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BUCHBESPRECHUNG/012: Säkularisierung als Wurzel des religiösen Fundamentalismus? (M. Khallouk)


Säkularisierung als Wurzel des religiösen Fundamentalismus?


Globale Hinwendung zum Religiösen bricht kulturelle Grenzen auf

Von Mohammed Khallouk, Juli 2010


Anbruch eines neuen religiösen Zeitalters oder weltweite Modeerscheinung?

Der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy nimmt in seinem kürzlich auf Deutsch erschienen Buch "Heilige Einfalt - Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen" den Standpunkt ein, dass Religion in der Postmoderne einen völlig neuen Stellenwert erhält. Der vielfach vertretenen These, dass mit dem Rückzug des Fortschrittsglaubens notwendigerweise eine kollektive Hinwendung zum Religiösen erfolge, stellt der viel gereiste und mit den verschiedensten Religionen und Kulturkreisen vertraute Autor die Statistiken entgegen.

Demnach haben sowohl die großen christlichen Kirchen als auch die traditionellen Strömungen des Islam, Judentum, Buddhismus oder Hinduismus stagnierende oder gar rückläufige Mitgliederzahlen. Vielmehr sind es im letzten Jahrhundert neu entstandene, zumeist charismatisch ausgerichtete Bewegungen wie die evangelikalen Pfingstgemeinschaften oder die radikal fundamentalistische Islambewegung des Salafismus, die außerhalb des Ursprungsgebiets der jeweiligen Weltreligion neue Anhängerschaft durch Konversionen erreichen.

Es handele sich nicht um eine "Wiederkehr der Religion", sondern um eine neue Form der Religiosität. Von einer sporadischen Modeerscheinung könne ebenso wenig ausgegangen werden, Roy erkennt dahinter ein allgemeines Ergebnis der Globalisierung, des Dominanzverlusts der angestammten Kultur und der individuellen Auswahlmöglichkeit auf dem scheinbar unerschöpflichen Markt der "Heilsversprecher".

Die globale Dimension des beschriebenen Phänomens erweise sich nicht nur daran, dass jene "neuen religiösen Bewegungen" auf nahezu allen Kontinenten Neuzugänge zu verzeichnen hätten, sondern ebenso daran, dass Bewegungen dieser Art aus allen Weltreligionen, von deren traditionellen Richtungen häufig als "Sekten" herabqualifiziert, hervorgegangen seien. Hieran zeige sich sowohl der Bedeutungsverlust der traditionellen Form dieser Religion, als auch die Fähigkeit, die Religion losgelöst von ihrer Ausgangskultur zu praktizieren. Roy zufolge liege nicht zuletzt darin die Attraktivität jener Religionsform, dass sie als authentische "reine" Religion aus Sicht des Gläubigen nicht eines bestimmten historisch geographischen oder kulturellen Kontextes bedürfe, um als "Heilsbotschaft" zu ihm und seinen Mitmenschen zu gelangen.

Er veranschaulicht dies u.a. am Phänomen der Zungenrede, wobei charismatische Pfingstler plötzlich in allgemein nicht existierenden Sprachen zu sprechen beginnen und dabei beanspruchen, ihren Gemeindemitgliedern das Wort Gottes zu überbringen, welche jene - obwohl selbst der Umgangssprache des "Verkünders" bisweilen nicht mächtig - glauben, empfangen und korrekt gedeutet zu haben. Gerade diese tatsächliche oder vermeintliche "geistige Armut", garantiere vor dem Hintergrund einer Globalkultur, die alles auf rationalen Hintergründen zu erklären beanspruche, den anhaltenden Erfolg.


Religion als Kontrapunkt zum "menschlichen Wissen"?

Diese eigenständige, individuell gewählte Hinwendung zu einem Glauben bestehend aus simpel erscheinenden Botschaften, die dem globalen Markt des Religiösen geschuldet sei und zahlreiche Konversionen hervorbringe, enthalte für Roy ein bedrohliches Potential. Mag sie einerseits erst im pluralistischen Kontext erfolgt sein, impliziere sie andererseits das Bewusstsein, nur in der eigens gewählten Form sei die Religion authentisch "Gott gewollt" praktiziert. Hieraus entsteht eine beabsichtigte Distanzierung von der Kultur des Lebensumfelds, das als "heidnisch" abgelehnt wird.

Stelle diese Distanz der Anhänger dieser Bewegungen zur Kultur und Gesellschaft ihres Ursprungs für die Verbreitung in anderen Kulturkreisen geradezu das Fundament dar, bedeute sie zugleich, dass übergeordnete politische Systeme ihre Kontrolle über das Individuum verloren hätten. Säkulare Autoritäten verlören ebenso wie traditionell geistliche Autoritäten ihren Einfluss und es bestehe die Bereitschaft, sich vollständig diesem religiösen Bezugssystem hinzugeben.

Die fehlende kulturelle Verwurzelung des postmodernen Individualisten erachtet Roy auch als einen Grund dafür, dass Al Qaida in weit stärkerem Maße als andere Islamrichtungen bei westlichen Konvertiten populär sei. Eine bereits vorhandene Opposition gegen das als "heidnisch" oder "materialistisch" erfahrene Umfeld lasse sich in einen religiösen Rahmen kleiden und erfahre dadurch subjektiv eine besondere Legitimität.

Insgesamt konstatiert Roy eine gegen Intellektuelle und jegliche zeit- und kulturbezogenen Erklärungsversuche der eigenen Glaubensaussagen gerichtete Einstellung als Kennzeichen dieser "einfältigen" Religiosität. Menschliches Wissen stehe in ihrem Bewusstsein grundsätzlich hinter der göttlichen Offenbarung und sei daher für die Hinwendung zum "reinen" Glauben irrelevant.

In der Tat erscheint die Botschaft der Fundamentalisten dem Außenstehenden naiv und wenig reflektiert. Eine Skepsis gegenüber rationalem wissenschaftlichem Analysieren des grundsätzlich für "die Wahrheit" Angesehenen ist ebenfalls naheliegend. Hieraus jedoch eine generelle Aversion des modernen religiösen Menschen gegen Intellektualität zu schlussfolgern, erscheint ein Wenig zu weit gegriffen. Vielmehr wendet man sich - zuweilen nicht ganz zu Unrecht - gegen eine Gesellschafts- und Wissenschaftsauffassung, die dem nicht rational Erklärbaren keinen Raum mehr lässt.

Vor diesem Hintergrund ist Roy zuzustimmen, wenn er Skepsis gegenüber politischen Tendenzen zum Ausdruck bringt, die eine bestimmte Form von Liberalität als einzigen erfolgreichen Weg der Modernisierung festzuschreiben beanspruchen. Hiermit sei man ebensowenig erfolgreich, wie beim Versuch, das eigene Verständnis von Religion zum gesellschaftlichen Allgemeingut zu erheben. Zwar gelänge es bis in die Gegenwart, das Religiöse für politische Ziele zu instrumentalisieren, der betreffenden Religion insgesamt brächte dies jedoch kaum ernsthafte neue Anhängerschaft. In der "Islamischen Republik Iran" sei auf diese Weise sogar die Säkularisierungstendenz in der Bevölkerung verstärkt worden.


Plädoyer für einen pluralistischen Kommunitarismus

Die Erkenntnis, dass Religionen mit Kulturen nicht identisch sind und sich unabhängig von bestimmten Kulturkreisen ausbreiten können, führt Roy als Argument gegen die Kulturkampfthese Samuel Huntingtons an. Vielmehr zeige sich darin ein Bedeutungsverlust der geographisch verorteten Kultur, mit der sich das Individuum immer weniger zu identifizieren bereit sei. Den Multikulturalismus erkennt es aber ebenso wenig als zukunftsweisendes Konzept. Dieser beruhe zudem auf der Reduzierung des Begriffs "Kultur" auf bestimmte, vielfach gleichermaßen mit der Religion assoziierte äußere Merkmale, die unreflektiert nebeneinander bestehen dürften.

In Anlehnung an den Kommunitarismus fordert Roy hingegen die grundsätzliche Akzeptanz verschiedener Religionen und diese mit divergenten Praktizierungsformen, zugleich aber das Hinterfragen, in wie weit sich hinter dieser Religiosität ein Wertebewusstsein verberge, das auf Gemeinsinn hinausziele. Das Bedrohliche stellt sich für ihn nicht in einem Horrorszenario postmoderner Religionskriege dar, sondern darin, dass Religion nur noch als individueller Sinnstifter fungiere.

Das Gewaltpotential der Al Qaida ergebe sich somit weniger aus einem zu besonderer Militanz neigenden Islam als mehr aus dem fehlenden Bezug seiner Mitglieder zu einer gemeinschaftstiftenden Kultur. Obwohl man sich durchaus auf den "ursprünglichen Islam" berufe, habe man sich in weit stärkerem Maße von der Symbolik moderner säkularer Bewegungen wie den Roten Brigaden inspirieren lassen, da mit dieser Strategie sich in der Gegenwart leichter Neumitglieder erreichen ließen als mit der Orientierung an alten Traditionen.

Wenn sich die Gesellschaft dieser verloren zu gehen drohenden Wertetraditionen wieder verstärkt zuwende, zugleich aber vom Anspruch befreie, jegliche Mitglieder mit Zwang daran zu binden, ließe die Attraktivität dieser neuen religiösen Bewegungen nach, sofern sie keinen fruchtbaren Beitrag zur Lösung der globalen Zukunftsprobleme zu leisten in der Lage seien. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass gerade der Identitätsverlust (z.B. bei Migranten) die Konversion zu neuen Religionen zu befördern scheint, wie Roy an den Erfolgen christlich-protestantischer und islamischer Bewegungen unter Latinos in den USA ebenso belegt wie unter lateinamerikanischen Immigranten in Spanien. Hierin erweise sich die Suche nach einem Gemeinschaftsgefühl, welches die bestehende Gesellschaft nicht biete und daher in der "kulturfremden" Religion gefunden werde, als Motivation. Dieses vorhandene Interesse an Gemeinschaft gelte es von der institutionellen Ebene aus im Interesse von Staat und Gesellschaft zu fördern.


Die globale Dimension im Auge behalten

Unschwer erkennt man in diesem Buch den französischen ebenso wie den protestantischen Hintergrund des Autors. Die spezifischen Bezüge zu Frankreich lassen es angesichts seiner ohnehin nicht einfachen Materie für einen Übersetzer und Rezipienten in einem anderen Sprachraum mit vollständig divergentem Erfahrungshintergrund nicht immer leicht verständlich erscheinen. Der deutschen Übersetzerin Ursel Schäfer ist dies dennoch in einem Maße gelungen, dass die globale Dimension des beschriebenen Phänomens zum Ausdruck gelangt und in geringerem Maße der spezifische Blickwinkel des Islamwissenschaftlers aus La Rochelle.

Die frühzeitige Bekanntschaft Roys mit sogenannten "Wiedergeborenen Christen" hat ihn trotz oder vielleicht sogar wegen seiner wissenschaftlichen Hauptbeschäftigung mit dem Islam davor bewahrt, diese "Heilige Einfalt" als besonderes Kennzeichen des Islam zu postulieren. Er hebt sich damit erkennbar von jenen westlichen Publizisten ab, die Fundamentalismus vorwiegend mit dem Islam in Verbindung bringen und generell mit einer gegen den Westen als Zivilisation gerichteten Einstellung assoziieren. Eine neue "christliche" Epoche und die fortschreitende Amerikanisierung geht damit ebenso wenig notwendigerweise einher.

Die beschriebene Hinwendung zum Religiösen erweist sich als globales, alle Weltreligionen gleichermaßen betreffendes Phänomen, beruht jedoch auf der Entscheidung von Individuen, nicht von Kollektiven. Sie steht damit beständig im Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust von Nationen und territorialen Grenzen, der zwar nicht überall in gleicher Geschwindigkeit sich vollzieht, jedoch insgesamt unaufhaltsam zu sein scheint.

Die zahlreichen Beispiele aus Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, aus der Historie wie aus der Gegenwart zeugen von einer Weltgewandtheit des Autors, die man gerade in Büchern, welche das Religiöse thematisieren, häufig vermisst. Der Leser wird angeregt, seinen eigenen Horizont zu erweitern und sich unvoreingenommen mit den verschiedenen Religionen und Kulturen des Globus auseinanderzusetzen und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken.

Zwar greift Roy in keiner Weise für eine bestimmte Religion Partei, der man sich zuwenden sollte, er hütet sich jedoch vor der Arroganz, jene ihm "einfältig" erscheinenden Bewegungen pauschal als "rückschrittlich" abzuqualifizieren. Er erkennt sie alle als Realität an, der man sich stellen müsse, um diejenigen Elemente an ihren Erfolgen aufzugreifen, die sich für eine wertebewusste Weltgesellschaft als wegweisend herausstellen.


Olivier Roy: Heilige Einfalt - Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Siedler Verlag, München 2010


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Quelle:
© 2010 by Mohammed Khallouk
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2010