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BUCHBESPRECHUNG/198: Oliver Decker/Elmar Brähler - Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität (Klaus Ludwig Helf)


Oliver Decker/Elmar Brähler (Hrsg.)

Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität.
Leipziger Autoritarismus Studie 2020.

Von Klaus Ludwig Helf, Februar 2021


Die Gefahr von rechtem Terror in Deutschland ist nach wie vor sehr hoch, wie die NSU-Morde, der Mord an Walter Lübcke als auch der antisemitische und rassistische Anschlag von Halle und der rassistische Anschlag von Hanau zeigen. Wie tief rassistisches Denken und Gewalt in der Gesellschaft verwurzelt sind, belegt die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020, die im Psychosozial-Verlag erschienen ist: "Die Gewaltbereitschaft und -akzeptanz hat zwar insgesamt abgenommen, ist aber unter manifest Rechtsextremen auffällig hoch. Fast die Hälfte derer, die ein solches Weltbild pflegen, befürworten Gewalt durch andere, und jeder bzw. jede Vierte in dieser Gruppe ist bereit, selbst Gewalt auszuüben" (S. 83). Seit 2002 analysiert die Leipziger Studiengruppe um Elmar Brähler (medizinische und soziologische Psychologie) und Oliver Decker (Sozialpsychologie) - zunächst als "Mitte"-Studien der Universität Leipzig - das rechte bis rechtsextreme Potenzial in Deutschland. Seit 2018 liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung autoritärer Dynamiken (Antisemitismus, Ethnozentrismus und Antifeminismus). Die aktuelle Studie wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung unterstützt und basiert auf einer repräsentativen Erhebung mit 2.503 Befragten in der Zeit von Mai bis Juni 2020 - also schon zu Pandemie-Zeiten. Die zentralen Ergebnisse zeigen, dass die Demokratiezufriedenheit in der Bevölkerung insgesamt gestiegen sei (mit regionalen Unterschieden) und gestärkt werden könne, wenn die Demokratie als gestalt- und erlebbar erfahren werde. Kein Grund zur Entwarnung, da autoritäre und extremistische Einstellung nach wie vor eine "beständige Bedrohung" für die offene, demokratische Gesellschaft bleiben: "Auch wenn sich die Verbreitung rechtsextremer Einstellung insgesamt zwar reduziert hat, haben sich aber gerade bei rechtsextrem eingestellten Personen neonazistische Ideologien verfestigt, wie sie etwa in der Befürwortung einer rechts-autoritären Diktatur oder von Antisemitismus zum Ausdruck kommen. Hinzu kommt, dass ethnozentrische Einstellung, Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit auf einem hohen Niveau verbleiben. Die Polarisierung der Gesellschaft scheint sich verfestigt zu haben" (S. 9). So mahnt die Heinrich-Böll-Stiftung im Vorwort dringenden Handlungsbedarf und demokratischen Widerstand an, ebenso demokratiefördernde politische Bildung. Die mangelnde politische Reflektion und Gedankenlosigkeit gegenüber der Unterwanderung der COVID-19-Proteste durch Rechtsextreme, sowie gegenüber deren Angriffen auf die freien Medien oder auf einzelne Personen aus Politik und Kultur, müsse aktiv bekämpft werden: "Die Radikalität einer enthemmten Minderheit bedroht das Gesellschaftmodell einer offenen Mehrheit, und diese Mehrheit darf diese Bedrohung nicht länger ignorieren. Die Zivilgesellschaft muss ihrer Rolle als Hort der Demokratie gerecht werden" (S. 10).

Nach dem Vorwort der beteiligten Stiftungen und der Herausgeber folgen drei Hauptteile mit insgesamt zwölf Einzelkapiteln, eine Übersicht über die bisherigen Studien der Reihe (2002-2018) und Kurzbiografien der achtzehn Autorinnen und Autoren. Die Belege für die Quellen sind Teil der einzelnen Kapitel. Rechtsextreme Einstellungen werden definiert als ein Einstellungsmuster mit dem verbindenden Kennzeichen von Ungleichwertigkeitsvorstellungen: "Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen" (S. 32). Diese Dimensionen der rechtsextremen Einstellungen ließen sich - so die beiden Herausgeber des Bandes - inhaltlich und statistisch zwei Faktoren zuordnen: Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus sind Bestandteile einer "Neo-NS-Ideologie"; Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit bilden zusammen den Ethnozentrismus. Die Studie orientiere sich an dieser Kategorisierung. In Westdeutschland attestiert die Studie drei Prozent der Befragten ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, in Ostdeutschland betrifft dies fast jeden Zehnten der dort Befragten. Eine der Hauptursachen für diese rechtsextremen Einstellungen sei - in Analogie zu Adornos Untersuchungen - der "autoritäre Charakter" von Menschen, die anfällig seien für starre Ideologien, die es ermöglichen, sich einer Autorität zu unterwerfen, an ihrer Macht teilzuhaben und die Abwertung anderer im Namen dieser Ordnung zu fordern - ein Drittel der Deutschen habe Merkmale des autoritären Typus.

Aus einer enormen Fülle von aktuell gewonnenem Datenmaterial werden verschiedene Bereiche und Erscheinungsformen des autoritären Syndroms untersucht wie Anti-Feminismus, Anti-Semitismus, Anti-Ziganismus, Demokratiefeindlichkeit in der Alltagskultur, Frauen in rechten Gruppierungen oder Verschwörungsmentalität, Esoterik und Aberglauben. Aus aktuellem Anlass wurden bei der Erhebung auch Fragestellungen zu Verschwörungsmustern bezüglich der Corona-Pandemie entwickelt. Die Auswertung zeigte, dass sich der Glaube an Verschwörungsmythen in der Bevölkerung um 40 Prozent erhöht habe; mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, sich von der Pandemie bedroht oder stark bedroht zu fühlen, 60 Prozent fürchten zudem, dass die "deutsche Kultur" durch die Corona-Pandemie beschädigt werde. Knapp die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage zu, "Die Corona-Krise wurde so groß geredet, damit einige wenige davon profitieren können", knapp zwei Drittel glauben, "Die Hintergründe der Corona-Pandemie werden nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen." Verschwörungsmythen, Esoterik und Aberglauben seien Narrative, die Angst und Ohnmacht binden, eine Art Einstiegsdroge für ein antimodernes Weltbild und potenzielle Einfallstore für rechte Radikalisierung. Die Verschwörungsrebellen seien geprägt von einem "pseudo-antiautoritärem Autoritarismus": "Zu glauben, COVID-19 sei eine Verschwörung, ist also laut unseren Daten nicht besonders demokratisch, rebellisch, unkonventionell oder friedlich und damit vor allem nicht per se anti-autoritär" (S. 305). Im Kapitel über die Entwicklung der AfD zwischen 2014 und 2020 wird deren ideologische Entwicklung nach rechtsaußen festgestellt und gleichzeitig ein Wandel ihrer Wählerschaft, die sich "heute deutlicher in der bürgerlichen Mitte und der oberen Mittelschicht verortet als zuvor" und weitaus weniger in der Facharbeiterschaft: eher männlich und mittleren Alters, angestellt oder höher qualifiziert, oft mit hohem monatlichen Haushaltseinkommen. Als konstant bleibende Kennzeichen der AfD-Wählerschaft werden vor allem genannt: Gefühle der Benachteiligung und politischer Nichtbeachtung, Angst vor Statusverlust und vor ökonomischen Einbußen, aber auch Ängste in anderen Bereichen wie der "deutschen Kultur", die von fremden Einflüssen bedroht seien: "So gelingt es der AfD, rechtsextreme Ideologien nicht nur an die Ränder, sondern in die Mitte der Gesellschaft zu tragen und ein breites Publikum anzusprechen" (S. 172). Die AfD behaupte einen Unterschied zwischen 'Volk' und 'Eliten' und biete somit den Menschen eine Alternative zum Nichtwählen als Protest gegen die herrschenden Zustände, gegen die politische Entfremdung von den Grundsätzen der liberalen Demokratie und der politischen Kultur. Dies manifestiere sich in einer illiberalen Einstellung, in der generellen Unzufriedenheit mit der Zuverlässigkeit der politischen Parteien und deren Führungskräften und Amtsträgern, in der Frustration über die politischen Eliten mit ihrer mangelnden Responsivität und in negativen Emotionen und Wut auf einzelne Politikerinnen und Politiker. Die Daten der aktuellen Erhebungswelle bestätigen erneut das dauerhaft hohe Niveau der antidemokratischen, autoritären Einstellungen und Denkstile in der bundesdeutschen Bevölkerung: "Die Gefahren für die Demokratie liegen erstens in der ernstzunehmenden großen Verbreitung extrem-rechter Einstellungen und Abwertungsmuster, zweitens im Verlust von politisch-institutionellem Vertrauen sowie demokratischer Legitimation, drittens in der gesellschaftlichen Polarisierung in der Gesellschaft, die mit einer Radikalisierung und Enthemmung am rechten Rand einhergeht, und viertens in der Diffusion und 'Modernisierung' extrem rechter Narrative (Ethnozentrismus)" (S. 82). Die Ergebnisse des Forschungsprojektes, die hier nur summarisch und exemplarisch dargestellt werden können, sollten alle demokratischen Kräfte aufhorchen lassen und als empirisch abgesicherte Warnrufe wahrgenommen werden, die liberale Demokratie zu verteidigen und beständig auszubauen und zu erweitern. Es wird auch deutlich, dass die rechten Think-Tanks neue strategische Wege gefunden haben, ihre Ideologien bis weit in die Mitte der Gesellschaft eindringen zu lassen, wie vor allem die Kapitel über Kapitalismuskritik, Anti-Feminismus, Ethnozentrismus und Verschwörungsmythen zeigen. Der vorliegende Band ist eine fundierte empirische Analyse der autoritären Dynamiken, ein Seismograf für die Eruptionen in unserer Gesellschaft und damit auch ein wertvolles und bedeutendes Handbuch für die demokratische politische Programm- und Bildungsarbeit.

Oliver Decker/Elmar Brähler (Hrsg.)
Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität.
Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Psychosozial-Verlag Gießen 2020
Broschur mit zahlreichen Grafiken, 385 Seiten, 24,90 EUR.

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Quelle:
© 2021 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2021

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