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BUCHBESPRECHUNG/041: Mathilde Franziska Anneke - "Von vielem Geist und großer Herzensgüte" (G. Feldbauer)


Mathilde Franziska Anneke
Leidenschaftliche Revolutionärin und Kämpferin für die Rechte der Frau

Eine Biografie gibt Auskunft

von Gerhard Feldbauer, 1. März 2013



Mathilde Franziska Anneke, eine leidenschaftliche Teilnehmerin an der deutschen Revolution 1848/49, danach eine herausragende Persönlichkeit der amerikanischen Demokratie- und Frauenbewegung war lange Zeit in Deutschland kaum bekannt. Sie wurde 1817 im westfälischen Sprockhövel, einer heute 25.000 Einwohner zählenden Kleinstadt, geboren. Über das kampferfüllte Leben der prominenten Einwohnerin hat jetzt Karin Hockamp, Leiterin des Archivs ihrer Geburtsstadt, eine eindrucksvolle Biografie verfasst. Unter dem Titel "Von vielem Geist und großer Herzensgüte" haben die Städte Sprockhövel und Hattingen (der zwischen Bochum und Wuppertal liegende spätere Wohnort von Mathilde) sie im Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum im November 2012 herausgegeben. Es ist eine fundierte Publikation, gut mit Quellen belegt, einprägsam und menschlich einfühlsam geschrieben, mit zahlreichen Abbildungen illustriert.

Buchcover 'Von vielem Geist und großer Herzensgüte' mit einem Porträt von Mathilde Franziska Anneke



In Deutschland war Mathilde eine "Tochter aus gutem Hause, hungernde Poetin, revolutionäre Journalistin und Schriftstellerin, politisch verfolgte Asylantin", schreibt Karin Hockamp. Die "frühe Feministin und Sozialistin" ließ sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden und schlug sich mehr schlecht als recht als alleinerziehende Schriftstellerin mit einer kleinen Tochter durch, von der sogenannten besseren Gesellschaft verachtet.


Ordonanzreiterin in der Revolutionsarmee

Mathilde und ihr zweiter Mann Fritz Anneke, ein ehemaliger preußischer Artillerieoffizier, Mitglied der Kölner Gemeinde des Bundes der Kommunisten, nahmen in der letzten Etappe der deutschen Revolution 1849 an den Kämpfen in den Reihen der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee teil. Bereits 1853 erschien in den USA, wohin die Annekes nach der Niederlage der Revolution mit Zehntausenden anderen flüchteten, die Erstausgabe ihrer "Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Kriegszug" (Newark, New Jersey), später eine Wiedergabe in den "German American Annals" (Philadelphia 1918), Nachdruck Bochum 1976. Noch heute widerspiegeln diese Erinnerungen die Leidenschaftliche Anteilnahme, den Schmerz über die Niederlage, die Trauer über den Verlust so vieler, die ihr Leben hingaben. Sie gibt zu, dass sie auch aus Liebe mit ihrem Mann in den Krieg zog, um dann zu gestehen: "der Hass, der glühende, im Kampf des Lebens erzeugte Hass gegen die Tyrannen und Unterdrücker der heiligen Menschenrechte" habe sie getrieben. Ihre Aufzeichnungen endeten mit den Worten: "Lebe wohl, deutsche Erde! Lebe wohl, mein armes unglückliches Mutterland".

Mathilde war im badisch-pfälzischen Feldzug 1849 als Ordonanzreiterin auch bei den Gefechten des Freikorps von Oberst August Willich zugegen, in dem Friedrich Engels Stabschef und Adjutant war. Ihre Memoiren enthalten detaillierte Schilderungen der Gefechte, so auch wie Engels bei Rinnthal als Kommandeur eines Seitendetachements mehrere Stunden "zeitweise im dichtesten Feuer" stand. "Sein Eifer und sein Mut wurden von seinen Kampfgenossen ungemein lobend hervorgehoben", schrieb sie.


Auf dem Wall der Festung Rastatt

Unterhalb der Festung Rastatt an der Murg stellten sich am 28./29. Juni 1849 noch 13.000 Kämpfer der Revolutionsarmee der Übermacht von über 40.000 Mann des preußischen Interventionskorps zur letzten Schlacht, die sie, gestützt auf die weitreichende schwere Festungsartillerie, trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit lange Zeit für sich entscheiden konnten und die Preußen an verschiedenen Abschnitten sogar weit zurückwarfen. Mathilde verfolgte die zweitägigen erbitterten Kämpfe vom Wall der Festung aus, während ihr Mann unten an der Murg die Artillerie kommandierte. Die Preußen konnten die Schlacht erst für sich entscheiden, als sie überraschend über das neutrale Württemberg vorstießen, die badisch-pfälzischen Einheiten unter dem Kommando des polnischen Revolutionärs Ludwik Mieroslawski umgingen und dessen rechten Flügel zerschlugen. Während ein Teil der Truppen nach der Niederlage sich in die Festung zurückzog, marschierten etwa 7000 Mann nach Süden. Mit einer Nachhut des Freikorps Willich deckte Engels den Rückzug, der am 11. und 12. Juli bei Lottstetten mit dem Übertritt in die Schweiz endete.


Der Exekution entkommen

Um die Zivilbevölkerung vor dem Artilleriebeschuss zu bewahren, kapitulierte Rastatt am 23. Juli. Der preußische Befehlshaber, General Graf von der Groeben, der eine angemessene Behandlung der Gefangenen zugesagt hatte, ließ stattdessen sofort den Festungskommandanten Oberst Tiedemann und 27. seiner Offiziere standrechtlich erschießen. Zahlreiche weitere folgten. "Ich habe fast alle gekannt", schrieb Mathilde. Die Henkersknechte nennt sie "preußische Standrechtsbestien". Hunderte sterben in den Kasematten der Festung ohne medizinische Hilfe an Typhus, unzählige werden heimlich ermordet, Tausende fallen im ganzen Land dem Terror der Feudalreaktion zum Opfer, Zehntausende werden gerichtlich verfolgt, insgesamt 700.000 Teilnehmer an den Erhebungen 1848/49 in die Emigration getrieben.

Mathilde und Fritz gelang es zu entkommen, bevor die Preußen den Belagerungsring um die Festung schlossen. Über Straßburg und die Schweiz flohen sie in die USA, wo sie sich zunächst in Milwaukee/Wisconsin, einer Stadt mit zahlreichen Deutschstämmigen, niederließen. Fritz kämpfte später, wie viele aus der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee im Bürgerkrieg als Oberst in den Reihen der Unionstruppen.


Ringen um politische und soziale Gerechtigkeit

Dass die Teilnahme an der Revolution in Deutschland, die Mathildes weiteres Leben entscheidend prägte, zu kurz kommt, ist der Tatsache geschuldet, dass Karin Hockamp sich in ihrer Biografie auf ihr atemberaubendes Leben in den USA konzentriert. In Deutschland von bourgeoisen Schreiberlingen als "Flintenweib" diffamiert, galt sie dort "als die bedeutendste Frau der Achtundvierziger, die sich und ihre demokratischen Ideen ans andere Ufer gerettet hatten". In den USA, wo ihr Wirken "zu einem bedeutenden Faktor im Ringen um politische und soziale Gerechtigkeit" wurde, fand Mathilde große Achtung und Anerkennung. Sie hielt Vorträge über die deutsche Revolution, über Literatur des Vormärz (Heine, Herwegh, Freiligrath, Sallet), engagierte sich in fortschrittlichen und politisch radikalen Gruppierungen, trat der Gemeinde der Freidenker bei und wurde später Gründungsmitglied der Frauensektion der I. Internationale. Ab 1852 gab sie die "Deutsche Frauenzeitung" heraus, die sie zweieinhalb Jahre leitete und zu einer für diese Zeit erstaunlichen Auflage von 2.000 Exemplaren brachte. Auf ihren zahlreichen Vorträgen forderte sie Gleichberechtigung und vor allem das Wahlrecht für Frauen, trat für die Aufhebung der Sklaverei und für die Trennung von Kirche und Staat ein. Von der Leidenschaft, mit der sie sprach, zeugten Worte wie diese: "Auf denn, Ihr Schwestern! Werft den hohlen Flitter des Putzes und der Eitelkeit ab und schafft, dass Euch der Mann um dessentwillen liebt, was Ihr seid." In diesem kampferfüllten Leben gebar Mathilde sieben Kinder, von denen sie fünf begraben musste. Karin Hockamp verdeutlicht, dass Mathilde dabei dem Leben der Menschen stets mit Verständnis und "großer Herzensgüte", so der bewusst gewählte Titel, gegenüberstand.

Ab 1860 wieder längere Zeit in Europa, gehörten zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis die amerikanische Schriftstellerin Mary Booth, Georg und Emma Herwegh, Gottfried Keller, Ferdinand Lassalle und Gräfin Hatzfeld. Einem neuen revolutionären Aufschwung in Deutschland stand sie skeptisch gegenüber. "An die Revolution in Deutschland glaube ich nicht. Der Michel kann zu viele Fußtritte vertragen und fürchtet sich zu sehr vor den Gendarmen", schrieb sie.


Ein Mädchen-Institut orientiert an der Pädagogik Friedrich Fröbels

Zurück in den USA gründete Mathilde, die Pädagogin aus Naturtalent, mit der Lehrerin Cäcilie Kapp, die sie in der Schweiz kennengelernt hatte, 1865 in Milwaukee ein Mädchen-Institut mit Internat, das sich an der Pädagogik Friedrich Fröbels orientierte. Neben Literatur wurde großer Wert auf Mathematik und Naturwissenschaften gelegt und den jungen Frauen eine Lebenssicht vermittelt, die aus dem Kreis "Kinder, Kirche, Küche" herausführen sollte. Das in den USA hoch angesehene Institut zählte bis zu 65 Schülerinnen.

Mathilde verstarb am 25. November 1884 in Milwaukee. Zu einer großen Zahl von Nachrufen gehörte auch der in der "New Yorker Zeitung", den die "Hattinger Zeitung" unter der Überschrift "Eine berühmte Deutsch-Amerikanerin" abdruckte. Dass Mathilde eine ehemalige Bürgerin der Stadt war, geriet jedoch bald wieder in Vergessenheit. Erst ein Jahrhundert später sollte sich das ändern.

Altersbildnis von Mathilde Franziska Anneke - gemeinfrei

Altersbildnis von Mathilde Franziska Anneke
unbekannter Fotograf veröffentlicht vor 1923, fotografiert vor 1884
gemeinfrei


Späte Ehrung in der deutschen Heimat

Von und über Franziska Anneke erschienen neben ihren Memoiren über den badisch-pfälzischen Kriegszug mehrere weitere Publikationen, darunter von Klaus Schmidt "Mathilde Franziska und Fritz Anneke. Eine Biographie", Köln 1999. Das ausführliche Literaturverzeichnis enthält die zahlreichen Bücher und Schriften Mathildes. Im gleichen Jahr erschien in Münster ein Bericht von Wilfried Reininghaus: "Die Revolution 1848/49 in Westfalen und Lippe", über die Tagung der Historischen Kommission für Westfalen am 18./19 Februar 1999 in Iserlohn, aus dem der Beitrag von Franz-Werner Kersting "Das Weib in Conflict mit den socialen Verhältnissen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49" herausragte.

Eindrucksvoll die 2004 von Erhard Kiehnbaum "Bleib gesund mein liebster Sohn Fritz..." veröffentlichten Briefe Mathilde Franziska Annekes an Friedrich Hammacher, 1846-1849. Online ist abrufbar: Anneke, Mathilde Franziska (Biographie im Internetportal "Westfälische Geschichte" des LWL).

Lange Zeit in Deutschland ignoriert fand sie seit dem Nachdruck ihrer Memoiren 1976 in Bochum auch in ihrem Geburtsland Aufmerksamkeit. Am Geburtshaus Overleveringhausen in Sprockhövel erinnert eine Gedenktafel an sie. 1988 widmete die Bundespost ihr eine Briefmarke in der Reihe "Frauen in der deutschen Geschichte". In den 1980er Jahren fand sie Aufnahme in das Figurenprogramm des Kölner Rathausturms. Die von der Bildhauerin Katharina Hochhaus gestaltete Figur wurde 1995 an der Ostseite des Turmes aufgestellt.

Im Rahmen der "Ruhr 2010" verlieh der Bürgermeister von Sprockhövel, Dr. Walter Wattenscheid, einen "Anneke-Preis" für besondere Leistungen im Frauenbildungsbereich an den "Frauensalon" des IG Metall-Bildungszentrums. Ab 2013 soll er alle zwei Jahre vergeben werden. Auskunft über Leben und Wirken Mathildes gibt auch das 1986 eingerichtete Stadtarchiv von Sprockhövel, für das der damalige Archivar, Martin Sturm, Kopien des Nachlasses der Familie Anneke aus den USA beschaffte und damit den Grundstein für einen Bestand legte, der seitdem ständig erweitert wurde.


Mahnung für die Gegenwart

Der Bürgermeister von Sprockhövel, Dr. Klaus Walterscheid, und die Bürgermeisterin von Hattingen, Dr. Dagmar Goch, haben in ihrem Vorwort zur Herausgabe der Biografie geschrieben: "Mathilde Franziska Anneke hat ein Leben gemeistert, das an Problemen und Herausforderungen kaum zu überbieten war. Bewundernswert ist ihre empathische und konsequente am gesellschaftlichen Fortschritt orientierte Denk- und Handlungsweise."

Karin Hockamp hob im Vorwort hervor: "In Zeiten, in denen Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und gleiche Chancen auf Bildung und Wohlstand auch in unserer Gesellschaft in erschreckendem Maße zur Disposition stehen, Werte und Maßstäbe einem dramatischen Wandel unterliegen, kann nicht genügend auf den radikalen Humanismus der Mathilde Franziska Anneke und ihr lebenslanges Streben nach einer besseren Welt hingewiesen werden. Sie hat, allen Schwierigkeiten und Schicksalsschlägen zum Trotz, ihre Ideale nicht nur propagiert, sondern sie auch selbst gelebt."


Karin Hockamp: "Von vielem Geist und großer Herzensgüte".
Mathilde Franziska Anneke (1817-1884). Stadt Sprockhövel & Stadt Hattingen.
Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum 2012.
ISBN: 978-3-8196-0881-0. Euro 8,90.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2013