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BUCHBESPRECHUNG/071: "Arztroman" von Kristof Magnusson (Klaus Ludwig Helf)


Kristof Magnusson: "Arztroman"

von Klaus Ludwig Helf, 4. Dezember 2014


In diesem Roman erfahren wir viel über den Notärzte-Alltag in den Rettungseinsätzen mit einem sogenannten NEF, einem Notarzt-Einsatzfahrzeug - Auch ein Berlin-Roman

Jetzt liegt im Kunstmann-Verlag ein Arzt-Roman vor - keine Bange, es ist keiner der üblichen Emergency-Room-Geschichten, sondern eher einer, der von den alltäglichen Stress-Situationen einer Berlin-Neuköllner Notärztin im Dauerdienst erzählt, von ihren privaten Problemen und von ihren Lästereien und Ausbrüchen gegen die überbordenden Auswirkungen des neoliberalen Zeitgeistes. Autor ist Kristof Magnusson (deutsch-isländischer Abstammung, Jahrgang 1976); er machte eine Ausbildung zum Kirchenmusiker, arbeitete in der Obdachlosenhilfe in New York, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig; er lebt als Autor und Übersetzer aus dem Isländischen in Berlin. Sein Debütroman "Zuhause" (2005) wurde mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet, sein Roman "Das war ich nicht" (2010) war ein Bestseller; sein Theaterstück "Männerhort" tourte an über 80 nationalen und internationalen Bühnen; die Verfilmung dieser Komödie mit Christoph Maria Herbst, Detlev Buck und Elyas M'Bareki ist seit Oktober in den Kinos.

In der "Suffmanufaktur" sitzt Anita beim x-ten Damengedeck (Wein und Likör); bei der Formulierung des Motivationsschreibens für ihre Bewerbung bei "Ärzte ohne Grenzen" kommt sie in schwere und tiefe Gedanken über ihr bisheriges Leben; sie hatte sich für glücklicher gehalten als die meisten anderen Menschen:

Sie hat gearbeitet und gleichzeitig ihr Kind großgezogen - das war ihr gelungen, weil sie immer eine Optimistin gewesen war ... Doch wenn sie sich jetzt in dieser Kneipe umsah, hielt sie das für den größten Blödsinn, den jemals ein Mensch gedacht hatte. Sie hat kein Leben gelebt, sondern eine Lebenslüge ... Sie hat sich furchtbar getäuscht, und zwar nicht in anderen Menschen, sie hatte sich in sich selbst getäuscht. [S.274]

Darauf zerreißt sie ihren Lebenslauf und macht sechzehn kleine Fetzen aus ihrem Leben; sie fühlt sich einsam, besiegt und zertrampelt. Anita Cornelius ist Notärztin am Berliner Urban-Krankenhaus; zusammen mit ihrem schwulen Rettungswagenfahrer Maik hetzt sie atemlos durch Neukölln und Kreuzberg von einer unerwarteten Notfallsituation zur anderen. Bislang liebte sie ihren Beruf und versteht es, sich in brisanten Situationen blitzschnell anzupassen und zu reagieren - aber ganz anders sieht es im Privatleben aus. Anita ist verheiratet mit ihrem Kollegen und Stationsarzt Adrian; beide haben sich beim Medizinstudium kennengelernt, geheiratet und haben sich in bestem Einvernehmen getrennt. Ihr gemeinsamer vierzehnjähriger Sohn Lukas lebt bei seinem Vater und dessen Freundin Heidi, die zuerst Anitas beste Freundin und dann auch die Vertraute des Ehepaars war. Heidi wird vom Autor psychologisch messerscharf als eine fiese Intrigantin geschildert, die die Menschen in ihrer Umgebung gegeneinander auszuspielen weiß und fast immer ihren Willen durchsetzen kann; auch Lukas will sie dem mütterlichen Einfluss entziehen; zuletzt scheint ihr dies zu gelingen durch einen von ihr forcierten Umzug der Patchwork-Familie in eine weit von Berlin entfernte dörfliche Arzt-Praxis. Der Roman erzählt eine Geschichte aus dem normalen, harten Alltag des Krankenhaus- und Not-Ärzte-Milieus, ohne ein typischer Arzt-Roman zu sein: keine allwissenden Halb-Götter in Weiß oder wohlhabende braungebrannte Schicky-Micky-Chirurgen mit knackigen, lasziven MTAs oder Krankenschwestern. Klar geht es auch hier um Liebe&Hiebe, heterosexuelles und schwules Beziehungschaos, aber vor allem um die Midlife-Crisis von Anita und Adrian, deren privates und auch berufliches Leben durch mangelnde Selbstachtsamkeit und Resilienz total aus den Fugen gerät. Wir begleiten Anita auf ihren atemberaubenden Notfall-Einsätzen im Berliner Bezirk Neukölln wie sie zusammen mit Rettungsassistent Maik Herzinfarkte, Hysterie-Attacken, Stürze, Synkopen, Atemnotanfälle beherzt, kompetent, professionell und zuweilen unkonventionell meistert.

Bei ihrem stressigen wie verantwortungsbewussten Job gehen ihre privaten Beziehungen bald in die Binsen und sie überwirft sich mit allen Bezugspersonen, sogar mit ihrem neuen Freund und Verehrer Rio; bei einer von ihm gruppendynamisch angelegten Bootsfahrt mit Anitas Patchwork-Familie kommt es zum Show-down zwischen ihr und Heidi; Anita verkracht sich mit allen - auch mit ihrem vertrauten Arbeitskollegen Maik. Sie fängt an zu saufen und schlingert im Beruf: "Sollte das noch dreißig Jahre so weitergehen? 25.000 Patienten, überschlug sie schnell im Kopf, 50.000 blaue Einweghandschuhe, vielleicht 15.000 venöse Zugänge, 10.000 Nasenbrillen für Sauerstoff und mindestens 5.000 Einsätze? Tendenz steigend" (S. 277). Auch Adrian reibt sich in seinem Job als Stationsarzt und als Ehemann und Vater auf und verliebt sich in die beste Freundin Anitas, die ihm ganz neue Wege der Lebensführung aufschließt. Alles wäre wahrscheinlich beim schönen harmonischen Schein geblieben, hätte nicht Anita ihren Ex Adrian zufällig bewusstlos in der Krankenhaustoilette gefunden, zugedröhnt mit dem Narkose- und Schmerzmittel Ketamin; auch Heidis flotte, neoliberale Sprüche und ihre erfolgreichen Vereinnahmungsstrategien bei Adrian und Lukas bringen Anita auf die Palme:

Anita hat gedacht, dass sich durch die Trennung gar nicht so viel ändern würde, dass im Prinzip alles so weiterginge wie bisher, nur in anderen Wohnungen ... sie würden neue Partner integrieren und so ein normales, harmonisches Patchwork-Leben führen. Dass das eine Illusion gewesen war, hätte sie vielleicht längst bemerken können ... Etwas war plötzlich anders geworden. Oder hatte es schon vor langer Zeit angefangen, sich zu verändern, und sie hatte es nicht bemerkt? Sie musste sich kümmern. Sie brauchte einen Plan. [S.130]

Bis zum Ende des Romans passieren noch viele Turbulenzen, An- und Ausfälle und Anita gibt zum Schluss - so viel sei hier verraten - den Verstrickungen einen entscheidenden Dreh und übernimmt eine nicht selbst verschuldete Verantwortung. In diesem Roman erfahren wir viel über den Notärzte-Alltag in den Rettungseinsätzen mit einem sogenannten NEF, einem Notarzt-Einsatzfahrzeug und lernen - so nebenbei - viel medizinisches Vokabular und über notärztliches Handling; es ist auch ein Berlin-Roman, der einiges über das alltagskulturelle Leben und Treiben und über die Menschen im trendigen Bezirk Berlin-Neukölln lebendig und manchmal ironisch gebrochen erzählt. Es ist schon faszinierend zu lesen, wie präzise der Autor Magnusson recherchiert hat und wie er das medizinische Vokabular fast organisch in seine Erzählung einfließen lässt. Der Roman ist ernst und zuweilen tragisch, aber auch von Heiterkeit und Leichtigkeit beschwingt.

Die Geschichte ist dynamisch, fesselnd und packend geschrieben, voller Spannungsmomente, witzig und humorvoll; stilistisch nicht umwerfend kreativ, aber gut und flüssig erzählt. Mit Empathie werden die Figuren, vor allem Anita, Andreas, Rio und Maik dargestellt. Das Ende missrät dem Autor - leider etwas oberflächlich kitschig und rührselig - zu einem fast operettenhaften Happy End: Ausgerechnet am 24. Dezember bei der internen Weihnachtsfeier im Bereitschaftsraum des Urban-Krankenhauses lösen sich bei Anita wohlgefällig alle psychischen Verwicklungen und Konflikte auf bei Würstchen und Kartoffelsalat: Versöhnung mit Maik und mit ihrem neuen Liebhaber Rio, auch der scheinbar verlorene Sohn Lukas ist wieder da, eine drohende Flugzeugkatastrophe bleibt aus: Fröhliche Weihnachten.

Kristof Magnusson
Arztroman
Verlag Antje Kunstmann, Berlin 2014
312 Seiten
19,95 Euro
auch als epub/ebook und als Hörbuch erhältlich

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Quelle:
© 2014 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2015

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