Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → HÖRBUCH

REZENSION/025: Sibylle Hoffmann - Das Hanse-Hörbuch, Geschichte und Kultur (SB)


Das Hanse-Hörbuch: Geschichte und Kultur




In fünfundsiebzig Minuten mehr als fünfhundert Jahre Menschheitsgeschichte durchqueren... Dieses nahezu unmögliche Unterfangen ist mit dem Hörbuch über die Deutsche Hanse gelungen.

Die Hanse (althochdeutsch hansa, Gruppe, Gefolge, Schar) entstand im Mittelalter (10.-12. Jahrhundert) und bildete anfangs einen Zusammenschluß deutscher Kaufleute im Ausland zum Schutz gemeinsamer Handelsbelange. Diese sogenannte Kaufmannshanse entwickelte sich im Laufe der Geschichte zu einem Städtebund, der Deutschen Hanse. Das Bündnis wurde nie formell gegründet, doch läßt sich sagen, daß etwa um das Jahr 1350 herum 72 niederdeutsche Städte unter der Leitung Lübecks eine festere Form der Organisation eingingen, weitere 130 Städte waren dem Bund locker angeschlossen. Gemeinsame Beratungen fanden während der Hansetage statt. Jedoch auch mit der Einrichtung dieser Zusammenkünfte, der erste nachweisbare Hansetag fand 1356 in Lübeck statt, blieb die Hanse ein loses Bündnis. Es gab kein Oberhaupt und keine Vertreter, die das Bündnis nach außen hin repräsentierten. Die Einhaltung der Hansetagsbeschlüsse beruhte bis zuletzt auf Freiwilligkeit.

Die Grundlagen der wirtschaftlichen Macht der Hanse waren die Beherrschung der Ostsee, das Handelsmonopol auf den nordischen Meeren und die Handelsvorrechte in den englischen und niederländischen Häfen. Während ihrer Blütezeit im 14. Jahrhundert gehörten fast 300 See- und Binnenstädte der Gemeinschaft der Hanse an.

Der Niedergang seit dem 15. Jahrhundert ist unter anderem dem Erstarken Englands und der Niederlande, der anwachsenden Macht der Landesfürsten, den Verlagerungen der Handelswege und nicht zuletzt zunehmend gegenläufiger Interessen innerhalb des Städtebundes geschuldet. Ebenso wie die Hanse niemals offiziell gegründet wurde, so ist auch nie ein formelles Ende festgeschrieben worden. Überliefert ist lediglich das Jahr 1669, in dem der letzte Hansetag abgehalten wurde, an dem nur noch Delegierte aus sechs Städten zusammentrafen.


Diesen Zeitraum umfaßt das Hanse-Hörbuch. Was beim anfänglichen Hören vereinfacht, ja fast plakativ erscheint, ist genau die Herangehensweise, mit der die Ersteller dieses Produkts zu Werke gegangen sind; denn natürlich kann man bei so einer immensen Menge an Geschichte(n), die es vorzustellen gilt, keinem Aspekt vollständig gerecht werden. Also wird dem Zuhörer ein Feuerwerk an Informationen, Fakten, Zitaten und musikalischen Beispielen aus der Zeit der historischen Hanse präsentiert, was zugleich einen unterhaltsamen und spannenden Einstieg in diese Epoche ermöglicht.

Das Hanse-Hörbuch dokumentiert die enge Verknüpfung zwischen wirtschaftlichen Erfolgen der Hanse und den künstlerisch-kulturellen Leistungen dieser Zeit, ohne den Hörer angesichts der Fülle an Material zu erschlagen oder zu überfordern. Das ist mit Sicherheit kein geringer Verdienst der Autorin und erfahrenen Rundfunkjournalistin Sibylle Hoffmann, die diese Auswahl getroffen und zusammengestellt hat, und nicht zuletzt der souveränen Vortragsweise des Sprechers Rolf Becker: gleichbleibend ruhig, stets präsent, dabei an keiner Stelle aufdringlich.

In sechzehn Kapiteln wird der Beginn der Seeschiffahrt auf der Ostsee beschrieben, die Entstehung von Handel und Märkten, die Verschiffung der Waren und das Errichten von Handelsniederlassungen. Weiter geht's mit Beiträgen über Lübeck als Hauptsitz der Hanse, die Hansetage, die Pest, den Buchdruck, das Kaufmannswesen, die Vitalienbrüder, Hand- und Kunsthandwerk und schließlich über Revolten am Ende der Hansezeit. Das sechzehnte und letzte Kapitel trägt den Titel "Die Hanse als historisches Vorbild".

An dieser Stelle sei ein Beispiel herausgegriffen: So erfährt man in Kapitel 06 "Lübeck: das Haupt der Hanse", daß Kaufleute ihre ganz eigene Kirchengeschichte schrieben. Unter allen Heiligen des Mittelalters galt die biblische Mariengestalt als wichtigste Beschützerin und Fürsprecherin vor Gott. Um aller Welt kundzutun, die weltliche Macht der Kaufleute handle mit Gottes Segen, wurde nicht nur in Lübeck eine Marienkirche errichtet - viele Orte, vor allem an der Ostseeküste, folgten dem Beispiel nach. Diese Kirchen fanden unter kaufmännisch praktischen Erwägungen vielseitig Verwendung:

Mit ihren roten Backsteinen und den hohen spitzen Türmen heben sich die Kirchen deutlich ab vom blauen oder auch wolkenverhangenen Himmel. Schiffern dienten sie als weithin sichtbare Landmarke, Kaufleute gingen in den Gotteshäusern ein und aus, führten dort geschäftliche Gespräche. Kirchen waren öffentliche Treffpunkte.
In Stralsund beschweren sich die Tuchhändler, die Messe in St. Nikolai werde zu laut gelesen und störe ihre Verhandlungen. Sie stellen ihren Altar und ihr Gestühl lieber in der neu errichteten Marienkirche auf. In Lübeck rufen die Glocken der Marienkirche zu den Ratsversammlungen, in der sogenannten Briefkapelle stehen Schreiber mit Feder und Tinte bereit. Gesetze und Verordnungen der Hansestädte werden in den Kirchen verkündet.
(aus: Kapitel 06)

Gotteshäuser waren darüber hinaus auch Orte der öffentlichen Selbstdarstellung der aufsteigenden Schicht wohlhabender Kaufleute. Sie spendeten das Inventar, finanzierten Marienandachten, ließen prunkvolle Altäre in Kunstwerkstätten bauen und Altarbilder anfertigen, in die ihre eigenen Porträts eingearbeitet wurden.

Noch unverblümt kaufmännischer ging es im Hansekontor Peterhof in Nowgorod zu. In Kapitel 11 "Die Hanse-Kontore" wird berichtet, daß die steinerne St. Peterskirche aufgrund ihrer zentralen Lage und Feuerfestigkeit als Lagerraum für wertvollere Handelsgüter, der Hofkasse und des Kontorarchivs Verwendung fand. Zwei "Kirchenschläfer" wurden des nachts in der Kirche eingeschlossen. Ihnen oblag die Aufgabe, sowohl die Güter als auch einander sorgfältig zu bewachen. Zeitweise quoll die Kirche vor lauter Waren regelrecht über, so daß die Hofordnung von Nowgorod daran gemahnen mußte, wo man sich befand: "Niemand soll Waren, was es auch ist, auf den Altar legen."


Das Hanse-Hörbuch macht Spaß, weckt Interesse und Neugierde. Es ist kaum anzunehmen, daß am Ende ein Hörer übrig bleibt, der sich nicht an irgendeiner Stelle - und Anknüpfungspunkte gibt es zahlreich - von der Begeisterung anstecken läßt, mit der hier Geschichte vermittelt wird.

Ob Absicht oder nicht: Was dem Hanse-Hörbuch vollständig fehlt, sind Fragen. Das sollte jedoch niemanden davon abhalten, das Hörbuch über den bloßen Informations- und Unterhaltungswert hinaus in Gebrauch zu nehmen und sich selbst eine Handvoll Gedanken zu machen, etwa derart:

Wie wurden die Koggen gebaut und wie funktionierte Navigation zur damaligen Zeit? Wer sorgte für die Produktion der Handelsgüter und unter welchen Bedingungen arbeitete und lebte man? Warum wurde für die Kapernfahrer auch der Name Vitalienbrüder (aus lat. vitalis 'zum Leben gehörig' und victualia = Lebensmittel) verwendet? Gibt es hier möglicherweise einen viel ernsteren Hintergrund? Das Abwägen von kaufmännischem Eigeninteresse und Gemeinwohl: Wie soll das zusammengehen? Warum spricht man von Erfolgsgeschichte? Erfolg für wen und für wen vielleicht gar nicht. Die Hanse als frühe Vorläuferin der Europäischen Union - ist ein Vergleich dieser beiden Organisationsformen überhaupt möglich und sinnvoll? Und schließlich: Die Hanse als historisches Vorbild - was bedeutet das genau? Wem ist die Hanse welches Vorbild und welche Ereignisse und Folgen reichen möglicherweise tatsächlich bis in unsere Gegenwart hinein? Und welcherart sind diese?

Und, und, und... Somit liegt es allein in der Verantwortung des Hörers und ganz im Sinne des Hansegedankens der Weltoffenheit und Freiwilligkeit, es beim bloßen, einmaligen Hören bewenden zu lassen, oder an der einen oder anderen Stelle noch einmal auf seine Fragen zurückzukommen und sich auf den Weg zu machen.

1. Juni 2013


Hanse-Hörbuch: Geschichte und Kultur
Autorin: Sibylle Hoffmann
Sprecher: Rolf Becker
Grafik: Roswitha Rösch
1 CD, 75 Minuten Spielzeit
Hörbuchreihe "Erfolgsgeschichten"
Silberfuchs-Verlag, März 2013
ISBN: 978-3-940665-03-4
Hörproben zum Hörbuch: www.silberfuchs-verlag.de