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BUCHBESPRECHUNG/085: "Cybersex. Psychoanalytische Perspektiven" von Agatha Merk, Hg. (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Agatha Merk (Hg.)
"Cybersex. Psychoanalytische Perspektiven"

von Klaus Ludwig Helf, November 2015


Das Internet prägt heute das sexuelle Leben und Erleben, die intimen Beziehungen, einer wachsenden Zahl von Menschen, die online auf Chats, Dating- oder Sex-Portalen oder Ähnlichem unterwegs sind; "Internetsexualität" hat sich inzwischen als spezifischer, eigenständiger Forschungsgegenstand etabliert und zwar so rasch, dynamisch und kontrovers wie das Internet und die Informationstechnologien selbst.

Der vorliegende Band aus dem Psychosozial-Verlag beschäftigt sich mit dieser Thematik aus psychoanalytischer Sicht mit klinischem, theoretischem und kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt und im Dialog mit Sexualwissenschaft, Forensik und Literaturwissenschaft. Herausgeberin ist Agathe Merk, klinische Psychologin und Psychoanalytikerin mit eigener freier Praxis in Zürich. Die elf Beiträge des Sammelbandes basieren auf drei Arbeitstagungen des Freud-Instituts Zürich in den Jahren 2010 bis 2012. Nach einem Geleit von Ulrike Moser, einem orientierenden Vorwort der Herausgeberin folgen sechs Hauptkapitel: Einführung in das Phänomen Cybersex und die Rolle von Lust und Fantasie / Meta-psychologische Konzepte auf der Grundlage des Abwehrmodells von Ulrich Moser / Falldarstellungen von psychoanalytischen Behandlungen, in denen der sexualitätsbezogene Gebrauch des Internet eine wesentliche Rolle spielt / Entwicklungspsychologie und allgegenwärtige virtuelle Sexualisierung im Alltag Jugendlicher / Generierung sexueller Wünsche beim Chatten im Internet (Vorstellung und Diskussion empirischer Befunde) / Beiträge aus Sexualwissenschaft und Forensik sowie aus psychoanalytisch-kulturwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlich-philosophischer Perspektive. Jeder Beitrag hat einen eigenen Literaturapparat; am Ende des Bandes stehen Kurz-Biografien der Autorinnen und Autoren: Martin Dannecker, Rotraut De Clerck, Natalia Erazo, Jérôme Endrass, Astrid Rossegger, Bernd Borchard, Michael Günter, Agatha Merk, Heinz Müller-Pozzi, Michael Pfister, Ilka Quindeau, Reimut Reiche und Thomas Umbricht; Ulrich Moser steuert ein Geleitwort bei.

Im Mittelpunkt des Diskurses stehen vor allem folgende Fragen: "Welche Rolle spielt das Internet im Kontext von Fantasien, Wünschen, der Suche nach Lust, Sexualität und zwischenmenschlicher Beziehung? Unter welchen Bedingungen wird das Internet zu kreativem Probehandeln genutzt und wann steht sein Gebrauch im Zeichen des Verlustes einer lebendigen Beziehung zur Wirklichkeit?" (Klappentext). Im Focus der der psychoanalytischen Betrachtung menschlicher Sexualentwicklung stehe die Entwicklung der erotischen Fantasie - wie die Herausgeberin des Bandes, Agatha Merk, einleitend feststellt:

Die zentralen Bezugsgrößen der Fantasie sind der Wunsch oder das Begehren als treibende Kraft sowie die damit einhergehenden Ängste und ihre Abwehr. Fantasien bringen in bildhafter objektbezogener Szene verschiedene Elemente zusammen: im erotischen Körper wurzelnde Wünsche, die wahrgenommene innere und äußere Realität, das verinnerlichte Wertesystem. (S. 30)  

In der Fantasie und noch intensiver in der Tätigkeit des Fantasierens habe die Psychologie "das Psychische schlechthin entdeckt, welches sie in erster Linie als ein unbewusstes auffasst" (S. 31). Cybersex wird von Merk als Synonym für Internetsexualität verwendet - sowohl für die Rezeption als auch für die interaktiven Formen sexuellen Handelns (Chats, Foren, Dating-Plattformen u.a.). Die im Internet verfügbare Pornografie werde insgesamt häufiger von Männern genutzt: "Insbesondere für männliche Jugendliche... gehört der Gebrauch von Internetpornografie im Normalfall zur adoleszenten Entwicklung. Umgekehrt sind beim Cybersex im sexuell motivierten Chat Frauen stärker vertreten als Männer" (S. 26). Merk beschreibt Untersuchungen über die entwicklungsfördernde Nutzung sexueller Inhalte zur Ausgestaltung und Erweiterung der Fantasie bei Jugendlichen; diese suchten Bilder im Internet, die zu ihren inneren Bildern passten, um ihre Fantasien zu erweitern und auszugestalten. Es gebe aber auch "unterschiedliche Szenarien des Entgleisens", wenn es nicht gelinge, die eigenen Fantasien mit einer äußeren, in bedeutungsvollen Beziehungen gelebten Realität in Verbindung zu bringen und zugleich von dieser getrennt zu halten. So käme es zu einer Illusion mit totalitären Zügen: "In der Sucht holt den Süchtigen im Internet die Illusion ein, er sei nicht auf ein Außen, auf andere angewiesen, und könne das, was er braucht, selber erschaffen" (S. 36).

In der Bewertung der Ergebnisse seiner empirischen Studie belegt der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker die These von der weitgehenden Entkopplung von sexueller Erregung und sexueller Befriedigung beim Chatten zumindest bei homo-und bisexuellen Männern. Seine weiteren Erkenntnisse sind u.a.: Bei Cybersex gibt es kaum sexuelle Hemmungen oder Scham- und oder Schuldgefühle; es ist eine Triebbefriedigung ohne Aufschub in einem weitgehend sanktionsfreien Raum möglich; Sexualität im Internet trägt sehr viel mehr polymorph-perverse Züge als Sexualität in der Realität und sei für viele Menschen zu einer neuen Sexualform geworden; daher scheitere der Versuch einer generellen Pathologisierung der Internetsexualität, "... weil die aus der Individualpsychologie stammenden Kategorien nicht der adäquate Bezugsrahmen für die Analyse einer solchen Praxis sind" (S. 180).

In ihrer forensisch-psychologischen Betrachtung über Pornografiekonsum und (sexuelle) Aggression kommen Endrass, Rossegger und Borchard nach Auswertung verschiedener empirischer Studien u.a. zu folgenden Ergebnissen: Das Internet hat den Konsum von Pornografie gefördert (anonymer, bequemer Zugriff auf sehr diversifiziertes Angebot), das männliche Interesse an Pornografie ist sehr hoch (jeder vierte Internetnutzer ist auf der Suche nach Pornografie), dieser Bedarf wird ökonomisch umgesetzt in einem florierenden Wirtschaftszweig; zusammenfassend lässt sich über den Konsum von Pornografie im Internet feststellen:

Inwiefern das sexuelle Verhalten, die Beziehungsgestaltung und sexuell aggressives Verhalten davon betroffen ist, lässt sich bei weitem nicht abschließend beantworten. Empirische Untersuchungen geben teilweise Entwarnung bezüglich der befürchteten Steigerung sexueller Aggression, weisen aber auf Gefahren bei Risikopopulationen hin. Besorgniserregend ist der Befund, dass Pornografiekonsum mit dem Risiko einer progredienten Entwicklung in Bezug auf die konsumierte Menge sowie die Devianz der dargestellten Inhalte einhergeht. (S. 201/202)  

Nachdenklich stimmt auch der Befund, dass bei einer Untersuchung aus dem Jahr 2002 über mit dem Konsum von Kinderpornografie auffällig gewordenen Personen eine Gruppe von ökonomisch gut situierten, alleinstehenden Menschen auffällt. Was an der Pornografie macht eigentlich Angst? fragt Michael Pfister in seinem literurwissenschaftlich-philosophischen Beitrag: "Vielleicht eben gerade das Außermoralische, das, was den dunklen Kern des Individuums aus dem Gesellschaftlichen entrückt; das, was das Verhältnis zur «Wirklichkeit» uneindeutig macht" (S. 249).

Natalia Erazo konstatiert in ihrem Beitrag ein Comeback der Sexualität in der Psychoanalyse und damit auch in der Therapie: "Im Internet lässt sich finden, was so noch nicht gelebt oder bisher schamvoll zurückgehalten wurde" (S. 93).

Der vorliegende Band ist ein hervorragendes Kompendium interdisziplinärer Forschungsberichte und wissenschaftlicher Diskurse zum brisanten Thema Internetsexualität mit psychoanalytischem Schwerpunkt; er ist auch angereichert mit Fallbespielen aus der therapeutischen Praxis und aus der Forensik und bietet damit auch für fachwissenschaftlich weniger Interessierte reichhaltigen, anregenden Stoff zur Reflexion und zum Weiterarbeiten in pädagogischen, psychologischen, soziokulturellen und medialen Referenzfeldern.

Agatha Merk (Hg.)
Cybersex. Psychoanalytische Perspektiven
Mit einem Geleitwort von Ulrich Moser
Psychosozial-Verlag 2014
257 Seiten
Broschur
29.90 EURO

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2015

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