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BUCHBESPRECHUNG/174: Heinz Engelhardt mit Peter Böhm, Der letzte Mann. Countdown fürs MfS (Sachbuch) (Gerhard Feldbauer)


Licht ins Dunkel

Hans Modrows "Stasi"-Aufklärer Heinz Engelhardt
Zu Ursachen und Verantwortlichkeiten des kapitulantenhaften Anschlusses der DDR

von Gerhard Feldbauer, 16. September 2019


Im Prozess des kapitulantenhaften Anschlusses der DDR an die BRD spielte die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit im Frühjahr 1990 eine zentrale Rolle. Den Auftrag dazu erteilte der letzte Ministerpräsident der SED/PDS, Hans Modrow (November 1989 bis April 1990), Generalmajor Heinz Engelhardt, Leiter der Abteilung XX des MfS, die nach heute gängiger Terminologie "Verfassungs- und Staatsschutzaufgaben" wahrnahm. In Zusammenarbeit mit dem Journalisten Peter Böhm, der seit Jahren zu den Geheimdiensten publiziert, als Interviewer, legt erstmals ein Insider in fundierter wie sachlicher Weise seine Sicht auf die Arbeit des MfS, sein Innenleben und sein Ende dar. Dabei setzt er sich mit den seiner Ansicht nach haltlosen Angriffen der "Stasi-Hysterie" beweiskräftig auseinander, räumt überzogenes Sicherheitsdenken ein, thematisiert Karrieredenken, Arroganz und Überheblichkeit, zeigt aber auch auf, dass die meisten Ge- und Verbote der in der BRD üblichen Praxis entsprachen.

Es herrschte Kalter Krieg. Die DDR wurde "bedroht von wirtschaftlicher Sabotage, von Boykottmaßnahmen, durch gezielte Abwerbung von Fachpersonal, von Wissenschaftlern und Medizinern, durch systematische Schwächung ihrer ideologischen Grundlagen". Der Klassenfeind war "keine Einbildung, keine Erfindung der Propaganda, er existierte real". Darüber sei jedoch die Öffentlichkeit in der DDR nicht oder zu wenig informiert worden. Andererseits waren die Maßnahmen dagegen "oft überzogen und unangemessen", denn die DDR wäre nicht "an den Protesten der Umweltschützer zugrunde gegangen", die "Friedensbewegung nicht geschwächt worden, wenn man die Kirchenleute überall demonstrativ Schwerter zu Pflugscharen hätte schmieden lassen".

Engelhardt, der von 1962 bis 1990 im MfS diente, mit 43 Jahren jüngster General des Dienstes wurde, als Soldat im Wachregiment "Felix Dzierzynski" begann, schildert einleitend seine Arbeit als Leiter einer KD (Kreisdienststelle) des MfS, deren Mitarbeiter "Teil des Volkes waren", unter dem sie lebten und als solche bekannt waren. Von den IM (Inoffiziellen Mitarbeitern) tat der größte Teil derer, die mit dem Dienst zusammen gearbeitet haben, "dies aus politischer Überzeugung". Denn "die DDR war kein Land von Nein-Sagern und Widerstandskämpfern. Wo die nach 1989 alle herkamen, bleibt mir ein Rätsel", hält er fest.

Der Autor weist nach, dass die Behauptung von sechs Millionen Akten des MfS über DDR-Bürger "völlig übertrieben" ist. Abgesehen davon, dass sich darunter eine "beträchtliche Zahl" mit Nazikriegsverbrechern sowie Saboteuren und feindlichen Agenten befasste. Außerdem übten von 85.000 Mitarbeitern des MfS nur 21.000 "Aufgaben im Sinne einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit" aus. Zu dem Vorgehen der westdeutschen Justiz gegen MfS-Mitarbeiter hält er fest, dass "mit Fleiß und Energie jedem Gerücht nachgegangen, gegen 100.000 Personen ermittelt wurde", aber nur "1.286 Hauptverfahren eröffnet und nur gegen rund 750 überhaupt ein Urteil gefällt werden" konnte.

Engelhardt verdeutlicht, dass die DDR, nachdem sie von Gorbatschow fallengelassen wurde und damit der wichtigste außen- und militärpolitische Faktor ihrer Existenzsicherung entfiel, nicht mehr zu retten war. Doch ihr Anschluss an die BRD hätte nicht in jene kampf- und bedingungslose Kapitulation münden müssen, die von der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière von der ostdeutschen CDU vollzogen wurde, aber bereits unter der Regierung Modrow und der PDS unter Gregor Gysi mit zu verantworten war.

Unter Modrow wurde die nach Westberlin geöffnete Grenze nicht mehr kontrolliert und "die DDR war offen wie ein Scheunentor und westliche Dienste, vor allem die der BRD und der USA, schalteten und walteten nach Belieben". Unter diesen Bedingungen beugte sich Modrow dem Druck des "Runden Tisches" und beauftragte Engelhardt am 15. Januar 1990, das an Stelle des MfS geplante Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) aufzulösen. Dabei habe der Ministerpräsident den "Bürgerbewegten", also der Opposition, ein entscheidendes Mitspracherecht eingeräumt, mit ihm und seinen Leuten keinerlei Zusammenarbeit gepflegt.

So habe er auch gegen den am 15. Januar 1990 angekündigten Sturm auf den MfS-Komplex in Berlin-Lichtenberg keinerlei Maßnahmen ergriffen, obwohl das in der Folge dazu führte, dass das MfS zum ersten Mal "von einem gegnerischen Dienst inspiziert wurde", der sich "ganz gezielt" zur Hauptabteilung II, der Spionageabwehr, begab. Der Leser erfährt, dass im Ergebnis des diesen Bürgerkomitees eingeräumten Rechts auch "Zehntausende Tonbänder, auf denen Telefongespräche der politischen und militärischen Wirtschaftselite der Bundesrepublik mitgeschnitten worden waren" verschwanden. Ihr Inhalt soll "so schrecklich gewesen" sein, "dass sie ohne Auswertung sofort vernichtet wurden". Um die Partei zu retten, hätten Krenz, Modrow und andere das MfS "den Medien zum Fraß vorgeworfen". Unter Gysi wollte die Partei "von uns nichts mehr wissen".

Der Autor geht auf Verrat in den eigenen Reihen ein, was Top-Quellen der HVA wie Gabriele Gast oder Rainer Rupp "teuer bezahlen" mussten. Das sei so weit gegangen, dass "der eine oder andere General der Abwehr" wohl auch gedacht habe, "er könne beim Verfassungsschutz reüssieren", wie auch in der NVA, Volkspolizei und Zollverwaltung einige Spitzenchefs sich "schon in der Uniform eines neuen Dienstherren" gesehen hätten.

Hier fällt auf, dass kein Wort zu dem langjährigen (1952-1986) legendären Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, Markus Wolf, fällt. Nach eigener Aussage in seinem Buch "Spionagechef im geheimen Krieg" (deutsche Ausgabe München 1997) spielte Wolf allen Ernstes bereits 1990 mit dem Gedanken, ein Angebot der CIA anzunehmen und für diese "eine Aufgabe" bei der Enttarnung eines "Maulwurfs" im KGB zu übernehmen. Wolf wollte daraus ein gutes Geschäft für sich machen und bestand auf einer "verdeckten Form der Zusammenarbeit", um "nicht mein Gesicht zu verlieren". Ein Verlag oder eine Filmgesellschaft sollten ihn zur Vermarktung seines Buches in die USA einladen. Die CIA war jedoch in Zeitnot und wollte Wolfs sofortige Bereitschaft, "zu beraten" und "zu helfen". Daran scheiterte das Vorhaben dann.

Als die Welt am Sonntag (WaS), zu deren Themen sonst die Schürung der "Stasi"-Hysterie gehörte, ihm auf ganzen zwei Seiten einen recht wohlwollenden, mit viel, wenn auch verstecktem Lob geschmückten Beitrag widmete, bescheinigte er ihr dafür, dass der Sozialismus "ein deformiertes System war" und die Jahre nach dem Untergang der DDR zwar die "vielleicht schwersten", aber auch "die schönsten" Jahre seines Lebens waren. Gabriele Gast, die seit 1973 in der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND), wo sie bis zur Regierungsdirektorin aufstieg, arbeitete und deren Einsatz Wolf mehrere Jahre selbst leitete, musste vor Gericht erleben, dass Wolf sich nicht solidarisch an die Seite seiner Kundschafter stellte, sondern "sich in eine politische Oppositionsrolle innerhalb der DDR zu argumentieren" und "als Parteigänger Gorbatschows politisch zu profilieren" suchte. Der Leser erfährt auch, dass Engelhardt sich den Forderungen des KGB verschloss, "ihm wichtige IM zu übergeben" und sich einem "Weiterreichen" von Quellen verweigerte.

Entgegen gängigen Auffassungen gelang es während der Auflösung laut Engelhardt, "die Akten der wichtigsten Informanten zu vernichten, sodass sie später eine zweite Karriere starten konnten", darunter "der eine oder andere in der Landes- oder Bundespolitik". Künftige Gefahren aus der BStU (Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) und ihren Unmengen an Papierschnitzeln sieht er nicht. "Das was wichtig war, ist durch den Schredder gegangen oder verbrannt worden." Das werde in der BStU niemand glauben, denn dort gehe es um das "Fortbestehen gut dotierter Arbeitsplätze", darunter "um den bestbezahlten" vom jetzigen Chef Roland Jahn.

Das aufschlussreiche Buch endet mit der Schlussfolgerung, dass "die Staatssicherheit die DDR nicht retten konnte, aber sie war auch nicht schuld an ihrem Untergang!".

Heinz Engelhardt mit Peter Böhm
Der letzte Mann. Countdown fürs MfS
Edition Ost, Berlin 2019
ISBN 978-3-360-01889-2
288 Seiten
16,99 Euro

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2019

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