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BUCHBESPRECHUNG/163: Anna Goldenberg, Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete (Familienchronik) (Klaus Ludwig Helf)


Anna Goldenberg

Versteckte Jahre

Der Mann, der meinen Großvater rettete

Klaus Ludwig Helf, Dezember 2018


Anna Goldenberg geht in ihrem Band auf Spurensuche über die Rettung ihres Großvaters vor dem Zugriff der Nazis in Wien 1942 und erzählt dabei auch das Schicksal ihrer jüdischen Grossfamilie. Auslöser waren ihre Erfahrungen in New York als Fremde, als österreichische Jüdin und Enkelin von Nazi-Verfolgten. Sie begriff, dass sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte intensiver auseinandersetzen müsse, um zu verstehen, warum ihre Großeltern trotz ihrer bitteren Erfahrungen in der Nazi-Zeit nach kurzem Zwischenspiel in den USA wieder nach Wien zurückkehrt waren: "Die starren, rassistischen gesellschaftlichen Konventionen spielten eine wesentliche Rolle bei ihrer Entscheidung, nach Europa zurückzukehren" (S. 165). Zunächst bearbeitete Anna Goldenberg einen Teil ihrer Familiengeschichte in einem studentischen Radioworkshop, den sie 2012 an der Columbia University besuchte. Längere Telefonate mit ihrer Grossmutter Hega in Wien über die Familiengeschichte und vor allem die umfangreichen Aufzeichnungen ihres verstorbenen Grossvaters bestärkten die Enkelin darin, tiefer und umfassender zu forschen. Drei Jahre lang hat sie Interviews mit Familienanghörigen und Zeitzeugen geführt, Archive aufgesucht, Akten und Dokumente gelesen, Deportationslisten geprüft, Briefe und Familienfotos ausgegraben, vor allem aber die Aufzeichnungen ihres rebellischen und umtriebigen Grossvaters ausgewertet, in denen er sich an seine Jugendjahre in Wien, an sein Versteck, an die Kriegszeit und an die Jahre danach erinnert.

Anna Goldenberg (*1989 in Wien) studierte Psychologie an der Universität von Cambridge und Journalismus an der 'Columbia University', war Redakteurin der Wochenzeitung 'Jewish Daily' in New York und lebt jetzt in Wien und schreibt u.a. für den 'Falter' und die 'ZEIT'; es ist ihr erstes Buch.

Anna Goldenbergs Großvater Hans, genannt Hansi, überlebte als Einziger aus seiner jüdischen Familie die NS-Zeit in einem Versteck in Wien, weil der Kinderarzt Josef Feldner (Spitzname Pepi) ihn aufgenommen hatte. Hansis Familie sollte im September 1942 nach Theresienstadt "umgesiedelt" werden. Die Eltern wussten allerdings nicht, dass das Reiseziel das KZ war. Da sie aber wegen der bislang persönlich erlebten Nazi-Schikanen ahnten, dass es gefährlich werden könnte, trafen sie eine - wie Hansi später schrieb - salomonische Entscheidung: Den drei Jahre jüngeren Sohn nahmen sie mit, der 17-jährige Hansi kam zu Pepi, der ein langjähriger Bekannter der Familie war. Im letzten Moment des Abtransports in eine ungewisse Zukunft ging alles ganz schnell, wie Hansi später festhielt: "Es blieb plötzlich nur noch Zeit für eine kurze Umarmung, ein kurzes Viel-Glück-Wünschen, und schon war ich auf der Straße" (S. 102). Hansi nahm den gelben Stern ab, bog um die Ecke, stieg in die Strassenbahn und fuhr zu Pepi, bei dem er die nächsten drei Jahre versteckt lebte, 1950 von ihm adoptiert wurde, dessen Familiennamen annahm und selbst Arzt wurde. Seine Eltern und seinen Bruder sah er nie wieder. Im Gegensatz zu Anne Frank, die in einem Hinterhaus versteckt lebte und nicht rausgekommen ist, bewegte sich Hansi in der Anonymität der Grosstadt relativ frei, wenn auch unter ständiger Angst und Lebensgefahr. Pepi und Hansi waren häufig im Gasthaus und gingen spazieren. Pepi las regelmäßig und viel in der Leihbibliothek und besuchte die Wiener Staatsoper, die er als "Insel des Friedens, eine intakte Welt in der Heimat" genoss. Hansis Tage endeten meist mit Pepi, der ihn oft von der Oper abholte. Beide verstanden sich sehr gut, beide waren unangepasst und wissbegierig, hatten einen "ähnlichen Humor, waren selbstironisch, absurd, bisweilen vulgär" - so Anna Goldenberg. Auch hatten beide Lust auf gefährliche Abenteuer, von denen einige im Buch erzählt werden z.B. wie Pepi beim Gasthausbesuch einem Offizier der Wehrmacht die Pistole klaute, mit der später Hansi in einen Schusswechsel mit Militärpolizisten geriet. Pepi blieb bis zu seinem Tod 1973 enger Vertrauter und Freund der ganzen Familie: "Einige, viele von Pepis Verhaltensweisen wurden von der Familie übernommen. Das Zuhören und Hinterfragen zum Beispiel. Pepi lehrte es Hansi, der es meiner Mutter weitergab, die es bei mir anwandte...Von Pepis Mut und Tolkühnheit, die streckenweise wie Abenteuergeschichten klingen, bin ich hingegen weit entfernt" (S. 177/178). Der rote, verbindende Faden des Bandes ist die Lebensgeschichte von Hansi und dessen Freundschaft mit seinem Lebensretter Pepi, aber auch die Geschichte der gesamten Großfamilie wird eingeflochten. So bereiste Anna Goldenberg die Stadt Poughkeepsi (Bundesstaat New York), wo ihre Großeltern ein Jahr lang nach dem Krieg gelebt und als Ärzte gearbeitet hatten und besuchte zusammen mit Großmutter Helga und deren Schwester Liese, die beide das KZ überlebt hatten, Prag und Theresienstadt mit dem ehemaligem KZ. Anna Goldenberg hat in ihrem ersten Buch eine berührende, aufwühlende und zugleich Mut machende Familienchronik aufgeschrieben, ein literarisches Mahnmal für Humanismus und Freiheit und gegen Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus und Gewalt. Die Ergebnisse ihrer intensiven Recherchearbeiten hat sie sehr gut und flüssig lesbar zu einem spannenden literarischen Werk komponiert.

Anna Goldenberg
Versteckte Jahre.
Der Mann, der meinen Großvater rettete
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018
192 Seiten
20 Euro

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Quelle:
© 2018 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2018

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