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BUCHBESPRECHUNG/106: "21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart" von Andreas Rödder (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Andreas Rödder
21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart

von Klaus Ludwig Helf, Mai 2016


Andreas Rödder ist spätestens seit seiner viel beachteten Geschichte der deutschen Wiedervereinigung ("Deutschland einig Vaterland") zumindest dem Fachpublikum bekannt; er ist seit 2005 Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; im Landtagswahlkampf 2016 in Rheinland-Pfalz war er im Schattenkabinett von Julia Klöckner für den Bereich Bildung, Wissenschaft und Kultur verantwortlich. Mit dem jetzt vorliegenden voluminösen Band hat er einen wissenschaftlichen Coup gelandet. Sein Buch sei "ein Abenteuer" - schreibt der Autor selbst -, es versuche, die Gegenwart historisch zu erklären und betrete damit ein "wissenschaftliches Niemandsland": "Es liegt zwischen der Domäne der gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften und dem Terrain der Geschichtswissenschaften, die erst in Ansätzen über die Epochenschwelle von 1989/90 hinausgegangen sind". (S. 11)

Wie geht der Autor vor? Er versucht in acht Kapiteln die zentralen Entwicklungen und Probleme der Gegenwart seit 1989/90 zu identifizieren und unterteilt sie in Anlehnung an Max Weber in die Kategorien Staat und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Im Anschluss daran werden dazu die wichtigsten aktuellen Debatten und Ergebnisse der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen gesichtet und reflektiert, vor allem aus Soziologie, Sozialphilosophie und Sozialpsychologie sowie aus den Politik-, Staats-, Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaften. Die daraus gewonnen Erkenntnisse werden dann mit historischen Analysekonzepten konfrontiert und auf ihre "langfristige Signifikanz hin befragt"; zentrale Entwicklungen der Gegenwart sollen in einer historisch-diachronen Einordnung - quasi mit einem kritischen Blick zurück - eingeordnet und erklärt werden, "... die zeitgenössischen Selbstbeobachtungen auf ihre empirische Substanz, ihre thematische Signifikanz und ihre historische Plausibilität hin zu prüfen" (S. 14). Rödder will keine faktengesättigte, dichte Erzählung vorlegen, vielmehr geht es ihm um die großen zeitgenössischen Linien der Gegenwartspolitik aus der Vogelperspektive, konzentriert auf Deutschland und bei thematischem Bedarf auch auf den europäischen Kontext. Zentrale aktuelle Themen der Globalisierung des Finanz- und Wirtschafts- und Kultursystems, der digitalen Kommunikation, des Klimawandels, des Terrorismus und des Waffenhandels und der asymmetrischen Kriegführungen können allerdings mit dieser verengten Perspektive nicht hinreichend seriös diskutiert werden. Dies ist eine erhebliche Schwäche des vorliegenden Bandes wie der Autor auch gerne selbst einräumt; auch Themen wie Föderalismus, Urbanisierung, Alltags- und Jugendkultur werden weitgehend ausgeblendet:

Große Linien lassen sich ... nur in groben Strichen zeichnen, nicht in detaillierter empirischer, geschweige denn archivalisch fundierter Differenzierung. Zu jedem Kapitel wird es daher Experten geben, die vieles sehr viel besser wissen als der Autor und deren Wissen zugleich die Grundlage dieses Buches ist. Ich kann nur um Nachsicht mit Verkürzungen und Vereinfachungen bitten. (S. 15) 

In acht Kapiteln werden die großen Herausforderungen und Probleme der Gegenwart seit 1990 auf der Matrix ihrer historischen Bedingungen hinterfragt. Im Focus der diachronischen Analysen stehen die digitale Revolution mit ihren vernetzten Wirklichkeiten, Wirtschaftswandel und Global Economy im Rahmen der radikalen Marktliberalisierungen und der Finanzkrise, die Veränderungen der Demografie, der Einkommens- und der Vermögensstrukturen, der Sozialstruktur und der Werte, der Klimawandel, die Umweltpolitik und die deutsche Energiewende sowie die Veränderungen der Rolle des Staates, die Krisen des "alten Europas", der Weltpolitik und der Weltgesellschaft. Rödder will keine abschließenden prognostischen Urteile abgeben, sondern Erklärungen anbieten; sie sollen uns dabei helfen, die tagespolitischen Unsicherheiten der Welt, in der wir leben, aus historischer Sicht besser zu verstehen und damit gelassener umgehen zu können. Der Autor kommt bei seinen Analysen und Diagnosen zu meist ausgewogen-vorsichtigen Ergebnissen; einige seiner Positionen sind durchaus für einen kontroversen, lebhaften Diskurs geeignet. Hier sollen im Folgenden einige Beispiele angeführt werden.

Im Kapitel zum Wandel der Sozialstruktur wird Arbeit als zentraler, sozialer und gesellschaftlicher Wert benannt und die wachsende soziale Ungleichheit konstatiert:

Die Verfestigung von sozialen Benachteiligungen durch mangelnde Bildungserfolge ist der Antrieb eines sozialen Teufelskreises. Die Reichen werden immer reicher, während die Armen nicht ärmer, ihre Nachteile aber größer werden. Zunehmende soziale Ungleichheit ist durch die Spreizung an den Rändern entstanden, während die Mittelschichten stabiler blieben als oft behauptet. Soziale Ungleichheit ist in Deutschland um die Jahrtausendwende überdurchschnittlich angestiegen, hat sich auf etwas höherem Niveau stabilisiert. (S. 160) 

Der Soziologe Heinz Bude, dessen Analysen auf validen empirischen Daten basieren und die in diesem Kapitel nicht berücksichtigt wurden, kommt zu weitaus alarmierenderen Ergebnissen, vor allem in seinem Band über die "Gesellschaft der Angst". So lässt sich auch trefflich streiten über Rödders pointierte Thesen zur Entwicklung der Familie und zum Rückgang der Kinderzahl, den er mit der zunehmenden Frauenarbeit, veränderten Lebensstilen und hedonistischen Bedürfnissen erklärt: "... Kinderlosigkeit wurde zu einer Normalität. Der Geburtenrückgang war in erster Linie eine Folge zunehmender Freiheit und ihres Gebrauchs. Dabei folgte er einem langfristigen Trend und begründete zugleich einen neuen." (S. 174) Rödder vernachlässigt bei seiner Argumentation die sozial- und familien-, frauen-, gender- und bildungspolitischen Defizite und die generelle kinderunfreundliche Umwelt in Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder zu den skandinavischen Ländern oder gar zur ehemaligen DDR - dort lassen und ließen sich Berufstätigkeit von Frauen und Kindererziehung durchaus vereinbaren. Bei der Einschätzung der Wandlung der Rolle von Familien und Lebenspartnerschaften in der Gesellschaft ist Rödder dagegen offener und differenzierter:

Die Rede vom Untergang der Familie ist alt. Konservative fürchteten schon im 19. Jahrhundert den Untergang des Abendlandes, während die Achtundsechziger die Familie als Instrument der Repression überwinden wollten. Durch die Pluralisierung der Lebensformen hat die eheliche Kernfamilie ihr Monopol als normatives Ideal verloren - und ist zugleich Mehrheitsmodell geblieben ... Überall wollen die Menschen zusammenleben, und sie übernehmen Verantwortung füreinander. Formen wandeln sich, aber die Sehnsucht nach Liebe und die Bereitschaft zur Solidarität zwischen Menschen sind ungebrochen - good news aus der Geschichte der Gegenwart. (S. 384) 

Die Bilanzierung der europäischen Einigungsbemühungen fällt bezüglich der Wirtschaft dagegen weitaus kritischer aus: "Die Wirtschafts- und Währungsunion hat sich, selbst wenn der Euro gerettet wird, mit ihren ökonomischen, institutionellen und politischen-kulturellen Problemen als Fehlkonstruktion erwiesen." (S. 336) So lässt sich auch trefflich darüber streiten, ob die vollzogenen Prozesse der Vereinigung Deutschlands so alternativlos waren, wie sie der Autor darzustellen versucht oder nicht vielleicht doch eine verlangsamte Entwicklung unter Einbeziehung der Bevölkerung zum Beispiel bei der Konstituierung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung demokratiepolitisch nachhaltiger gewesen wäre:

In politisch-institutioneller Hinsicht hat sich in den neuen Ländern eine stabile Demokratie etabliert ... Der Regimewechsel in den neuen Ländern blieb somit - und das ist keine historische Selbstverständlichkeit, schaut man zum Beispiel auf die Geschichte der Weimarer Republik - ohne eine dauerhafte virulente Systemopposition. In sozial-kultureller Perspektive bedeutete die Wiedervereinigung einen tiefen Bruch für die Ostdeutschen, indem beinahe alle öffentlich-politischen Werte eine Umwertung erfuhren. Hinzu kam der Bruch der Erwerbsbiographien ... Die Veränderung der Sozialbeziehungen war dabei begleitet von einem verbreiteten Gefühl der Benachteiligung, der Fremdbestimmung und der Desintegration, der mangelnden Anerkennung und der kränkenden Entwertung ostdeutscher Biographien durch eine westliche Dominanz. (S. 208) 

Die Bilanz der Geschichte der deutschen Einheit sei - so der Autor einschränkend - "nicht schwarz oder weiß, sondern voller Schattierungen ... eine Frage des Maßstabs". Der These von der "Medialisierung der Demokratie" steht der Autor auch aus historischer Perspektive skeptisch gegenüber:

Einiges spricht dafür, dass die Medien das Politische nicht kolonisiert oder verdrängt haben. Vielmehr haben sich neue Verbindungen von Medienlogik und dem Funktionieren von demokratischer Politik, von Öffentlichkeit und Politik eingestellt. Zeitgenössische Medien sind das Ergebnis technologischer Entwicklungen, Teil der Gesellschaft und mithin Bestandteil des politischen Systems. Auch das ist nicht neu, vom Diktator bis zum Demokraten, von Gaius Iulius Cäsar über Paul von Hindenburg und Adolf Hitler bis zu Willy Brandt und Varoufakis haben Politiker schon immer die Möglichkeiten ihrer Zeit zur medialen Inszenierung genutzt. (S. 241) 

Auch die darauf folgenden, quasi entschuldigenden Hinweise auf Vervielfältigung, Verdichtung, Beschleunigung und Digitalisierung von politischer Kommunikation und auf den kurzatmigen, hektischen Politik-Betrieb in Berlin reichen wissenschaftlich bei weitem nicht aus, die nachweislichen politisch-kulturellen Defizite durch die "Medialisierung der Demokratie" zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Die historische Erfahrung - so Rödder -, besagt, dass es keine Entwicklung in eine Richtung gebe, weder in eine schlechtere, noch in eine bessere und es komme fast immer anders als gedacht:

Die Geschichte der Gegenwart ist nicht eindeutig, sondern ambivalent, nicht linear, sondern komplex. Kräfte werden entfesselt und wieder eingehegt. Was ein Problem löst, bringt das nächste hervor ... Alte und neue Herausforderungen überlagern sich: Pandemien und Klimawechsel, Energieversorgung und globale Handelspolitik, transnationale Kriminalität und Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Zusammenbruch staatlicher Ordnungen sowie klassische Machtkonflikte. (S. 378) 

Aber wohin führt der Wandel der Welt? Aus historischer Erfahrung könne man sagen, dass die Zukunft anders als die Gegenwart und anders als prognostiziert sein werde. Rödder ist aus historischer Sicht skeptisch gegenüber eindeutigen und verlässlichen Prognosen. Ein Ziel der Entwicklung sei nicht zu erkennen, allenfalls Bewegungen und Gegenbewegungen von Be- und Entgrenzungen; das historische Wechselspiel habe keine erkennbare übergeordnete Richtung, aber sei voller Dilemmata und Überraschungen: "Wenn sich dabei die historische Tendenz der Moderne fortsetzt, befindet sich die Digitalisierung erst im Durchbruch, und die Menschheit steht vor einer weiter beschleunigten Reise ins Ungewisse." (S. 39) Die drei Hauptmotoren des Wandels seien die technisch-ökonomischen Entwicklungen, der herrschende Rahmen des Denkens, Redens und Handelns und die Ereignisse, Krisen und Schocks:

Václav Havel hat es wohl geahnt: Wir sind allein im All, und nichts ist sicher. Was als Kompass hilft, ist Offenheit statt Selbstgewissheit ... Nur wer offen dafür ist, dass alles auch ganz anders sein mag als gedacht, kann die Chancen der Unvorhergesehenen auch nutzen. So gelangte Kolumbus nach Amerika, so wurden der Teebeutel und das Penicillin erfunden, und wenn sich neue Ideen mit dem Sinn für die Realitäten verbinden, dann macht auch die Geschichte der Gegenwart keine Angst vor der Zukunft. (S. 392) 

Gerade die Geschichte der kommunikations-technologischen Entwicklungen sei ein Parade-Beispiel für eine "Geschichte der Fehlprognosen": so habe IBM 1978 den Personal Computer für keine zukunftsfähige Idee gehalten und Sacha Lobo das Internet anfangs als das perfekte Medium der Demokratie und der Selbstbefreiung gelobt und das angesichts der NSU-Affären 2014 widerrufen. Auch der Bildschirmtext (BTX) ist in der Versenkung verschwunden, das Digitale Radio (DAB) steht kurz davor. Menschen neigten gerne dazu, Erwartungen aus persönlichen Erfahrungen abzuleiten und als Trends fortzuschreiben; eine gesunde Portion Skepsis sei angebracht bei selbstgewissen Zukunftsprognosen. Es sei in der Gegenwart nicht einzuschätzen, welche neue Technologie, welches neue Format oder welches Technologieunternehmen sich durchsetzen werde. Aus kritischer historischer Betrachtung und Erfahrung könne man sagen "... dass die Zukunft in doppelter Weise anders sein wird: anders als die Gegenwart und anders als prognostiziert. Wenn sich dabei die historische Tendenz der Moderne fortsetzt, befindet sich die Digitalisierung erst im Durchbruch, und die Menschheit steht vor einer weiter beschleunigten Reise ins Ungewisse." (S. 39)

Trotz der Vorbehalte und Kritik an einzelnen Darstellungen, Bewertungen und Einschätzungen von Entwicklungen verdient der Autor mit seinem beratenden und unterstützenden Lehrstuhl-Team hohes Lob für sein ambitioniertes Projekt. Die "Kurze Geschichte der Gegenwart" überzeugt vor allem durch den neuartigen historischen, diachronen Ansatz und durch die kenntnisreichen, faktengesättigten interdisziplinären Darstellungen und Analysen ausgewählter aktueller Problemlagen - interpretiert durch einen Rückgriff auf historische Erfahrungen und Erkenntnisse. Man kann in diesem Buch lernen, dass viele aktuelle Aufgeregtheiten im Rückgriff auf die historische Perspektive relativiert werden. Es ist ein profunder Band mit hohem wissenschaftlichem Niveau und originellen Zugängen, die zur Reflektion und Diskussion anregen; er ist flüssig geschrieben und sehr gut zu lesen und zu verstehen - zumal der sehr umfassende wissenschaftliche Apparat in den Anhang verbannt wurde; so ist er nicht nur für das Fachpublikum, sondern auch für politisch und historisch Interessierte eine anregende und spannende Lektüre. Wer die aktuellen Probleme der Gegenwart verstehen und einordnen will, sollte diese "kurze Geschichte" gelesen haben.

Andreas Rödder
21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart
C.H. Beck, München 2015
494 Seiten
24,95 EUR

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2016

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