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BUCHBESPRECHUNG/040: Vom Aufbruch der Perestroika zum Untergang der Sowjetunion (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 7 vom 15. Februar 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Vom Aufbruch der Perestroika zum Untergang der Sowjetunion
Zu Jegor Ligatschows Buch "Wer verriet die Sowjetunion?"

von Willi Gerns



Die Veröffentlichungen zur Perestroika und zur Konterrevolution in der UdSSR sind inzwischen kaum noch überschaubar. Mit dem Buch Ligatschows ist ein weiterer Titel hinzu gekommen. Nur eine Publikation mehr, die kaum neue Erkenntnisse zu bringen vermag? Keineswegs! Das Buch hat gegenüber den meisten vorliegenden Arbeiten eine Reihe wesentlicher Vorzüge infolge derer auch Kenner der Materie durchaus Neues erwarten können:


Vorzüge des Buches

Erstens. Der Autor war im Vorfeld der Perestroika und während ihrer ersten Etappe einer der engsten Vertrauten Gorbatschows. Er kennt diejenigen Seiten Gorbatschows, die viele - darunter auch ihn selbst - zunächst in dessen Bann gezogen haben, besser als jeder andere in der Führung der KPdSU. Das gleiche gilt aber auch für die sich im Laufe des Perestroika-Prozesses offenbarenden Schwächen und Charaktereigenschaften Gorbatschows, die seine verhängnisvolle Rolle als Wegbereiter der antisowjetischen Konterrevolution begünstigten. Dazu gehörte u. a. seine Eitelkeit, sein Streben nach dem "Glorienschein des aufgeklärten Monarchen" (Ligatschow) und seine Sorge darum, wie seine Aussagen und Vorschläge in der Sowjetunion selbst und nicht zuletzt im Ausland "ankommen".

Zweitens. Ligatschow hat in herausragendem Maße zur Ausarbeitung der Konzeption der sozialistischen Perestroika und als "Zweiter" in der KPdSU zu deren Umsetzung beigetragen. Er ist auch heute noch davon überzeugt, dass eine solche Perestroika unbedingt notwendig war. Im Zuge der Entartung der Perestroika zum Sprungbrett für die antisozialistische Konterrevolution - wofür er vor allem Jakowlew und Gorbatschow die Hauptverantwortung zuweist - ist er dann zu deren schärfsten Kritiker in der KPdSU-Führung geworden.

Drittens. Der Autor kennt die KPdSU, die mehr als sieben Jahrzehnte die Geschicke des Landes entscheidend bestimmte, von der Basis über die Rayon- und Bezirksebene bis in den engsten Machtzirkel an der Spitze der Partei aus seiner eigenen Tätigkeit. Wer ein solches Parteileben hinter sich hat, der kennt seine Partei in ihren Stärken und Schwächen, ihre gewaltigen historischen Leistungen und ihre negativen Seiten wie Karrierismus, Vetternwirtschaft, Machtkämpfe und andere Entartungen. Zu den Stärken des Buches gehört, dass auch über die Schattenseiten offen gesprochen wird.

Viertens. Nicht zuletzt unterscheidet sich der Autor von den meisten ehemaligen Spitzenfunktionären der KPdSU und des Sowjetstaates - darunter auch von denen, die heute über die Zeit der Perestroika und den Untergang der UdSSR publizieren - dadurch, dass er organisierter Kommunist geblieben ist und von diesem Standpunkt aus die Ereignisse beurteilt. Ligatschow ist stellvertretender Vorsitzender und Sekretär des Rates der Union der Kommunistischen Parteien-KPdSU, Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und der Moskauer Abteilung der KPRF. Dies hält ihn übrigens nicht davon ab auch in der KPRF kritisch Stellung zu beziehen, wenn er in seiner Partei bestimmte Entwicklungen für problematisch hält.

Fünftens. Als Vorzug des Buches soll schließlich noch darauf hingewiesen werden, dass es allgemeinverständlich geschrieben ist, Fremdwörterbücher oder Glossare werden nicht benötgt. Zudem werden den deutschen Leserinnen und Lesern weniger geläufige russische Ereignisse und Daten in Anmerkungen erläutert. Hilfreich ist auch eine Kurzchronik der Ereignisse der Perestroika im Anhang.

Der Zeitraum, den die Publikation erfasst, reicht von 1983 als Ligatschow von Tomsk nach Moskau versetzt und zum Leiter der Organisationsabteilung des ZK der KPdSU berufen wurde, bis zur Niederlage der Perestroika und zur Zerschlagung der Sowjetunion. Inhaltlich geht es in den ersten Kapiteln um den Übergang aus der BreschnewÄra zu der kurzen, aber den Geist des Aufbruchs und der Umgestaltung atmenden Zeit unter der Führung Andropows und weiter um die ebenfalls nur kurze Zeit mit dem gebrechlichen Generalsekretär Tschernenkow bis zum Machtantritt Gorbatschows. Im Zentrum des Buches stehen dann aber die dramatischen Entwicklungen der Perestroika.


Vom Umbau zum Abriss

Hier werden die ersten erfolgreichen Jahre des Umbaus mit ihren Fortschritten in der Wirtschaft sowie bei der Entwicklung der sozialistischen Demokratie behandelt. Im Weiteren nahmen dann die Probleme immer mehr zu. Unter der Fahne des Kampfes gegen die "Konservativen" - so wurden die am Kurs einer sozialistischen Perestroika festhaltenden Kräfte abgestempelt - erhob die Konterrevolution mehr und mehr das Haupt. Eine besonders verhängnisvolle Rolle spielten dabei die Massenmedien, für die der von Gorbatschow zum Politbüromitglied gekürte Jakowlew die Verantwortung hatte. Die Losungen der Perestroika wurden mehr und mehr ausgehöhlt, ihres sozialistischen Inhalts beraubt und in ihr Gegenteil verkehrt. Behandelt wird dies am Beispiel der ursprünglich richtigen Losung von den verschiedenen Realisierungsformen des sozialistischen Eigentums sowie der Losung von den allgemeinmenschlichen Werten. "Glasnost" wurde zum Vehikel, mit dem die schmutzigsten Verleumdungen gegen die den Sozialismus verteidigenden Kräfte verbreitet wurden. Proteste dagegen wurden jedoch von den "Kämpfern für die Offenheit" in den Medien rigoros unterbunden. Ligatschow beschreibt diese Entwicklung an zahlreichen Beispielen, darunter an den Machenschaften gegen ihn selbst, am Beispiel der Kampagne gegen den Chefredakteur des theoretischen Parteiorgans "Kommunist", Richard Kosolapow, oder des Umgangs mit dem Leserbrief der Leningrader Hochschullehrerin Nina Andrejewna. Gorbatschow schwieg zu alledem, warnende Briefe von besorgten Parteimitgliedern landeten im Papierkorb.

Die gleiche, alle Warnungen in den Wind schlagende Position nahm der Generalsekretär, der inzwischen ganz unter dem Einfluss Jakowlews stand, auch im Zusammenhang mit dem immer mehr um sich greifenden Nationalismus und Separatismus ein, die den Bestand der Union akut gefährdeten. Schließlich wurden die an sozialistischen Positionen festhaltenden Kommunisten aus dem ZK und dem Politbüro entfernt, Jakowlew und seine Leute übernahmen an der Seite Gorbatschows faktisch das Kommando.

Als Resümee aus den hier nur exemplarisch angeführten Analysen kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Perestroika trotz ihrer anfänglichen Leistungen eine Niederlage erlitt: "Sie verlor ihre demokratische Ausrichtung und fand ihr Ende in einem konterrevolutionären Staatsstreich, der Zerstörung der Sowjetmacht und der Zerstückelung der Sowjetunion. (...) Die Perestroika erfuhr diese Niederlage, weil die Grundfesten der sozialistischen Ordnung zerstört wurden: das gesellschaftliche Eigentum und die Planwirtschaft." (S. 272/273)


Die Verantwortlichen für die Konterrevolution

Ligatschow benennt die Verantwortlichen für die Niederlage: Karrieristen, Separatisten und politische Wendehälse in der Führung der Partei und des Staates sowie der Unionsrepubliken. (S. 291/292)

Und er nennt auch den Hauptverantwortlichen: "Ich werde immer wieder gefragt: Wer aber war denn der Hauptakteur bei der Zerrüttung der Sowjetunion? Wer trägt die Schuld an all dem Übel, das mit schrecklicher Gewalt über das Volk hereingebrochen ist? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Doch mit der Zeit hat sich die Antwort heraus kristallisiert: Gorbatschow. In meinem Buch habe ich versucht, anhand wesentlicher Episoden aus meinem persönlichen Erleben und anhand von Schlussfolgerungen zu begründen, warum ich Gorbatschows Rolle eben so sehe." (S. 292)

Wenn der Autor daran anschließend allerdings den Ausspruch des von Gorbatschow enttäuschten langjährigen sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko aus dem Jahr 1989 zitiert: "Die Generalsmütze passt nicht für den Mischka", und es dabei bewenden lässt, so ist dies nur ein Teil des Problems. In der Tat stellte sich heraus, dass die Fähigkeiten Gorbatschows weit von den Anforderungen entfernt waren, die an den ersten Mann der damals mächtigsten kommunistischen Partei und Führer der Supermacht Sowjetunion gestellt werden mussten. Aber Gorbatschow war nicht nur schwach und unfähig. Er verfolgte offenbar auch andere Absichten mit der Perestroika als Ligatschow, Gromyko, Zigtausende ehrliche Kommunisten und einfache Menschen in der Sowjetunion.

Schließlich gestand Gorbatschow 1993 in einem Spiegel-Interview selbst ein: "Gorbatschow musste das Schiff der Perestroika durch die Klippen steuern. Dabei konnte man noch nicht Dinge ankündigen, für die das Volk noch nicht reif war. Man hätte mich für verrückt erklärt, das Volk wäre zerrissen worden, es hätte zum Bürgerkrieg kommen können. Man musste Geduld zeigen, bis die Parteibürokratie so entmachtet war, dass sie das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen konnte." Seinen wirklichen politischen Standort beschreibend sagte er weiter: "Wenn Sie meine Aussagen nehmen, dann wird Ihnen klar, dass meine politischen Sympathien der Sozialdemokratie gehören."

Abgeschlossen wird die Publikation Ligatschows mit einem kurzen Epilog über die verheerenden Folgen der Konterrevolution und der Wiederherstellung des Kapitalismus in Russland für das Land und die große Mehrheit seiner Menschen sowie knappen Anmerkungen über die Notwendigkeit eines neuen Aufbruchs zum Sozialismus in Russland und den Weg dahin.


Jegor Ligatschow: Wer verriet die Sowjetunion? Verlag Das Neue Berlin 2012, 320 Seiten, 16,95 Euro. (russischen Originalausgabe: Moskau 2010)

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 7 vom 15. Februar 2013, Seite 10
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2013