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BERICHT/026: Explosion der Gutenberg-Galaxis (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010

Explosion der Gutenberg-Galaxis
Von globalen Dorfbewohnern und Inselnomaden

Von Cora Stephan


Eine populäre Behauptung lautet: Das Buch verschwindet. Bürgerliche Haushalte entsorgen ihre Billy-Regale, die Jugend liest nicht mehr, der Rest geht unter im digitalen Rauschen. Was übrig bleibt, sind einige kleine Buchhandlungen, die ihre Ware so verschwiegen verhökern wie der persönliche Drogenberater - und ein paar seltsame Menschen, die ohne enge Gemeinschaft mit gebundenem Papier nicht existieren können. Kommt die Gutenberg-Galaxis in Zukunft ohne Bücher aus?


Eine andere Botschaft, die man nicht unbedingt positiv nennen kann, lautet wie folgt: es gibt zuviel davon - vom Buch. Noch nie wurden so viele Bücher auf den Markt geworfen wie heutzutage - und es werden täglich mehr. Für jeden Geschmack und jede klitzekleine Nische ist etwas dabei. Die Überfülle wirkt wie die Angstblüte der Verlage, die im Kampf um den einen großen Bestseller jeden, der das ABC beherrscht, vorausschauend zum Autor erklären. Der Buchmarkt leidet nicht an Mangel, sondern an Völlegefühl und Verstopfung. Es mag zwar sein, dass Leser nicht mehr lesen - stattdessen scheinen sie zu Autoren mutiert zu sein, zu jenen also, die den Markt verstopfen.

Dabei ist der Umsatz auf dem Buchmarkt nicht in gleicher Weise gestiegen. Das heißt, dass mehr Bücher um die Aufmerksamkeit einer gleich bleibenden Käuferschicht buhlen. Die Auflagen werden immer kleiner, die Schere zwischen No-Sellern und Bestsellern öffnet sich immer stärker, dazwischen tut sich ein weites Niemandsland auf.

Nun könnte man den überfüllten Markt als Ausdruck von Demokratisierung bezeichnen: Für jeden ist etwas dabei. Und das Internet schafft Lesen und Schreiben nicht ab, es vereinfacht sogar den Zugang zu beidem. Bücher sind nichts mehr, worin die Gebildeten sich von der Plebs unterscheiden. Buch kann heute jeder. Es hat seine Aura, seine Würde, seine Kostbarkeit verloren.

In der Überfülle einerseits, dem Wertverlust andererseits spiegelt sich, was man mit Robert Darnton, dem großen amerikanischen Buchgelehrten, als eine Art zweiter Gutenbergscher Revolution bezeichnen könnte: "Alles", schreibt Darnton, "deutet darauf hin, dass ein gewaltiger Wandel stattfindet. Womit er historisch zu vergleichen wäre? Es ist denkbar, dass Gutenbergs Erfindung der beweglichen Lettern nicht sehr viel bedeutender ist als das, was wir gerade erleben."

Das ist aufregend und beängstigend zugleich. Der Blick nach Amerika belehrt die stets etwas kulturbeflissenen Deutschen darüber, dass die Entwicklung sich beschleunigt. Gewiss, noch wollen die meisten hierzulande ihren Roman auf die gewohnte Weise lesen. Noch äußern sich die wahren Lesefreunde mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für DAS BUCH: Nichts gehe über dieses Kultobjekt aus Druckerschwärze und Papier, in feines Leinen oder Leder gebunden, gar noch mit Lesebändchen; einen edlen Gegenstand eben, in dem man nicht nur lesen, sondern den man auch streicheln, betrachten und ins Regal stellen kann. Der notfalls auch als Möbelstütze dient. Ein Buch, das einen ordentlichen Ladenpreis wert ist.

Doch die dingliche Form des Buchs stellt in den meisten Fällen keinen Wert mehr dar, der für seinen Preis bestimmend wäre. Das Teure am Buch ist nicht seine gegenständliche Existenz - die Druckkosten sind marginal im Vergleich zu den Kosten für Verlag und Vertrieb und vor allem für den Buchhandel. Der Autor, der Mensch der geistigen Elternschaft, kostet am wenigsten.

Bücher sind offenbar in ihrer Mehrzahl kein kostbares Kulturgut mehr, sie lassen sich billig produzieren, schnell weglesen und rückstandsarm entsorgen. Die Loslösung von ihrer körperlichen Gestalt verschärft diesen Trend. Als E-Book, in ihrer nichts als digitalen Gestalt, benötigen sie keine Druckerei, keinen Vertrieb, keine Buchhandlung mehr. Man saugt sie als bloßen Content aus dem Netz und schickt sie nach vollendeter Lektüre ins digitale Nirwana. Wie ein Widerschein ihres einstigen Charakters als kostbares Gut weigern sich die Konsumenten deshalb, für den rein geistigen Gehalt so viel zu zahlen wie für das körperliche Produkt.

Was für den klassischen Buchliebhaber die Hölle sein dürfte, ist für andere das Paradies: sowohl für den professionellen Leser - Lektoren und Wissenschaftler etwa - wie auch für den Schmökerfan, der weiß, dass er einen durchschnittlichen amerikanischen Spannungsroman kein zweites Mal lesen wird und ihn deshalb auch nicht im Bücherregal verstauben lassen möchte. Wer immer noch Skrupel hat, ein Buch wegzuwerfen - was einstmals so frevelhaft war wie das Entsorgen von Brot -, dem wird es leichter fallen, auf dem Computer und im Lesegerät die Löschtaste zu bedienen.

Technisch ist das alles schon längst kein Problem mehr. Es fehlt noch ein erschwingliches Lesegerät, das man auch mit an den Strand und ins Bett nehmen möchte. Doch wird es nicht mehr lange auf sich warten lassen. Nicht wenige werden auch in Kulturdeutschland den Vorteil genießen, sich ihr Buch im Netz auszuwählen und herunterzuladen - ohne in eine Buchhandlung gehen oder den Briefboten abpassen zu müssen. Für Zeitungen und Zeitschriften gilt ähnliches.


Gewinner und Verlierer

Der Gewinn ist groß. Der Verlust auch. Insbesondere die Buchhandelsketten werden einen großen Teil ihrer Marktmacht verlieren, kleine, spezialisierte Buchhändler mit einem gut gepflegten Kundenstamm und hoher Beratungskompetenz werden vielleicht profitieren. Ähnliches gilt für die Verlage: Die großen werden für eine womöglich recht lange Übergangszeit Bücher sowohl in der gewohnten handfesten Weise als auch als elektronische und körperlose Wesen auf den Markt bringen müssen. Der ganze Vertriebsapparat muss also erhalten bleiben. Das mindert die Chancen, die im E-Book liegen: nämlich an den Kosten für den teuren Verkehr mit den Buchhändlern sparen zu können.

Profitieren könnten kleine, wendige, auf E-Books spezialisierte Portale, die jene Overheadkosten, unter denen die anderen ächzen, gar nicht erst anhäufen.

Und die Autoren? Viele von ihnen sehen in der körperlosen Existenz ihrer geistigen Produkte vor allem eine Gefahr: Digital lässt sich ein Buch leichter stehlen als in seiner körperlichen Form. Nicht wenige Netzpiraten haben das geistige Eigentum bereits für obsolet erklärt und damit auch die Existenzbedingungen jener Menschen, die geistige Inhalte kreieren - man nennt sie mittlerweile einigermaßen gefühllos "Content-Produzenten". Content, also Inhalt, ist im digitalen Zeitalter nachgesuchter denn je. Doch es fehlt den Autoren wie immer an Mut, aus ihrer Marktposition eine Machtposition zu schmieden. Wenn die Kosten für den Druck, den Vertrieb und den Buchhandel wegfallen und Bücher nur noch "on demand" gedruckt werden, auf Maschinen, die man in jede Bahnhofshalle stellen könnte, ließe sich ein neues Abkommen mit den Verlagen zugunsten der Autoren ja durchaus denken. Die jetzt schon erfolgreichen unter ihnen werden das gewiss durchsetzen können. Die anderen werden sich womöglich im Internet erst entdecken lassen müssen, bevor sie von den Vorteilen eines Verlagsvertrags profitieren können: von Werbung, Marketing und lebenssichernden Vorschüssen.


Verschwindet das besondere Lese-Erlebnis?

Was aber bedeutet die digitale Revolution für das, was wir mit Emphase "Öffentlichkeit" nennen? Sicher werden nur noch wenige Ereignisse gemeinschaftsstiftend wirken, wie es einst dem Fernsehen mit Straßenfegern wie den Durbridge-Filmen gelang. Längst ist die Bezeichnung "Fernsehprogramm" ein Anachronismus geworden, schließlich kann sich jeder sein eigenes Programm zusammenstellen. Auch Information ist an kein bestimmtes Medium mehr gebunden. Und das Internetradio hat sogar das Radiohören von Raum und Zeit unabhängig gemacht.

Für Bildungsinhalte gilt ähnliches. Die alten Reiseführer ins Literaturland haben ihre prominente Rolle längst eingebüßt. Die Schule lehrt keinen Bildungskanon mehr, das Feuilleton entscheidet nur noch über die Lektüregewohnheiten einer winzig kleinen Bildungsschicht, und der beratende Buchhändler bedient demnächst nur noch echte Liebhaber in einer schrumpfenden Nische. Welche Bücher sich verkaufen, wird eher von den Netzwerken abhängen, die Autor und Verlage sich geschaffen haben. Ein Lese-Erlebnis, wie man es zuletzt mit den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Rowling weltweit teilen konnte, wird es womöglich nicht mehr geben.

Denn eines scheint sich nicht verändert zu haben: das Budget für den Bucherwerb ist nicht größer geworden, es verteilt sich lediglich auf eine größere Menge von Titeln. Schön, dass jede noch so kleine Interessengruppe heute ihren Autor findet. Das heißt aber auch: das Lesen verbindet nicht mehr, es individualisiert. Und wenn wir früher in die Stadt reisen mussten, um es beim Buchhändler zu erwerben, ziehen wir es heute, wo immer wir sind, in digitaler Form aus dem Netz und geben es nach der Lektüre nicht etwa an Freunde und Bekannte weiter, sondern entlassen es ins digitale Nirwana via Löschtaste.

Landen wir, wie McLuhan einst prophezeit hat, im globalen Dorf - oder sitzen wir schon bald jeder allein auf unseren Latifundien, ganz weit, nämlich einen Mausklick, von der Welt entfernt?


Cora Stephan (* 1951) Publizistin, promovierte Politikwissenschaftlerin, lebt in Frankfurt am Main.
www.cora-stephan.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010, S. 56-59
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2010