monaten herausfinden, wie alt die ungewöhnliche Grabbeigabe ist, die 2008 im Zisterzienserkloster Bebenhausen nahe Tübingen entdeckt wurde. »Ich freue mich auf die Herausforderung«, sagt die 28-Jährige. Eine verantwortungsvolle Aufgabe ist die Arbeit an dem empfindlichen Objekt allemal, denn ersten Schätzungen zufolge wurde das Buch im 16. oder 17. Jahrhundert angefertigt - sollte sich diese Annahme bestätigen, handelt es sich um eines der ältesten Bücher, das Archäologen in Deutschland jemals als Grabbeigabe entdeckten.

Ines Jesche gehört zu den 18 Studierenden an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, eine der wenigen Ausbildungsstätten für Restauratoren in Deutschland. Chemisches Labor, Restaurierungslaboratorium und dazugehöriger Nassraum sind in einer ehemaligen Textilfabrik ein paar Kilometer weiter in Fellbach untergebracht. »Vorsicht Objekt«, warnen gelbe Schilder auf lindgrüner Pappe. Unter den unscheinbaren Deckeln warten Aktenbüschel mit Tintenfraß, Bücher mit zerbrochenem Rücken und stockfleckige Grafiken auf ihre Behandlung. Die Studenten lernen zunächst die Grundtechniken der Restaurierung: die Trockenreinigung, das Schließen von Rissen und die Ergänzung von Stellen im Papier, um Lücken zu schließen.

Erst nach dem einführenden Jahr ihres dreijährigen Grundstudiums beschäftigen sie sich damit, welche Klebstoffsorten es gibt, wie man einen neuen Holzdeckel anfertigt und wie viel von dem papiererhaltenden Entsäuerungsmittel Magnesiumhydrogenkarbonat in die Wässerungsanlage kommt. Gegen Ende ihres Studiums können sie sich auf das Arbeiten mit Transparentpapieren, den Umgang mit der 35 Lichtbleichanlage oder seltene Bindetechniken wie etwa das joint tacketing spezialisieren, eine Anschnürtechnik loser Buchdeckel. »Ein Restaurator muss wissen, was für moderne technische Möglichkeiten sich heute bieten«, erklärt Studiengangsleiterin Professor Irene Brückle: »Aber auch alte handwerkliche Fähigkeiten dürfen nicht verloren gehen, da man die historischen Buchstrukturen erkennen und bewahren muss. Während des Studiums setzen sich die Studenten deshalb auch mit historischen Strukturen und alten Techniken auseinander.«

In rund 50 Arbeitsstunden hat Ines Jesche ein Kloster-Lagerbuch aus dem 16. Jahrhundert restauriert. Bei dem Buch, das die Besitzverhältnisse der Gemeinde dokumentiert, ergänzte sie unter anderem die gebrochenen Bünde mit neuen Fäden, die sie mit einer Rundnadel durch die einzelnen Papierlagen gezogen und auf der Außenseite des Deckels verklebt hat. »Um das Buch wieder benutzbar zu machen, musste ich die Bünde nicht vollständig erneuern«, erläutert die Studentin, die bereits Buchbinderin gelernt hat. Damit folgte sie dem restauratorischen Ideal des Minimaleingriffs.

Dieser Gedanke setzt voraus, dass ein Buch oder eine Handschrift für den Nutzer immer eine Funktion erfüllt - ein Archivbesucher soll zum Beispiel in dem Lagerbuch wieder blättern und lesen können. Eine Maßnahme ist dann angemessen, wenn das Buch diese Aufgabe wieder erfüllt - und nicht erst, wenn das Objekt perfekt wiederhergestellt ist und auch sämtliche Verzierungen erneuert wurden. Dies ist eine der zentralen Selbstverpflichtungen, die die European Confederation of Conservator-Restorers' Organisation (E.C.C.O.) 2003 in ihrem Code of Ethics verankert hat. »Nicht alles, was technisch geht, ist auch erwünscht«, umschreibt Irene Brückle das Prinzip, das dahintersteckt. Der Standeskodex betont die hohe gesellschaftliche Verantwortung der Restauratoren, die sich aus dem Schutz der Kulturgüter ergibt, und verpflichtet sie zu einem respektvollen Umgang mit den Objekten.

Diese Selbstbeschränkung hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet, als die akademische Ausbildung das Wissen auf eine naturwissenschaftliche Basis stellte und die Restauratoren nach und nach die Buchbinder ablösten. In Anlehnung an den österreichischen Kunsthistoriker Alois Riegl (1858-1905) habe dabei der historische Wert eines Objekts an Bedeutung gewonnen, der erhalten werden müsse, beschreibt Brückle. Die Richtlinien führen auch heute noch dazu, dass ganze Verfahren hinterfragt werden, wie das Beispiel der Bleichung belegt. Noch vor 20 Jahren gehörte es zum Standardprogramm, stockfleckiges Papier zu bleichen - auch wenn die Schrift noch sehr gut lesbar war. Heute wird ein solcher Eingriff nur nach einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten Begutachtung befürwortet.

Früher vertraten manche Restauratoren auch die Auffassung, dass sich ein Eingriff zu 100 Prozent rückgängig machen lassen müsse. Diese Forderung sieht Brückle als »quasi abgeschafft«, da sie sich als unhaltbar erwies, denn jeder materielle Eingriff bedeutet eine dauerhafte Veränderung. Heute soll ein restauratorischer Eingriff möglichst weit gehend rückführbar sein. Den ästhetischen Anspruch, die Behandlung müsse für jeden deutlich sichtbar sein, hält sie mittlerweile in vielen Fällen nur noch für eine Geschmacksfrage. Wenn ein ursprünglich weißer Ledereinband ersetzt werde, entscheide man im kulturellen Kontext und unter Einbeziehung der Kustoden, ob und wie weit das neue Material farblich angepasst werde. »Die Grenze ist da erreicht, wo technische Nachteile entstehen würden«, bringt sie diese Praxis auf den Punkt.

Brückle, die früher die Restaurierungsabteilung des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin geleitet hat, ist überzeugt: »Die Entwicklungen in der Restaurierung sind dynamisch. Abhängig von den sich ändernden Anforderungen, die die Nutzer an die jeweiligen Objekte stellen, werden alte Techniken häufig neu konfiguriert.« Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die Verwendung neuer Materialien - wie zum Beispiel Aerocotton. Das merzerisierte Baumwollgewebe, mit dem Segelflugzeuge bespannt werden, ist extrem biegsam und wird deshalb heute in der Buchrestaurierung hinter Buchrücken geklebt.

Katastrophen hingegen liefern vor allem Erkenntnisse für die Praxis der Massenrestaurierung: Als Wolkenbrüche über Florenz 1966 eine Flut auslösten, die die Stadt mit 50 Millionen Kubikmetern Wasser verwüstete und 121 Menschen tötete, drangen die Wellen des Arno auch in die Magazine der Nationalbibliothek ein. Später stellte sich heraus, dass die mittelalterlichen Kopertbände - ein einfacher Gebrauchseinband, bei dem die Papierlagen mit zwei Stichgruppen geheftet werden - die Überschwemmung am besten überstanden hatten.


ERSTVERSORGUNG IN KÖLN

Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009 beschädigte vor allem diejenigen Objekte nur leicht, die in historischen und für heutige Verhältnisse zu schweren und dicken Pappschachteln lagerten, berichtet Werkstattleiterin Andrea Pataki. Mit 13 Studenten war sie zur Erstversorgung vor Ort: Ausgerüstet mit Latexanzug, Handschuhen und Mundschutz befreiten sie die Bücher und Handschriften mit Bürsten grob vom Zementstaub und verstauten sie in Schutzverpackungen. Mittlerweile sollen rund 85 Prozent der Archivalien geborgen, aber damit noch keinesfalls gerettet sein, gab das Kölner Archiv bekannt.

Auch wenn die klassischen Arbeiten an mittelalterlichen Holzdeckelbänden, Inkunabeln (Frühdrucken, die vor 1500 entstanden sind) oder verzierten Handschriften spektakulär wirken - sie bilden mittlerweile nur noch ein Teilgebiet der Restaurierung. Bei einem weiteren großen Bereich - der Bestandserhaltung - stehen moderne Bücher im Mittelpunkt. 60 Millionen Druckschriften in deutschen Bibliotheken und 9,6 Milliarden Blätter in den Archiven drohen zu zerfallen, weil sie säurebildende Substanzen enthalten. So lautete im Jahr 2009 die Schätzung der Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts, der Bibliotheken, Archive und politische Institutionen angehören.

Seit seiner Erfindung in China vor 2000 Jahren besteht Papier aus organischen Fasern. Den Rohstoff lieferte zunächst Bast vom Maulbeerbaum, dann Leinen, Baumwolle oder Hanf. Seit 1844/45 werden geschliffene Holzfasern ver arbeitet. Die gemeinsame Basis dieser pflanzlichen Fasern bildet die Zellulose. Sie ist das in der Natur am weitesten verbreitete Makromolekül, hydrophil (wasserfreundlich) und quellbar. Wenn daraus Papier entsteht, legen sich die Fasern aneinander und werden über Wasserstoffbrücken fixiert. Papier besteht außerdem aus Füllstoffen und Leimungsmitteln. Heute enthält es darüber hinaus noch viele Hilfsstoffe wie synthetische Leimungsmittel und Farbstoffe.

Der Papierzerfall ist ein physikalisch-chemischer Vorgang, der sowohl von der Herstellung als auch von äußeren Faktoren wie der schwefeldioxidhaltigen Umgebungsluft abhängt. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts legte man die Textilabfälle zunächst in einer alkalischen, also basischen Lösung ein - meist Pottasche. Die gewebten Fasern wurden so langsam in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt. Anschließend schöpfte man sie mit einem Sieb aus der wässrigen Suspension zu Papier. Die dabei in die Faser eingebrachten Alkalireserven reichten oft aus, um den Säurezerfall zu verhindern. Da das Papier häufig in Gelatine- oder Knochenleim getaucht wurde, um es beschreib bar zu machen, schützte dieser Film es zudem vor äußeren Einflüssen.

Um das Jahr 1800 erfand Louis-Nicolas Robert ein umlaufendes Sieb, das die maschinelle Fabrikation von Papier ermöglichte. Dafür war aber eine vereinfachte Leimungsmethode nötig. Der Apotheker Friedrich Illig mischte den Fasern Alkaliseifen von Baumharzen zu, die er mit Alaun (Aluminiumsulfat) behandelte. Durch den darin enthaltenen Schwefel kann sich Schwefelsäure bilden. Diese wirkt auf die Zellulose hydrolytisch (kettenspaltend). Seit zirka 1850 enthalten deshalb viele Papiere zu viel Säure. Da die Zellulose für die mechanische Stabilität des Papiers verantwortlich ist, wird es mit fortschreitendem Abbau brüchig und spröde. Je kühler und dunkler es bei möglichst gleich bleibender Temperatur gelagert wird, desto langsamer verläuft dieser Prozess - ein zentraler Aspekt der Bestandserhaltung, mit der Restauratoren auch betraut sind. In ausreichender Menge wird säurefreies Papier in Mitteleuropa erst seit der Jahrtausendwende hergestellt.

Der Zerfallsprozess der sauren Papiere kann durch rechtzeitige Entsäuerung verlangsamt werden. Ein weiteres, schon vor über 100 Jahren entwickeltes Verfahren, ist die »Papierspaltung«. Diese Technik perfektionierten in den 1960er Jahren die Restauratoren Günter Müller aus Jena und Wolfgang Wächter aus Leipzig: Dabei wird eine einzelne Seite von innen mit einer Zwischenschicht stabilisiert. Das zu restaurierende Blatt Papier wird dazu in ein spezielles Bad gelegt oder angefeuchtet, damit es aufquillt. Vorder- und Rückseite werden jeweils mit einem Trägerpapier beklebt. Zieht man diese nun vorsichtig auseinander, spaltet sich das Originalblatt in zwei Teile. Zwischen diese Hälften bringen die Experten ein dünnes Papier, das mit Karbonaten, Fungiziden und Polymeren getränkt ist, und das seine Wirkstoffe nach und nach an die äußeren Schichten abgibt. Im letzten Schritt werden die Trägerpapiere in einem Enzymbad wieder gelöst. Ob manuell oder maschinell gespaltet - das aufwändige Verfahren ist teuer und kann deshalb nur begrenzt eingesetzt werden.

Bei der Papierentsäuerung wird eine alkalische Lösung in das saure Papier eingebracht, die die Papierstruktur durchsetzt und durch Neutralisieren der Säuren den weiteren Zerfall aufhält. 1972 entwickelte Richard D. Smith Magnesiummethylat, rund zehn Jahre später wurde das in Methanol lösliche Methylmagnesiumkarbonat großtechnisch eingesetzt. Eine entscheidende Weiterentwicklung gelang dem Battelle-Institut in Frankfurt am Main: Es benutzte für die manuelle Entsäuerung mit Titanmagnesiumethylat eine Substanz, die in Hexamethyldisiloxan löslich ist. Dieses als Battelle-System bezeichnete Verfahren wurde 1991 in der ersten deutschen Versuchsanlage für Massenentsäuerung in Eschborn angewandt. Seitdem haben sich verschiedene Firmen auf diese Technik der Entsäuerung spezialisiert, die mittlerweile in wässrigen und nichtwässrigen Flüssigphasen- oder Trockenverfahren eingesetzt wird. 2006 gab es in Deutschland bereits sechs von ihnen - so viele wie in keinem anderen Land.

Eine von ihnen ist die Preservation Academy Leipzig (PAL), die seit 2004 auch Bücher aus Bibliotheken unter Bundeshoheit behandelt. Bevor rund 50 Kilogramm geschädigter Bücher für zirka drei Stunden in der Maschine verschwinden, werden sie bei minus 20 Grad gekühlt. »Die alkalische Suspension, die die Bücher beim CSC-Book-Saver-Prozess durchtränkt, kommt mit weniger Alkohol aus als andere Entsäuerungsverfahren. Deshalb schont sie das Papier«, ist PAL-Geschäftsführer Alexander Geschke überzeugt.


SCHUTZ FÜR JAHRZEHNTE

Das Massenverfahren - immerhin werden jährlich über 200.000 Bücher auf diese Art behandelt - verringere Risiken und Nebenwirkungen. Das Material verklebe selten, verspröde kaum, und die Einbände wiesen keine Verwerfungen auf. Nur in Einzelfällen müssten die Restauratoren nacharbeiten, erläutert Geschke: »Buch ist nicht gleich Buch, doch auf Grund der 50-Kilogramm-Chargen können wir das Material gründlich auswählen, die Parameter der Behandlung notfalls schnell ändern und das Ergebnis von jedem Durchlauf gut kontrollieren.« Die abschließende Qualitätskontrolle erfolge in in- und externen Labors. Geschke: »So präpariert ist der Papierzerfall erst einmal gestoppt oder über Jahrzehnte signifikant verlangsamt.«

Studiengangsleiterin Irene Brückle von der Akademie der Bildenden Künste warnt ihre Studenten jedoch vor zu großer Euphorie: »Am Anfang, als die Bücher kistenweise in die Apparate gepackt wurden, hat kaum jemand auf Schäden wie zum Beispiel ausblutende Stempel geachtet. Man hat zunächst gedacht, dass man sofort erst einmal alles entsäuern muss.« Dass das Verfahren auch Probleme mit sich brachte, wie zum Beispiel Geruchsbelästigung, sei erst den Bibliotheks- und Archivbenutzern aufgefallen. »Mittlerweile werden diese Verfahren differenzierter betrachtet.« Auch das Qualitätsmanagement hält Brückle noch für ausbaufähig. Werkstattleiterin Andrea Pataki ergänzt: »Für uns ist es wichtig, die Techniken zu erklären und zu gewichten - uns geht es nicht um eine pauschale Bewertung. Denn wie der Restaurator ein beschädigtes Buch bearbeiten will, muss er auf Grund seines Wissens und abhängig von den Bedürfnissen des einzelnen Objekts individuell entscheiden.«

»Wie der Restaurator ein beschädigtes Buch bearbeitet, muss er individuell entscheiden«
Andrea Pataki, Werkstattleiterin der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart

Brückles Vorgänger an der Akademie, Professor Gerhard Banik, kam 2005 in der ersten wissenschaftlichen Studie zur Qualitätskontrolle von fünf Massenentsäuerungsverfahren kommerzieller Anbieter zu einem wichtigen Schluss: Da die Verfahren nicht standardisiert seien, könnten Archive und Bibliotheken sie kaum vergleichen. Banik forderte daher vor allem einheitliche Behandlungsziele, Auswahlkriterien für die Objekte sowie einen definierten Qualitätsstandard für die Entsäuerung. Außerdem müssten Evaluationskriterien und Richtlinien für die Dokumentation der Behandlung entwickelt werden. 2007 reagierte das Deutsche Institut für Normung und gab Empfehlungen zur Bewertung des Entsäuerungserfolgs: Der pH-Wert eines entsäuerten Buchs muss danach bei 7 oder höher liegen und die alkalische Reserve soll mehr als 0,5 Prozent betragen.

»Wir hatten im Vorfeld Bedenken, dass Foto- und Farbseiten beschädigt werden könnten«, erklärt Hans-Christian Pust, der stellvertretende Leiter der Bibliothek für Zeitgeschichte (BfZ) in der Württembergischen Landesbibliothek. Die Spezialbibliothek für Geschichte und Politik ab 1914 ist vom Papierzerfall bedroht: Von den Blatträndern ausgehend verfärben sich die Seiten braun und werden spröde. Seit 2007 wird daher innerhalb des Restaurierungsprogramms des Landes Baden-Württemberg massenentsäuert. Pust: »Auch wenn in einzelnen Fällen Schlieren zurückgeblieben sind, gab es insgesamt keinen Informationsverlust. Selbst der leichte Ethanolgeruch der Bücher nach der Entsäuerung war tolerierbar.« Fast 80 laufende Meter haben die Prozedur bereits überstanden, etwa 1000 laufende Meter umfasst der gesamte Altbestand, der entsäuert werden muss.

Nicht nur diese Spezialsammlung wird von Säure bedroht. Die Leiterin der Restaurierungsabteilung der Württembergischen Landesbibliothek, Vera Trost, schätzt, dass etwa ein Drittel des gesamten Bestands in Stuttgart säurehaltiges Papier enthält. Doch während alle Objekte, die in Archiven aufbewahrt werden, in der Regel erhaltenswerte Einzelstücke sind (siehe dazu Kasten), besteht Bibliotheksgut sowohl aus Unikaten als auch aus Werken, die in kleiner bis sehr großer Auflage gedruckt wurden. Letztere können auch in anderen Einrichtungen zur Verfügung stehen und als Menge- oder Massenware gelten.

Die Frage, ob die bestimmte Ausgabe eines Buchs erhalten werden muss oder ob sie sich relativ leicht ersetzen ließe, erfordere aufwändige Recherchen. »Ein zentrales Verzeichnis könnte dies vereinfachen«, sagt Trost. Der Vorschlag einiger Bestandserhalter, jede Bibliothek in Deutschland solle wenigstens das jeweilige Spezialsammelgebiet in seinem Originalmedium erhalten, wurde - noch - nicht umgesetzt. Auch der vorbeugende Ansatz, säurehaltige Neuanschaffungen für bestimmte Sammelgebiete der einzelnen Bibliotheken zu entsäuern, griff noch nicht. Doch das Landesrestaurierungsprogramm Baden-Württemberg ermöglicht kontinuierliche Projekte: »Mit der Entsäuerung der BfZ-Altbestände konservieren wir zunächst eine überschaubare, geschlossene und in dieser Zusammenstellung einmalige Sammlung.«

Doch selbst das Massenverfahren läuft nicht automatisch ab: »Das Aus- und Einbuchen, die Vorauswahl, das Nachbearbeiten und die Kontrolle nehmen enorm viel Zeit in Anspruch«, betont Trost: »Dafür bräuchten wir dringend weiteres gut ausgebildetes Personal.« Nach der Entsäuerung werden Fehlstellen unter anderem in Umschlägen ergänzt, erklärt die Restauratorin der Württembergischen Landesbibliothek, Enke Huhsmann. Mehrere Monate half auch Ines Jesche im BfZ-Projekt und verpasste den einzigartigen Heften einen konservatorischen, schützenden Einband.

»Wer würde es gutheißen, eine vom Wurmfraß gefährdete Madonna nur digital zu fotografieren und sie anschließend ihrem Schicksal zu überlassen?«
Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts, Denkschrift 2009

»Wer würde es gutheißen, eine von Wurmfraß gefährdete gotische Madonnenfigur nur digital zu fotografieren und sie anschließend ihrem Schicksal zu überlassen?«, fragt die Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in ihrer Denkschrift 2009 und thematisiert damit ein umstrittenes Thema: Das Digitalisieren der Quellen. Die Befürworter des Verfahrens argumentieren, dass die historischen Inhalte somit archiviert und optimal verfügbar seien. Die Allianz hält dagegen: Erst die Summe aus Inhalt und Überlieferungsform - also Papier, Handschrift, Einband - mache aus den Objekten unverwechselbare Zeugnisse. Die Digitalisierung leiste zwar einen Beitrag zur Bestandsschonung, könne die Restaurierung aber nicht ersetzen. Sie plädiert daher für den sich ergänzenden Einsatz beider Verfahren - Originalerhaltung und Digitalisierung.

Auch Pataki rät ihren Studenten zum Abwägen: Der Vorgang des Digitalisierens könne die Originale belasten und schädigen. »Der Restaurator ist die Schnittstelle: Er muss die Quellen vorbereiten, die Digitalisierung managen und die erzeugten Daten sichern.« Dass Letz teres gar nicht so einfach ist, darauf weisen Computerspezialisten wie der Amerikaner Jeff Rothenberg hin: »Digital information lasts forever - or five years, whichever comes first.« (»Digitale Daten überdauern die Ewigkeit - oder fünf Jahre, was immer zuerst kommt.«)

Papiere spalten, Handschriften digitalisieren und Einbände von massenentsäuerten, zeitgeschichtlichen Dokumenten nachbearbeiten: Auch wenn die Bestandserhaltung eine große Herausforderung darstellt, jetzt ist Ines Jesche gespannt auf die erste Begegnung mit der tiefgefrorenen Grabbeigabe aus dem Kloster Bebenhausen. Dann wird sie ihre Begeisterung für Bücher und ihre kulturwissenschaftliche Bedeutung einmal mehr beweisen können. Denn: »Das Besondere an diesem Objekt ist, dass es zwischen archäologischem Fund und Gebrauchsgegenstand steht.«


Claudia Mocek ist Redakteurin bei epoc.


Aufgaben von Archiven und Bibliotheken

Archive (nach dem altgriechischen Wort für Schatzkammern) gewährleisten Rechtssicherheit und Kontinuität in Recht, Verwaltung und Politik. Für die historische Forschung sind sie erst seit dem 19. Jahrhundert zugänglich. Archive bewahren dauerhaft Unterlagen von bleibendem Wert auf, die das politische, rechtliche und administrative Handeln spiegeln. Die Quellen werden streng ausgewählt - rund 95 Prozent der Ausgangsmenge wird vernichtet. An den Archiven, ihrer Verteilung im Land und der Gliederung ihrer verdichteten Bestände lässt sich der lange Prozess der Staatsbildung Deutschlands ablesen. Jedes bildet in der Summe seiner Quellen das Abbild eines spezifischen Ausschnitts der Struktur und Tätigkeit von Regierung, Verwaltung und Justiz. Da Archivgut stets einen einzigartigen Charakter hat, muss alles dort Überlieferte erhalten werden, empfiehlt die Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts 2009.

Bibliotheken sammeln, bewahren und stellen Wissen auf unterschiedlichen Informationsträgern zur Verfügung. Darunter auch gedrucktes Material, das per se in mehreren Exemplaren hergestellt wurde. Deshalb muss auch nicht jeder Bibliotheksbestand uneingeschränkt erhalten werden. Weil das Biblio thekswesen in Deutschland nicht zentral gesteuert wird, fehlt bisher - auch auf internationaler Ebene - ein arbeitsteiliges Konzept zur Bestandserhaltung. Denn es muss laut Allianz unter anderem sichergestellt werden, dass von jedem nach 1850 in Deutschland erschienenen Druckwerk mindestens ein dauerhaft gesichertes Papierexemplar erhalten bleibt.


Randnotizen

Gegen den Zerfall

Papiere, die ab 1850 hergestellt wurden, enthalten zu viel Säure. Zellulose wird abgebaut, das Papier wird brüchig und zerfällt. Das kann man tun, um diesen Prozess zu stoppen:

1. Das Papier wird kühl und dunkel bei möglichst gleich bleibender Temperatur gelagert.

2. Bei der Entsäuerung wird das saure Papier mit einer alkalischen Lösung getränkt, die eine Neutralisation bewirkt und als alkalische Reserve den weiteren Zerfall aufhält.

3. Bei der Papierspaltung werden einzelne Seiten von innen mit einer Zwischenschicht stabilisiert. Diese gibt ein neutralisierendes Reagenz an die äußeren Trägerschichten ab.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S.34: Aufwändige Rettungsarbeiten: 50 Stunden benötigte die Studentin Ines Jesche, um ein Lagerbuch aus dem 16. Jahrhundert zu restaurieren.

Abb. S.36: Mit einem Schärfmesser dünnt Studentin Josefine Werthmann die Ränder eines Kalbsleders aus. Wenn sie damit die Fehlstellen im Einband der Bibel auffüllt, soll es der Höhe des Originalleders von 1700 entsprechen.

Abb. S.38: Entsäuern nach dem CSC-Book-Saver-Verfahren
Links im Bild befindet sich die zirka 50 Kilogramm fassende Behandlungskammer für die Bücher (B 01). Die Arbeitslösung - das heißt das Reagenz (ein Magnesiumpropylat), gelöst in einem Transportmedium (Solkane) - steht im zweiten Behälter (B 02) bereit. Das Transportmedium Solkane wird im Behälter B 03 zwischengespeichert; in B 04 befindet sich eine bereits vorgemischte Lösung aus Reagenz und Solkane. Der rechte Teil der Anlage dient der Rückgewinnung des Transportgases.

Abb. S.39: In der Preservation Academy Leipzig werden bei der Massenentsäuerung Papiere in 50-Kilogramm-Chargen zirka drei Stunden lang behandelt.

Abb. S.40: Fast 80 laufende Meter der Bibliothek für Zeitgeschichte konnte die Württembergi sche Landesbibliothek in den vergangenen Jahren entsäuern lassen. Das sind weniger als zehn Prozent dieses vom Säurefraß bedrohten Bestands.


© 2010 Claudia Mocek, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 2/10, Seite 34 - 41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2009