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BUCHBESPRECHUNG/119: Handke, Thoreau, Stevenson und James - Literarische Neuerscheinungen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2016

Kultur und Kritik
Handke, Thoreau, Stevenson und James
Literarische Neuerscheinungen

Von Hanjo Kesting


Als Barack Obama 2008 zum US-Präsidenten gewählt wurde, begrüßte Peter Handke die Entscheidung im SPIEGEL mit den Worten: "Unser Planet erscheint so neu als eine weltweite Bucht, und die wird, hoffentlich, keine Wiederholung der Schweinebucht sein." Offenbar verfügte der Dichter damals noch über jenes Potenzial an Hoffnung, das etwas später das Osloer Nobelkomitee veranlasste, dem Neugewählten, noch bevor seine Taten solche Hoffnungen bestätigen konnten, den Friedensnobelpreis zu verleihen.

Den kleinen Text Handkes findet man in einem Band des Suhrkamp Verlags, der unter dem Titel Tage und Werke seine Gelegenheitsarbeiten aus den Jahren 2009 bis 2014 sowie frühe Buchkritiken versammelt. Den Nobelpreis für den schwedischen Lyriker Tomas Tranströmer kommentierte Handke drei Jahre später mit den Worten: "(...) seit längerem wird wieder ein Primärschriftsteller ausgezeichnet. Alle, die in den letzten zehn Jahren den Preis bekommen haben, waren doch eher Sekundärschriftsteller, deren Literatur auf Aktualitäten verweist." Zu diesen als "Sekundärschriftsteller" abqualifizierten Autoren, soviel sei in Erinnerung gebracht, gehörten Mario Vargas Llosa, Herta Müller, Jean-Marie Gustave Le Clézio, Doris Lessing, Orhan Pamuk, Harold Pinter, Elfriede Jelinek, I.M. Coetzee, Imre Kertész und V. S. Naipaul. Dass Handke sie alle nicht als "Primärschriftsteller" gelten lässt, läuft im Grunde auf die einst verbreitete Unterscheidung zwischen Dichter und Schriftsteller hinaus. Sie ist zwar nicht völlig sinnlos, erfuhr aber gerade in Deutschland von je eine ungute ideologische Aufladung, indem dadurch der Geist zum Widersacher der Seele erklärt und eine Literatur, die sich dem Aktuellen nicht verweigerte, grundsätzlich als eine minderen Ranges angesehen wurde. Hinter Handkes nachlässiger Unterscheidung wird ein poetischer Hochmut erkennbar, der besonders in einem Augenblick unangebracht war, als die Dichtung, repräsentiert von einem Poeten wie Tomas Tranströmer, endlich einmal aus ihrem Schattenreich heraustrat.

Seine Urteile scheinen bei Handke immer noch recht locker zu sitzen, nicht nur in literarischen Fragen. Unwillkürlich denkt man an seinen ersten öffentlichen Auftritt bei der Gruppe 47 in Princeton anno 1966. Lange war die Meinung verbreitet, es habe sich dabei um einen kalkulierten Skandal gehandelt, der ihn medienwirksam ins Öffentliche Rampenlicht befördern sollte. Dass es aber weit eher die Unmutsreaktion eines jungen Autors war, die sich auf der Grundlage eines anderen literarischen Konzeptes gegen die vorherrschende "Beschreibungsimpotenz" richtete, kann man jetzt aus den frühen Kritiken erfahren, die Handke zwischen 1964 und 1966 für die "Bücherecke" von Radio Steiermark schrieb - sie sind die eigentliche Überraschung dieses Sammelbandes und fügen sich indirekt zu einem "Portrait des jungen Dichters" Handke zusammen.

Seine allererste Kritik, geschrieben für die Sendung vom 21. Dezember 1964, galt Cesare Paveses Roman Der schöne Sommer und begann mit einigen theoretischen Überlegungen über Möglichkeiten und Grenzen der Literaturkritik: "Die Literaturkritik wertet, für die Bewertung aber besteht in der Sprache nur ein begrenzter Vorrat an Worten; dieser Vorrat schießt automatisch in die Gedanken, wenn die Sprache des zu beurteilenden Textes beurteilt werden soll: das ist es, was die Literaturkritik oft zu einem leeren Geschäft macht." Wie entgeht der Kritiker der Gefahr der leeren Routine? Der Kritiker Handke imponiert durch Genauigkeit der Beschreibung und Entschiedenheit des Urteils. Bewundernd registriert man die Reichweite seiner Kenntnis, den Radius seiner Lektüre schon in diesem Alter, nicht zuletzt seine Eigenständigkeit, die vor Autoritäten wie Walter Benjamin und Theodor W. Adorno nicht sogleich kapituliert. Zu Adornos berühmter Heidegger-Kritik in dem Aufsatz Jargon der Eigentlichkeit merkt er an, "ob nicht die marxistischen Embleme, unter denen Adorno den Streit führt, auch schon jargonhafte Züge tragen". Seine Rezension der Autobiografie von Stefan Zweigs Witwe Friderike ist ein Meisterstück in der Kunst des diskreten Verrisses: Sie erledigt ein Buch und schont dessen Autorin. An Virginia Woolfs Roman Mrs. Dalloway registriert er spöttisch die "zarten fraulichen Wahrsprüche" und vermisst "geistige Härte"; der psychologisierenden und philosophierenden Erzählweise des Buches stellt er die harte Dinglichkeit der Geschichten von Ambrose Bierce gegenüber.

Nicht als Provokateur, sondern als Kritiker eines stereotypen Realismusbegriffs gibt Handke sich hier zu erkennen, als ein um begriffliche Schärfe bemühter, an der Sprachkritik der "Wiener Gruppe" um Konrad Bayer geschulter genauer Leser, der sein kritisches Werkzeug trainiert und ausgebildet hat, um darauf die eigene Autorschaft zu begründen. 1966 debütierte er gleich doppelt mit dem Roman Die Hornissen und dem Theaterstück Publikumsbeschimpfung. Nach den 13 Texten der "Bücherecke" kann man den Auftritt in Princeton nicht mehr als gezielten Versuch abtun, sich als Autor dieser Werke ins Gespräch zu bringen.

Der Zauberer vom Walden Pond

Das schönste Stück in Handkes Sammelband ist seine Einleitung zum Tagebuch von Sophia & Nathaniel Hawthorne, die bereits einige Zeit zuvor in einem Separatdruck erschienen war. Er schreibt über das "Old Manse" genannte Haus der Hawthornes in Concord, der kleinen Stadt in New England, die der Mittelpunkt der "American Renaissance" war, wo auch Autoren wie Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau wirkten. Handke nennt den kleinen Ort eine "Weltmitte" und ein "Zentrum der Welt". Wenn man zunächst geneigt ist, das für Übertreibung zu halten, dann liegt es daran, dass wenig davon in unserem Bewusstsein verankert ist. Man spricht vom elisabethanischen England, vom Frankreich des Sonnenkönigs oder dem "secolo d'oro" Spaniens, aber von der "Blüte New Englands" ist selten die Rede, weil man sie bei uns nicht in ihrem weiteren Zusammenhang begreift. Man kennt vielleicht noch Thoreau als Schüler Emersons, aber wenig weiß man von der Verbindung dieses Kreises etwa zu Herman Melville, dessen Moby Dick durch die Begegnung mit Hawthorne angeregt wurde, oder zu Henry James, bei dessen Taufe Emerson zugegen war.

Thoreaus Walden wurde für mehrere Generationen zum Klassiker "alternativer" Lebensformen und hat auch heute seine Rolle als "Kultbuch" noch nicht ausgespielt. Dagegen sind seine Tagebücher weniger bekannt und waren bei uns stets nur in schmalen Auswahlausgaben zugänglich. Nun hat der Verlag Matthes & Seitz den ersten Band einer auf zwölf Bände angelegten Ausgabe vorgelegt, der die Zeit von 1837 bis 1842 umfasst. Verglichen mit der vor 20 Jahren erschienenen, noch immer lieferbaren, auf knapp 300 Seiten beschränkten Auswahlausgabe von Susanne Schaup könnte man das als Fortschritt rühmen, wenn nicht Übersetzung und Kommentierung des ersten Bandes zu wünschen übrig ließen. Die Kommentierung ist für ein ambitioniertes Unternehmen dieser Dimension kümmerlich, die Übersetzung ungenau, zuweilen fehlerhaft, und, was zweifellos schwerer wiegt, schwerfällig und ungelenk, weit entfernt von der oft berauschenden Schönheit des Originals. "Der Stil ist ein goldenes Szepter, dem das Reich dieser Welt gehört", hat Charles-Augustin Sainte-Beuve gesagt. Das gilt auch für Thoreau. Die Anziehungskraft seiner Bücher beruht eben nicht nur auf ihrer kraftvollen Lebenslehre, sondern auch auf ihrer wunderbaren Sprache, von der hier nur ein matter Abglanz bleibt.

Eine seltene Schriftstellerfreundschaft

Robert Louis Stevenson schrieb in einem Brief an Henry James, die meisten Leser seien bei Büchern vor allem stofflich interessiert, sie begriffen nicht, "daß der Diamant, wird er nicht geschliffen, nichts ist als ein Stein". Stevensons Briefwechsel mit James, der 1884 einsetzt und bis zu seinem Tod zehn Jahre später fortgeführt wurde, liegt nun, übersetzt von Jan-Frederik Bandel, erstmals auf Deutsch vor, publiziert in der neuesten Ausgabe der in Essen erscheinenden Literaturzeitschrift Schreibheft. James war sieben Jahre älter als Stevenson, aber er schrieb an ihn mit einer vorbehaltlosen Bewunderung und einer Zartheit, ja Zärtlichkeit, wie sie zwischen Autoren dieses Ranges außerordentlich selten ist. Ausgangspunkt der Korrespondenz war ein Essay von James, in dem er eine Bemerkung über Stevensons Schatzinsel fallen ließ: "(...) denn ich war einmal Kind, aber niemals war ich auf der Suche nach einem vergrabenen Schatz". Stevenson erwiderte wenig später an gleicher Stelle: "Noch nie hat es ein Kind gegeben (Master James einmal ausgenommen), das nicht auf die Jagd nach Gold gegangen wäre, das nicht Pirat gewesen wäre, Feldherr und Bandit in den Bergen."

James gab sich sogleich geschlagen, und was ihn überwältigte, war vor allem Stevensons bewundernswerter Stil, "reich an Perlen und Diamanten". Schon in seinem ersten Brief verwendete er für den Jüngeren das Wort Genie und brachte seine Bewunderung für die "angeborene Fröhlichkeit all dessen, was Sie schreiben" zum Ausdruck. Die Fröhlichkeit Stevensons ist schwer zu beschreiben und angesichts der endlosen Krankheiten, die ihn lebenslang plagten und zuletzt in das milde Klima der Südsee vertrieben, noch schwerer zu erklären. James, der oft andeutend, umständlich, um nicht zu sagen verschwommen schreibt, ist in seinen Briefen an Stevenson bemerkenswert klar, etwa wenn er darüber klagt, dass der jüngere Freund immer mehr zu einem ungreifbaren Phantom am anderen Ende der Welt werde: "Sie sind ein schöner Mythos geworden - eine Art unnatürlicher, unguter, unbegrabener mort..." Stevenson erwidert aus Honolulu: "Ich habe in diesen letzten Monaten mehr Spaß und Freude an meinem Leben als je zuvor; und fühle mich gesünder als irgendwann in den letzten zehn langen Jahren."

Dann erscheint endlich sein Roman-Meisterwerk The Master of Ballantrae, für das James Worte neidloser Bewunderung findet: "(...) ein reiner harter Kristall, mein Junge, ein unaussprechliches, vortreffliches Kunstwerk". Im nächsten Brief kommt er noch einmal darauf zurück: "Sie haben uns mitten in der Nacht geweckt, für eine Stunde - und wir sind herbeigeeilt, in unseren Hemden, sind die Gartenmauer hinaufgeklettert und haben Lorbeer gestohlen, den wir seither über Ihrem abwesenden Haupt schwenken." Später wird die Klage über den abwesenden Freund zum Leitmotiv von James' Briefen: "Auf Dauer ohne Sie auskommen zu müssen, ist ein ewiger Schmerz (...)". Über die späten Erzählungen von Stevenson, die Island Nights Entertainments, schreibt er: "Sie haben alle denselben Zauber für mich, und ich habe sie mit derselben Hingabe gelesen, mit der ein kleines Kind eine Zuckerstange lutscht." Was für eine Metapher aus dem Mund des Großen Khans, als der James in der literarischen Welt damals schon galt, für das Werk des Jüngeren. Er selbst hat 20 Romane und 112 Erzählungen geschrieben und Stevenson um 22 Jahre überlebt, und doch ist es dessen gleichsam natürliche Überlegenheit, die, von James neidlos anerkannt, diese einzigartige Korrespondenz belebt und bestimmt.


Peter Handke: Tage und Werke. Begleitschreiben. Suhrkamp, Berlin 2015, 287 S., 22,95 EUR. - Henry David Thoreau: Tagebuch I (Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt). Matthes & Seitz, Berlin 2016, 326 S., 26,90 EUR. - Henry James/Robert Louis Stevenson: Eine Freundschaft in Briefen. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur (Hg. von Norbert Wehr), Nr. 86, Februar 2016.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein, Göttingen, seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2016, S. 90 - 93
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2016

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