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BUCHBESPRECHUNG/002: Arthur Rimbaud - Illuminations/Farbstiche (SB)


Arthur Rimbaud


Illuminations - Farbstiche

Französisch/Deutsch



Ein trüber Vormittag, im Juli. Ein Geschmack von Asche fliegt in der Luft; - ein Geruch von schwitzendem Holz im Herd, - die verbrannten Blumen, - die Verwüstung der Spazierwege, - der rieselnde Nebel über den Kanälen rings ums Land, - warum nicht schon die Spielsachen und der Weihrauch? ("Illuminations/Farbstiche", S. 39)


*


Ein Verständnis für Dichtung zu wecken oder auch nur ein Interesse für Lyrik jeglicher Art, verlangt im schulischen Bereich in der Regel den ganzen Lehrer. Denn Gedichte fordern durch ihre häufig als irrelevant für's tägliche Leben empfundenen Inhalte wie Form geradezu zum Widerstand heraus. Was hier gerade noch einleuchtet, sind (Neu)-Entwicklungen wie poetry slams oder Stegreif-Slapsticks, die einen cool-intelligenten Eindruck machen, solange man nicht weiter nachfragt (als generelles Unterhaltungselement oder als witzige Übung im Fremdsprachenunterricht mögen sie ihren Platz haben).

Da jedoch Gedichte, besonders in jüngerer Zeit, gern zur knappen Darstellung einer Gefühls- oder Lebenssituation verwendet werden - die der Dichter auch mal als starkes Bild oder fesselnden Gedanken mit einer jedem einleuchtenden Bedeutung verwechselt -, können sie durchaus ein Mittel für den Versuch sein, sich in die Welt eines anderen Menschen zu begeben, ohne eine ganze Abhandlung lesen zu müssen. Sie können trotz des persönlichen Ansatzes des Dichters möglicherweise auch dazu dienen, sich einen Einstieg in eine andere Zeit zu verschaffen.

Bei dem vorliegenden Band, den "Illuminations" von Arthur Rimbaud, handelt es sich um Prosagedichte, "poèmes en prose" (links Französisch, rechts Deutsch). Definitionsgemäß ist dies eine literarische Kurzform, die sich von der Lyrik nur dadurch unterscheidet, daß der Endreim und die Einteilung in Verse fehlen. Der zugrundeliegende Stoff wird hier dem Anspruch nach sprachlich rhythmisiert, klangvoll und in eindrücklichen Bildern dargebracht. Das nur zur kurzen Information. Wieweit Rimbaud sich an diese Vorgaben gehalten hat, soll hier nicht weiter untersucht werden.

Dennoch muß man sich vielleicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß der Begriff Prosagedicht sowie die ihm unterstellte Form unter Umständen nichts als eine Ausrede darstellt, ein Etikett für eine Ausdrucksform, die anderenfalls vielleicht höchstens ein Tagebuch füllen würde. Nur handelt es sich hier um einen gerühmt-berüchtigten Dichter, an dem sich schon so manche Phantasie entzündet hat.

Nichtsdestotrotz hat der Dichter im Gegensatz zur "Zeit in der Hölle" selbst einen recht nüchternen Titel - mit dem Untertitel "painted plates" - für diese gleichfalls gesetztere Sammlung gewählt, bei dem der Übersetzer getreulich geblieben ist: "Farbstiche". Rimbaud selbst liefert damit eine eher handwerkliche Interpretation seines Werks, nicht als Erleuchtungen im Sinne eines erhöhten Erkenntnisgewinns oder Durchblicks, sondern, angelehnt an die mittelalterliche Schrift- und Buchkunst, Illuminieren im Sinne des verschönernden Ausmalens von Handschriften und der Buchmalerei übertragen auf die Dichtkunst. Von seinem ursprünglichen Anspruch, eine neue Art der Dichtung zu entwickeln, die sich einmischt, um die Welt zu verändern, und die bisher Unzugängliches erschließt, hat er sich damit weit entfernt und in gewissem Sinne aufgegeben. Gleichzeitig ist die Sicht der Dichtkunst als Handwerk eine, die man nicht aus den Augen verlieren sollte.

Gehen wir also dem Begriff "Farbstiche" angenähert von Schlaglichtern aus, die der Dichter auf Situationen und Zusammenhänge zu werfen sucht, von Ausmalungen seiner Gedanken, Phantasien, Befürchtungen und Wünschen - kurz Reflexionen genannt. Die knappen Texte stellen sich dementsprechend als mehr oder weniger eindeutige oder in letzterem Fall auch gern als "dunkel" bezeichnete "Dichtung" in Form von Schilderungen und Assoziationsketten dar, die dem Leser manchmal rätselhaft bleiben und die sich auch dann nicht immer erschließen, wenn man sich ihnen ausführlich und detektivisch widmet. An dieser Stelle kommt dem Übersetzer die Rolle eines Vermittlers zu, der das ihm vorliegende Werk im Grunde neu zu schaffen hat, jedoch auch die größtmögliche Entsprechung zu finden sucht. Die Vermittlung erfordert mehr als eine simple Anpassungs- und Kreuzworträtselleistung, sie verlangt die intensive Auseinandersetzung mit Dichter und Werk, die auch die Möglichkeit nicht ausschließt, daß der Dichter vielleicht nicht das zu sagen hat, was er vorgibt und erst recht nicht das, was ihm zugeschrieben wird. Und noch dazu die bittere Erkenntnis, daß das eigene Vermögen u.U. für diese Aufgabe nicht ausreicht.

Nehmen wir als Beispiel das Gedicht "Démocratie", das imperiale Eroberung anprangert, damals wie heute deutlich. Die Übersetzung ist, wie alle anderen hier vorgelegten, von 1946, und mit ihrer Hilfe kann man getrost die These widerlegen, daß jede Zeit ihre eigene Übersetzung verlangt.


Demokratie

"Die Fahne marschiert in die unreine Landschaft, und unser Kauderwelsch erstickt die Trommel.
In den Hauptstädten werden wir die schamloseste Hurerei hochbringen.
Wir werden die vernünftigen Empörungen niedermetzeln.
Hin in die gepfefferten und erschlafften Länder! - im Dienst der ungeheuerlichsten industriellen oder militärischen Ausbeutungen.
Auf Wiedersehen hier, ganz gleich wo. Rekruten des guten Willens, werden wir uns an die Philosophie der Barbarei halten; Stümper in der Wissenschaft, Wüstlinge im Genuß des behaglichen Lebens; krepieren muß die Welt, wie sie heute läuft. Das ist der wahre Fortschritt. Vorwärts los!"
(S. 97)

Die Situation ist eigentlich klar, dennoch kommt man ins Stutzen:
- "unreine Landschaft" ?
- "Kauderwelsch" ?
- kann man eine Trommel "ersticken" ?
- Hurerei "hochbringen"?
- "gepfefferte und erschlaffte Länder" ?
- "Wüstlinge im Genuß des behaglichen Lebens" ?

Démocratie

"Le drapeau va au paysage immonde, et notre parois étouffe le tambour.
"Aux centres nous alimenterons la plus cynique prostitution. Nous massacrerons les révoltes logiques.
"Aux pays poivrés et détrempés! - au service des plus monstrueuses exploitations industrielles ou militaires.
"Au revoir ici, n'importe où. Conscrits du bon vouloir nous aurons la philosophie féroce; ignorants pour la science, roués pour le confort; la crevaison pour le monde qui va. C'est la vraie marche. En avant, route!"
(S. 96)

Daß der Dichter sich aufregt, kann man unterstellen, schließlich fühlt er sich nach wie vor als Gegner der herrschenden Klasse und parteiisch im Sozialkampf. Dennoch ist der Text trotz seiner Vehemenz verständlich. Grob noch einmal die Situation vergegenwärtigt: Die Eroberer ziehen im Dienste der Ausbeutung in die betrogenen und geschwächten Länder. In den Zentren nähren sie die Prostitution, Aufstände schlagen sie blutig nieder. Die willigen Soldaten sind viehisch, ungebildet und gerissen, wenn's ums eigene Wohl geht, und zerstören die Welt, wie wir sie kennen.

- Die Fahne marschiert in unreines Land;
- unser Gegröhl
- übertönt die Trommel.
- In den Hauptstädten nähren wir die gemeinste Hurerei.
- In die betrogenen und geschwächten Länder!
- unkundig der Wissenschaft, gerissen für's eigene Wohl

Natürlich sollte man einen Text beim Übersetzen nicht besser machen, als er ist, doch möglichst auch nicht schlechter. Besonders Formulierungen wie "gepfefferte und erschlaffte Länder" stiften hier mehr Verwirrung als nötig und gehen in der Regel beim Leser nur deshalb durch, weil er von vornherein und ohne es zu prüfen davon ausgeht, daß der Dichter in Mysterien zu sprechen pflegt, die sich dem gewöhnlichen Menschen nicht erschließen. Vom Übersetzer in seiner Aufgabe als Vermittler ist mehr zu erwarten, als dem Problem auf diese Weise auszuweichen. Sicher kann er im Zweifel nicht zwei Varianten anbieten oder lange Erklärungen statt einer Formulierung abliefern, er steht letztlich allein mit seiner Entscheidung und sollte sich deshalb jedes Hilfsmittels - mit Biß - bedienen. Ein geringer Trost bei schwierigen Fällen mag sein, daß es in der Regel nicht der Genius ist, der ein Gedicht unverständlich erscheinen läßt. Rimbaud liebte es anscheinend, sich zu inszenieren und hatte damit Grund genug zur Verklärung, auch wenn er das Handwerk eigentlich beherrschte.

Noch einmal zum Ausgangspunkt zurück, zu der Frage, inwieweit diese Prosagedichte einen Einblick in eine andere Zeit und in eine andere Lebenswelt ermöglichen:
Eigentlich muß man sie mit einem klaren Nein beantworten, weil Rimbaud genauso um sich selbst kreist wie das Gros der Menschen heute. Es überwiegen eher die Parallelen als die Unterschiede, an denen sich der Leser reiben könnte. Stattdessen trifft er einen selbstzentrierten Individualisten, der sich in der Welt spiegelt, Reflexionen und Echos notiert und dann überarbeitend dem Klange lauscht. Die Ergebnisse erinnern an heutige Lyrik, wenn sie sich in ihrer Gesamtheit auch mit einem größeren Wort- und Bildreichtum präsentieren, den Rimbaud seiner gründlichen bürgerlichen Bildung sowie seiner frühen Einführung in Dichterkreise verdankt.


Jugend II - Sonett

War für mich, einen Mann von ganz gewöhnlicher Beschaffenheit, das Fleisch nicht eine im Obstgarten hängende Frucht, o Tage der Kindheit! der Leib ein Schatz, verschwendet zu werden; o Lieben, die Gefahr oder die Kraft der Psyche? Die Erde besaß Abhänge, fruchtbar an Fürsten und Künstlern, und Abstammung und Rasse trieben uns zu den Verbrechen und Traurigkeiten: die Welt, euer Reichtum und eure Gefahr. Aber jetzt, da diese Aufgabe vollbracht ist, sind du, deine Pläne, du, deine ungeduldigen Wünsche, nichts weiter als dein Tanz und deine Stimme, nicht festgenagelt und nicht vergewaltigt, obwohl Ursache eines Doppelereignisses von Erfindung und Erfolg, in der brüderlichen und verschwiegenen Menschheit überall in der Welt ohne Bilder; - die Macht und das Recht spiegeln den Tanz und die Stimme wider, die erst jetzt gewürdigt werden.
(S. 81)


Die Wut seiner Auslassungen zur Zeit des blutigen Kriegs der herrschenden Klasse gegen die Pariser Kommunarden - es starben 30.000 Menschen, die den Aufstand wagten - scheint Resignation im persönlichen wie politischen Bereich gewichen. Es ist gar nicht so rätselhaft, daß er kurz darauf das Dichten völlig aufgegeben und das Land hinter sich gelassen hat. Gleichwohl verwundert es auch nicht, daß der Blick mit Vorliebe auf sein selbstanalytisch-verzweifeltes und verklärend-reflektierendes Werk gerichtet wird und nicht auf den Zorn früherer Tage. Mag sein, daß jene Kampfparolen lediglich ihre Entsprechung im unreflektierten und wenig wirksamen "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" finden, trotzdem, wenn man sich schon mit Rimbauds Dichtung beschäftigt, sollte man diese nicht aussparen; sie gehören zu seinem ursprünglichen Selbstverständnis. Darüber hinaus bieten sie einen Anhaltspunkt für eine konkrete Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen, läßt sich mit ihrer Hilfe doch ein Stück Zeitgeschichte aufrollen, das ansonsten eher nicht zur Sprache kommt.

Was ist uns das, mein Herz? All diese Lachen Blut
Und Glut und tausend Morde, und der Seufzerhall
Der ganzen Hölle, alle Ordnung stürzend, und der Wut
Gedehnter Schrei; ...
... Fabrikherrn, Ratsherrn, Fürstenpracht,
Geht unter! ...

(zitiert nach "Das Trunkene Schiff", Jens Harzer liest
Gedichte von Arthur Rimbaud, NOA NOA Hör-Buchedition)


Eine kleine inhaltliche Hilfestellung für die "Farbstiche" findet sich samt Zeittafel im Anhang. Wer noch ein wenig mehr über Rimbaud erfahren möchte, findet Stoff in "Une saison en enfer/Eine Zeit in der Hölle" (Reclam UB 7902), besonders wegen des Nachworts und der dortigen Zeittafel, und in "Baudelaire - Rimbaud - Verlaine - Mallarmé: Poésies" (Reclam UB 9286).


19. August 2005


Arthur Rimbaud
"Illuminations - Farbstiche"
Französisch/Deutsch
Übersetzung von Walther Küchler (c) 1946
Anmerkungen von Wilhelm Richard Berger
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002
Universal-Bibliothek UB 8728
131 Seiten, 3,60 Euro
ISBN 3-15-008728-7