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BUCHBESPRECHUNG/200: Michel Friedman/Harald Welzer - Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde (Klaus Ludwig Helf)


Michel Friedman/Harald Welzer

Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde

von Klaus Ludwig Helf, April 2021


Die Welt ist zwar nicht aus den Fugen, aber es knirscht heftig. In den letzten fünf Jahren habe sich das politische Klima stark verändert und seit März 2020 noch verschärft durch die Pandemie, so die Ausgangsthese von Michel Friedman und Harald Welzer in dem vorliegenden Band. Aufgekündigte Solidarität, offener Rassismus, Antisemitismus, Populismus, Rechtsterrorismus, Big Data und Big Brother und soziale Erosionen bedrohten das zivilisatorische Projekt der Demokratie: "Das gesellschaftspolitische Koordinatensystem hat sich völlig verschoben. Ein Teil davon ist eine Konsensverschiebung nach rechts" (S. 79). Die "Zeitenwende" zum Angriff auf Demokratie und Menschenwürde war Auslöser und Anlass für die beiden streitbaren Intellektuellen und Publizisten, sich gemeinsam in den Monaten März bis Juni 2020 im intensiven dialogischen Austausch und Streit mit den aktuellen Problemen der Gesellschaft analytisch vertiefend und konstruktiv vorausschauend zu beschäftigen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Es handelt sich bei dem vorliegenden Band um keine Streitschrift, dazu sind sich die beiden links-liberalen Intellektuellen in den meisten Fragen zu einig und dissentieren nur in Details. Der Band ist streitbar in dem Sinne, dass die beiden Diskutanten in einem erfrischend spritzigen Dialog pointiert und zugespitzt Probleme aufspießen und entfalten und wichtige Impulse und Argumente zum Nachdenken und Handeln entwickeln. Nach dem Prolog zur Zeitenwende werden in 14 Kapiteln die folgenden Themen entfaltet: Bildung, soziale Spaltung, Digitalisierung, Umwelt- und Klimakrise, Europa, Entzivilisierung, Recht und Ordnung, Generationengerechtigkeit, Demokratie und Mitbestimmung, Streitlust als Markenkern der Demokratie. In einem Epilog wird das "Making of Zeitenwende" strittig diskutiert. Es folgen eine Liste mit ausgewählter Literatur und die Danksagung.

Die Coronakrise habe nicht nur virologische Fragen aufgeworfen, sondern auch soziale, politische und kulturelle, die zuvor allzu leicht übersehen worden seien. Insofern könne man die Krise auch als eine "Lerngeschichte" lesen, die für die Zukunft der Demokratie und die Lösung ihrer Probleme von Rassismus über Einschränkung der Bürgerrechte, Bildungsbenachteiligung bis zur sozialen Ungleichheit äußerst wichtig sei. In Anlehnung an Herfried und Marina Münkler ("Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland") gehen Friedman und Welzer davon aus, dass eine funktionierende Demokratie der "komplementären Rationalitätsanforderungen von Faktizität und Narrativität" bedürfe, einer Balance von Tagesaktualität und utopischem Überschuss:

"Faktizität ist nötig, um die Machbarkeit, Kosten und Folgen von Plänen und Maßnahmen abzuschätzen; Narrativität - also die Fähigkeit, eine Geschichte über sich selbst erzählen zu können - braucht es, um Möglichkeitsräume zu erkunden, Alternativen zum Bestehenden zu entwerfen und dafür in einem offenen Diskussionsprozess die Bürger des Gemeinwesens zu mobilisieren... Expertenwissen und Narrative konkurrieren so miteinander, dass sie sich wechselseitig ergänzen und ausbalancieren" (S. 12/13).

Michel Friedman und Harald Welzer gehen der Frage nach, ob wir einen dramatischen Epochenbruch erleben und skizzieren, wie unsere Gesellschaft demokratisch modernisiert werden könne. Wir leben in einer Zeitenwende - so ihre These: Die demokratischen Gesellschaften stünden unter Druck durch die Rückkehr von Autokraten, Rechtsextremen, Nationalisten, Rassisten und Antisemiten - sie alle erzeugten Wellen von Hass, Hetze und Terrorismus. Dazu kämen Ökonomisierung vieler Bereiche, soziale Ungleichheit, Einschränkung der Menschenrechte, Klimawandel und Pandemie. Friedman und Welzer diskutieren die Zeichen unserer Zeit, die sie als "Erosionsfaktoren" unter dem Begriff oder im Begriff Zeitenwende zusammenfassen: Die Vollbremsung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten im Zeichen der Pandemie habe diese Erosionsprozesse noch viel deutlicher zutage gebracht:

"Nicht nur unserer Gesellschaft wurde radikal klar, wie schnell Pläne, die politische Statik, die ökonomische Basis, die alltäglichen Gewohnheiten blitzschnell der Vergangenheit angehören können" (S. 8).

Im Zeichen der Pandemie sei eine "deutliche Vakuumierung des politischen Raumes" zu verzeichnen und das Monothema der Bekämpfung der Pandemie habe "unter den biologischen und epidemiologischen Auspizien" das Politische "buchstäblich Pause" und mit ihm die Demokratie, die quasi im Ausnahmezustand getestet werde. Den Autoren war klar, dass beim Erscheinen ihres Buches noch längst nicht endgültig absehbar sein werde, wie nachhaltig die Krise die moderne Demokratie verändern werde. Dazu sei der Beobachtungszeitraum zu kurz gewesen. Doch sei die Corona-Krise eine "Lerngeschichte mit offenem Ausgang", die genau beobachtet werden müsse, und zwar so, "dass wir zum Weiterbau am zivilisatorischen Projekt und zur Verteidigung von Demokratie und Menschenwürde beitragen können" (S. 14). Die Welt sei erheblich in Unordnung geraten und der Politik fehle es an überzeugenden politischen Konzepten und Lösungen. Dazu geben sie sozialwissenschaftliche Analysen und Diagnosen, berichten aus gelebter Zeitgenossenschaft z.B. über ihre jeweiligen Bildungsbiografien oder über das Schicksal des jüdischen Migranten Friedman, liefern vielseitige Argumente und fordern zum lustvollen und kreativen Widersprechen und Streiten auf.


Michel Friedman/Harald Welzer: Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde. Kiepenheuer & Witsch Köln 2020, 288 Seiten, 22 Euro.

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Quelle:
© 2021 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2021

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